Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

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From the series: Forum Modernes Theater #57
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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart
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Silke Felber / Wera Hippesroither

Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Umschlagabbildung: Orestea (una commedia organica?), Romeo Castellucci / Socìetas Raffaello Sanzio, 2015 © Guido Mencari

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8436-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0243-8 (ePub)

Inhalt

  Einleitung Figurationen des Tragischen Antigones Nachleben

 Figurationen des TragischenPalimpseste für ein Theater der Gegenwart( 1 ) Hegel( 2 ) Heiner Müller( 3 ) Aristoteles( 4 ) Zusammenfassung und Thesen( 5 ) Spuren des Tragischen: Einige BeispieleInmitten von Satyrn, Boten und lebenden TotenIIIIII„Wir bitten nicht, wir fordern“Fremdheit in Mythos und TragödieHikesia und Asylon im Theater der TragödieAnnäherungen zwischen Theater und AsylFlucht, Fremdheit und Asyl bei Einar SchleefAsylanten 89 – „Wir bitten nicht, wir fordern“Gott/Schutz-BefohlenEinzelne und ihre UmgebungGenealogie, Gründung und deren EndeDas Ritual am Ort des TheatersInstallation als MatrixKörper und TechnèEnden

 Antigones NachlebenWhat is Niobe to her?Antigone Sr.Das kreolisierte TragischeI (unverwandte) VERWANDTSCHAFTII FIGUREN (statt Menschen)III (vibrierende) KLAGEAntigone wirbelt Staub aufAntigone als Figur ohne GrundBodenlosigkeit als OrtlosigkeitKopís / kónisAntigones NachkommenAntigone in New YorkNirgends in Friede. AntigoneDie drei Leben der AntigoneDrei Formen postmoderner TragikAntigones erstes Leben: Widersprüche zwischen Projektskizze und TextAntigones zweites Leben: Überleben und MonstrositätAntigones drittes Leben: das thebanische Lehrstück vom (nicht immer erklärten) EinverständnisDas Stück als politische Diagnose und Theorie des TragischenKonturen einer möglichen Inszenierung

 Wiederkehr des Tragischen?Tragödie³ KOMM MIT REINIGENDEM FUSS123456Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien„Tragik” – ein tauglicher Begriff?Die weg-inszenierte „Tragik” – zwei Beispiele„Tragik” und Theater-Spiel – ein Gegenmodell„Tragik” als diagnostische Sonde in den SozialwissenschaftenFazit – Funktionen des Tragik-Begriffs heuteZäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie?Das mediale Framing von EmpireEuripