VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

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Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln

Muster und Musterhaftigkeit aus korpuslinguistischer, textlinguistischer sowie stilistischer Perspektive

Sarah Brommer

Gliederung:

 1 Einleitung

 2 Die Musterhaftigkeit von Textsorten korpuslinguistisch ermitteln

 3 Bezüge zur Textlinguistik3.1 Musterhaftigkeit von Texten und Textsorten3.2 Textuelle Muster und ihr textsortentypologisches Potential

 4 Bezüge zur Stilistik4.1 Anmerkungen zum Stilbegriff4.2 Zusammenhang von Text, Stil und Situation4.3 Musterhaftigkeit von Stil und korpuslinguistische Operationalisierung

 5 Induktiv korpuslinguistisch ermittelte Muster als Grundlage der Text- und Stilanalyse5.1 Von den einzelnen Texten zu den textsortentypischen Mustern5.2 Von den einzelnen Mustern zum textsortenspezifischen Typikprofil

 6 Zusammenfassung

1 Einleitung

Der Titel des vorliegenden Aufsatzes verweist auf folgende zwei Annahmen: Zum einen gibt es sprachliche Variation, und der Sprachgebrauch variiert von Textsorte zu Textsorte. Zum anderen ist es möglich, diese textsortenspezifische sprachliche Variation induktiv korpuslinguistisch zu ermitteln. Auf beide Annahmen soll im Rahmen dieser Einleitung genauer eingegangen werden, bevor ein kurzer Überblick über die weiteren Kapitel gegeben wird.

Bei meinen Überlegungen zur textsortenspezifischen sprachlichen Variation gehe ich von einer Wechselbeziehung von Text, Stil und Situation aus: Unter Stil wird das situationsbedingte Wie einer sprachlichen Gestaltung verstanden. Stil manifestiert sich in Texten, und einzelne Texte, aber noch viel mehr Textsorten zeichnen sich durch einen typischen Stil aus (vgl. ausführlich Kap. 4.1). Texte wiederum sind immer in eine Kommunikationssituation eingebunden, entsprechend ist auch der Stil eines Textes und einer Textsorte situativ determiniert. Die oftmals als vage empfundene Kategorie Stil wird im Aufsatz präzisiert durch die Verknüpfung von Stil und Typizität bzw. Musterhaftigkeit: Der Grund für die Wirkung und Wahrnehmbarkeit von Stil liegt in der Typizität von Texten und Textsorten und dem Vorhandensein wiederkehrender Muster. Wie lässt sich nun diesen Mustern nachspüren? Welche Muster kennzeichnen den Stil einer jeweiligen Textsorte und weichen von den Mustern in einer anderen Textsorte ab? Denkt man an sprachlich stark konventionalisierte Textsorten wie das Märchen oder das Kochrezept, so fallen auf Anhieb typische sprachliche Muster ein wie Es war einmal … im Märchen oder der Infinitiv (z. B. Die Eier schaumig rühren) im Kochrezept.1 Solche Muster sind im expliziten Wissen über textsortenspezifischen Sprachgebrauch verankert. Doch nicht nur sie kennzeichnen den typischen Sprachgebrauch einer jeweiligen Textsorte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es neben diesen augenfälligen, uns bewussten sprachlichen Mustern weitere Muster gibt, deren Musterhaftigkeit uns nicht bewusst ist. Solche Muster werden intuitiv verwendet, und ihre Musterhaftigkeit lässt sich auch nicht durch ein Reflektieren über den Sprachgebrauch erschließen. Denn diese Muster sind gerade aufgrund ihrer Alltäglichkeit unscheinbar (vgl. Linke 2011: 39; Sinclair 1991: 4; Steyer 2013: 13). Sie kennzeichnen den Sprachstil in einer Textsorte, entziehen sich aber in ihrer Unauffälligkeit auch dem Blick von uns Forschenden und lassen sich mit einer deduktiven Herangehensweise nicht offenlegen.

Sprachgebrauchsmuster in diesem Sinne zeichnen sich durch wiederkehrenden Gebrauch aus (Rekurrenz), sie sind konventionalisiert und an einen spezifischen Verwendungskontext, in diesem Fall die Textsorte, gebunden und für diesen Kontext (die Textsorte) typisch (vgl. Bubenhofer 2009). Sie lassen sich mittels einer induktiven korpuslinguistischen Analyse aufdecken. Diese Methode hat doppelten Nutzen: Neben der Analyse des musterhaften Sprachgebrauchs einer einzelnen Textsorte lässt sich analysieren, worin sich der Sprachgebrauch einer Textsorte vom Sprachgebrauch einer anderen Textsorte unterscheidet. Damit leistet die induktive korpuslinguistische Analyse von musterhaftem Sprachgebrauch einen Beitrag zur Bestimmung der textsortenspezifischen sprachlichen Variation.

Im Folgenden wird nun zunächst die korpuslinguistische Perspektive auf Musterhaftigkeit dargelegt, um das methodische Vorgehen zu verdeutlichen (Kap. 2). Sodann werden Bezüge zur Textlinguistik (Kap. 3) und zur Stilistik (Kap. 4) aufgezeigt, welche die hier kurz angerissenen textlinguistischen und stilistischen Überlegungen vertiefen. Abschließend werden induktiv korpuslinguistisch ermittelte Muster als Grundlage der Text- und Stilanalyse beschrieben (Kap. 5). Eine kurze Zusammenfassung rundet den Beitrag ab.

2 Die Musterhaftigkeit von Textsorten korpuslinguistisch ermitteln

Die Musterhaftigkeit einer Textsorte kann sich in verschiedener Hinsicht zeigen, bspw. in der Wahl des Mediums, der Art der Textstrukturierung und graphischen Gestaltung, der Adressatenorientierung und nicht zuletzt auf der Textoberfläche, im musterhaften Gebrauch einzelner Wörter und Wortverbindungen. All diese verschiedenen Arten von Mustern sind aus pragmatischer, sprachgebrauchsanalytischer Sicht relevant, wenn es darum geht, die Musterhaftigkeit von Textsorten zu beschreiben. Auch die Korpuslinguistik verfolgt diese sprachgebrauchsanalytische Perspektive, indem sie davon ausgeht, dass erstens Muster als Sprachgebrauchsmuster an der sprachlichen Oberfläche zu verorten sind, dass sich zweitens musterhafter Sprachgebrauch in der für einen bestimmten Sprachausschnitt typischen Verwendung von einzelnen Wörtern und Wortverbindungen zeigt und dass sich drittens diese Ausdruckstypik „als statistisch messbare Kookkurrenz operationalisier[en]“ (Feilke 2012: 24) lässt (vgl. auch Bubenhofer 2009).1

Mittels des Korpusvergleichs soll die Ausdruckstypik offengelegt bzw. ermittelt werden, also der für den ausgewählten Sprachausschnitt im Vergleich zu einem anderen Sprachausschnitt musterhafte Sprachgebrauch. Das Vorgehen erfolgt weitestgehend automatisiert, indem der Computer möglichst viele vorstrukturierende Arbeitsschritte abnimmt. Musterhaftigkeit wird als statistische Signifikanz aufgefasst und mittels computerlinguistischer Methoden und Werkzeuge ermittelt (s. Kap. 5). Die computergestützte Analyse ermöglicht es, große Textmengen auszuwerten und die Ergebnisse empirisch breit abzustützen. So lässt sich die Frage, was für eine bestimmte Textsorte musterhaft ist, losgelöst von subjektiven Einschätzungen und einzelnen Textexemplaren beantworten. Doch nicht nur lässt sich – mit Blick auf die synchrone Variation – ermitteln, was für eine bestimmte Textsorte im Vergleich zu einer anderen Textsorte musterhaft ist. Durch den Vergleich von Textsortenexemplaren aus verschiedenen Zeiten lässt sich auch offenlegen, wie sich der musterhafte Sprachgebrauch innerhalb der entsprechenden Textsorte gestaltet und ggf. verändert (hat). Auf diese Weise lässt sich diachrone Variation analysieren.

Die Idee, musterhaften Sprachgebrauch korpuslinguistisch zu analysieren, lässt sich auch im Rahmen einer textlinguistischen und stilistischen Analyse fruchtbar machen. Denn das Konzept von Muster bzw. Musterhaftigkeit ist auch in der Textlinguistik und Stilistik verankert, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

3 Bezüge zur Textlinguistik
3.1 Musterhaftigkeit von Texten und Textsorten

Die Musterhaftigkeit von einerseits Texten und andererseits Textsorten äußert sich in vielfacher Weise. Bezogen auf Texte ist es notwendig, auf den Textbegriff und den Zusammenhang von Musterhaftigkeit und Prototypizität einzugehen. Hinsichtlich der Musterhaftigkeit von Textsorten sind zum einen Textsorte – Textmuster, zum anderen Textmuster – textuelles Muster voneinander abzugrenzen. Relevant ist nicht zuletzt, dass die Musterhaftigkeit von Texten und von Textsorten Eingang in das individuelle und kollektive Sprachwissen findet und sich bspw. im Vorhandensein eines Textmusterwissens zeigt (s.u.).

Was den Textbegriff angeht, so finden sich „nahezu tausend Textdefinitionen“ (M. und W. Heinemann 2002: 64; s. a. W. Heinemann 2000a), die sich teilweise überschneiden, teilweise aber auch auseinandergehen. Vereinfacht betrachtet lassen sich ein sprachsystematisch ausgerichteter Ansatz und ein kommunikationsorientierter Ansatz unterscheiden (vgl. Brinker u. a. 2014: 13–17). Im ersten Verständnis wird Text als kohärente Folge von Sätzen definiert und der Satz somit als Struktureinheit von Texten angesehen. Dies hat zur Folge, dass sich die Textkohärenz auf die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen Sätzen bzw. sprachlichen Elementen in aufeinanderfolgenden Sätzen beschränkt und rein grammatisch gefasst wird. Im zweiten, kommunikationsorientierten Verständnis wird Text als komplexe kommunikative Handlung begriffen, mit der sich der Produzent eines Textes an den Rezipienten richtet. Im Zentrum des Interesses steht nicht die grammatische Abfolge von Sätzen, sondern die kommunikative Funktion des Textganzen.

Um der Komplexität von Texten und ihrer Analyse gerecht zu werden, ist ein Textbegriff notwendig, der den sprachsystematisch ausgerichteten und den kommunikationsorientierten Ansatz verbindet und Texte gleichermaßen als sprachliche wie auch kommunikative Einheiten beschreibt. Dieser integrative Textbegriff versteht unter Text eine „begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (Brinker u. a. 2014: 17; ebenso Gansel / Jürgens 2007: 51). Jedoch entzieht sich die Kategorie Text einer merkmalsdefinitorischen Begriffsbestimmung, mittels derer sich alle potenziellen Textexemplare erfassen und Texte von Nicht-Texten klar abgrenzen ließen (vgl. bspw. Gansel / Jürgens 2007: 33). Der Ausweg liegt in der Übernahme des Prototypenkonzepts für den Textbegriff (vgl. Sandig 2000, 2006: 310; s. a. Adamzik 2016: 41; für einen ausführlichen Überblick über das Prototypenkonzept vgl. Löbner 2015: 318–356). Entgegen der Vorstellung einer Kategorisierung, die qualitativ erfolgt und kontradiktorisch angelegt ist (d. h. etwas ist einer Kategorie zugehörig oder nicht zugehörig), liegt der Prototypentheorie das Konzept einer graduellen Kategorienzugehörigkeit zugrunde (d. h. etwas ist einer Kategorie mehr oder weniger zugehörig). Es wird zwischen typischen und weniger typischen Vertretern einer Kategorie unterschieden, wobei Erstere durch das Erfüllen prototypischer Merkmale als Referenzfälle der Kategorisierung dienen. Bezieht man diese Vorstellung der graduellen Kategorisierung auf den Textbegriff, kommt der Aspekt der Musterhaftigkeit ins Spiel. Denn die Vorstellung von Text als prototypischem Konzept geht mit der Musterhaftigkeit von Texten einher. Im individuellen wie auch kollektiven Sprachwissen existiert eine Vorstellung, wie ein Text typischerweise beschaffen ist. So gibt es unter den Textualitätskriterien zentrale, typische Kriterien, die auf die Mehrzahl von Texten zutreffen und demzufolge einen musterhaften Text auszeichnen, und es gibt weniger typische, eher periphere Kriterien. Entsprechend gibt es unter konkreten Textexemplaren – je nach Vorhandensein einzelner Textualitätskriterien und gemessen an dem mental gespeicherten Muster eines typischen Textes – prototypische und weniger prototypische, in diesem Sinne musterhafte und weniger musterhafte Textexemplare (s. a. Sandig 2000: 108).

 

Nicht nur bei der Kategorie Text, auch bei Textsorte handelt es sich um ein prototypisches Konzept (s. a. Sandig 1997: 29). Die Kategorie Textsorte lässt sich als Basiskategorie der wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Textklassifikation bezeichnen. Denn ein konkreter Text wird immer als Exemplar einer Textsorte wahrgenommen (vgl. Brinker u. a. 2014: 133; Thim-Mabrey 2005: 32f.; W. Heinemann 2000b: 517). Das Verfassen sowie das Rezipieren und Bewerten von Texten und auch ihre Analyse erfolgen auf Basis des zugrundeliegenden Textsortenwissens und durch ein (unbewusstes) Abgleichen mit konventionell verankerten Mustern (W. Heinemann 2000b: 517 spricht von Textsortenkompetenz).

An dieser Stelle ist es notwendig, die Begriffe Textsorte und Textmuster voneinander abzugrenzen, die beide den Sachverhalt erfassen, „dass wir aus unserer Alltagserfahrung heraus Wissen über Textkonventionen haben und Merkmale kennen, die Gruppen von Texten eigen sind“ (Fix 2008: 10; ebenso 1999: 16). Der Begriff Textsorte bezieht sich auf die Tatsache, dass sich konkrete Textexemplare aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale zusammenfassen lassen, der Begriff Textmuster bezeichnet die dahinterstehende mentale Größe, die als Referenz dient.1 Die Begriffe werden also nicht gleichgesetzt, sondern in Anlehnung an Fix (2008: 10) „für die unterscheidende Bezeichnung zweier Seiten ein und derselben Sache“ verwendet.

Textsorten lassen sich als „Ergebnis der Musterhaftigkeit allgemeiner Textualitätshinweise“ (Kesselheim 2011: 364, Hervorhebung im Orig.) beschreiben. Was Kesselheim unter musterhaften Textualitätshinweisen fasst, sind Muster auf Textebene (bspw. Gliederungshinweise und Formulierungsmuster), die im Folgenden zur Abgrenzung von Textmustern als textuelle Muster (s. u.) bezeichnet werden. Das Vorhandensein einzelner textueller Muster führt dazu, dass sich Textsorten herausbilden. Die Musterhaftigkeit von Textsorten äußert sich wiederum im Vorhandensein zugrundeliegender Text(sorten)muster. Die einer Textsorte zugehörigen Textexemplare repräsentieren das ihnen zugrundeliegende Textmuster oder anders gesagt: Die Textexemplare einer Textsorte folgen einem gemeinsamen Textmuster (vgl. auch W. Heinemann 2000b: 517). Das Typische, Musterhafte eines Textes als Vertreter einer Textsorte geht als Textmusterwissen in das Sprachwissen ein. Dieses mental gespeicherte Musterwissen ist sowohl individuell (als Teil des individuellen Sprachwissens eines jeden Sprachteilnehmers) als auch kollektiv (als gemeinsamer Wissensbestand einer Sprachgemeinschaft).

Das Textmuster wirkt als „Richtschnur“ (Fix 2008: 12), wie Texte einer bestimmten Textsorte prototypisch beschaffen sind. Es ist nicht als strikte Vorgabe zu verstehen, sondern als (gesellschaftlich akzeptierte) Orientierung, gewissermaßen als eine Idealvorstellung, die prototypische Elemente und Freiräume enthält (vgl. Fix 1999: 16; Sandig 2000: 103; Fix u. a. 2003: 26; W. Heinemann 2000b: 517).2 Damit handelt es sich sowohl bei Textsorte als auch bei Textmuster um ein prototypisches Konzept (vgl. Fix 2000: 56; Sandig 1997: 29). Textmuster vermitteln ein prototypisches Wissen über eine Textsorte. So haben Textsorten charakteristische und weniger charakteristische Eigenschaften. Dabei gibt es unter den einzelnen Textexemplaren prototypische Vertreter einer Textsorte mit hochgradiger Ausprägung der jeweils typischen Merkmale, und es gibt weniger typische Texte an der Peripherie.

3.2 Textuelle Muster und ihr textsortentypologisches Potential

Die Musterhaftigkeit eines Textes zeigt sich im Vorhandensein textueller Muster. Diese sind sowohl auf Ebene des Gesamttextes anzusiedeln (Struktur- und Gliederungsmuster, musterhaftes Layout, Textlänge usw.; s. z. B. Kesselheim 2011: 364) als auch auf Ebene der Sprache selbst (musterhafte Lexik, Formulierungsmuster usw.). Die Musterhaftigkeit eines Textes wird also nicht erst sichtbar, wenn man die Sprache im Detail betrachtet, sondern bereits vorher. Wendet man diesen Musterbegriff auf die Klassifikation von Texten an, ergibt sich die Möglichkeit, diese Klassifikation empirisch nach dem Bottom-up-Prinzip vorzunehmen und nicht nach dem Top-down-Prinzip (so z. B. Brinker u. a. 2014: 139–147). Denn textuelle Muster lassen auf bestimmte Textsorten schließen und können so als Ausgangspunkt für textsortentypologische Überlegungen dienen.

Die Idee, an das Alltagswissen anzuknüpfen und Textsortenbeschreibungen im Bottom-up-Verfahren zu erhalten, „indem man erfaßt, wie Sprachteilnehmer einzelne Texte (tokens) aufgrund jeweils dominierender Merkmale bestimmten Textsorten mit ihren Mustern (types) zuordnen“ (Fix 1999: 15), erscheint allerdings wenig praktikabel und zugleich problematisch.1 So ist es prinzipiell methodisch schwierig, authentisches Datenmaterial zum Alltagswissen über Sprache systematisch zu erheben: Vor allem die Validität, aber auch die Reliabilität von empirischen Datenerhebungen, die auf Sprecherurteile gründen, sind kritisch zu sehen (s. a. Adamzik 2008: 147). Methodisch zuverlässiger und zugleich ergiebiger ist es, das Bottom-up-Verfahren auf die Texte selbst anzuwenden, also die Textsortenbeschreibung auf Basis einer empirisch induktiven Auswertung entsprechender Textkorpora vorzunehmen (s. Kap. 5). Dabei ist es sinnvoll und beim Ziel einer umfassenden Analyse und Beschreibung von Textsorten auch notwendig, alle textuellen Muster gleichermaßen zu berücksichtigen. Denn es können nicht nur Formulierungen musterhaft sein, wie es Heinemann / Viehweger (vgl. 1991: 166f.) postulieren.2 Auch thematische, strukturelle und funktionale Muster prägen eine Textsorte (so auch Fix 1999: 13).3 Doch um textuelle Muster mit den Methoden der Korpuslinguistik erfassen zu können, ist es notwendig, den Musterbegriff auf kleinräumige sprachliche Einheiten zu beziehen. Nur diese nämlich können korpuslinguistisch analysiert werden. Auch wenn eine korpuslinguistische Analyse somit nur einen Teilbereich des Musterhaften erfassen kann, trägt sie gleichwohl zu einer (umfassenderen) Textsortenbeschreibung bei, bezogen auf die Musterhaftigkeit auf sprachlicher Ebene – Gleiches gilt für ihren Nutzen im Rahmen einer Stilanalyse.

4 Bezüge zur Stilistik
4.1 Anmerkungen zum Stilbegriff

Der Stilbegriff unterliegt mitunter dem Vorwurf der Vagheit (vgl. Dönninghaus 2005: 313; Fix 2015: 127f.; Ehlich 2002: 27), er werde als „Rest- und Papierkorbbegriff“ (Selting 2001: 3) verwendet. Die Ursache dieser Kritik liegt in der schwierigen Objektivierbarkeit von Stil. Entgegen dieser stilkritischen Perspektive ist Stil im alltäglichen Sprachgebrauch eine gängige Kategorie, wenn Einschätzungen, Bewertungen, Urteile zur Sprache kommen (vgl. guter Stil, schlechter Stil, kein Stil). In dieser selbstverständlichen alltagssprachlichen Verwendung korreliert Stil mit Musterhaftigkeit und Angemessenheit und ist an die allgemein verbreitete Vorstellung gebunden, wie etwas beschaffen sein sollte. Mit eben diesem Blick auf das Musterhafte lässt sich die Kategorie Stil auch für die Analyse und Beurteilung von Texten sinnvoll nutzbar machen. So wie musterhafter Sprachgebrauch ist auch Stil grundsätzlich kontextgebunden. Je nach Situation „stehen typische, erwartbare Mittel zur Verfügung, die man üblicherweise gebraucht, um bestimmten Redekonstellationen zu genügen“ (Fix 2004: 43). Stil äußert sich dann in einem für die jeweilige Kommunikationssituation musterhaften Sprachgebrauch und manifestiert sich in der Tatsache, dass etwas typischerweise so ausgedrückt wird, obwohl es auch anders ausgedrückt hätte werden können.

Die Frage, ob der musterhafte Sprachgebrauch bewusst oder unbewusst, intuitiv erfolgt, ist dabei aus Sicht der Stilistik irrelevant (vgl. z. B. Sandig 2006: 29).1 Entscheidend für Stil ist die rezipientenseitige Wahrnehmung: Stil wird als „Performanz-Ergebnis“ (Sandig 2006: 31; ähnlich auch Krieg-Holz / Bülow 2016: 87) begriffen. Gerade aus produktorientierter Perspektive, wenn es um die Analyse von Texten geht, sollte deshalb auf den Stilbegriff nicht verzichtet werden.

Denn für „die Stiluntersuchung von Texten ist nicht ausschlaggebend, ob Auswahl und Kombination der Stilelemente durch die jeweiligen Textverfasser bewußt erfolgte, d.h. bei Kenntnis unterschiedlicher sprachlicher Ausdrucksvarianten […] und wohlüberlegter Entscheidung für eine dieser Varianten […] oder spontan, routinemäßig, ohne zu überlegen und abzuwägen, welche Variante am angemessensten ist“ (Fleischer u. a. 1996: 74; ähnlich auch Sandig 2006: 29).

Entscheidend ist letztlich, was stilistisch vorhanden (identifizierbar) ist – unabhängig von der Art des Zustandekommens. So sind „alle Erscheinungen, die wir auf der Textoberfläche finden, […] von den Faktoren der Kommunikation bestimmt und an der Konstitution des Textstils beteiligt“ (Fix 2005: 48). Damit wird der Zusammenhang von Stil und Musterhaftigkeit ins Zentrum gerückt: Der Grund für die Wirkung und Wahrnehmbarkeit von Stil liegt im Vorhandensein wiederkehrender Muster (und nicht in ihrer bewussten Verwendung). In diesem Verständnis wird unter Stil die „Menge in mehreren Exemplaren […] der gleichen Textsorte gemeinsam auftretender Muster“ verstanden und „das einzelne […] Textexemplar als Grundeinheit der Stilrekonstruktion“ aufgefasst (Bubenhofer / Scharloth 2012: 231; ebenso Scharloth / Bubenhofer 2011: 203; bereits auch Fleischer u. a. 1996: 35). Stil ist genauer als Textsortenstil (vgl. ebd.: 33; Fix 2005: 43, 45) oder Textmusterstil (vgl. Sandig 2006: 530) zu bezeichnen. Denn je nach Textsorte setzen sich dominierende Stilelemente durch, bedingt durch die Kommunikationssituation bzw. den Kontext.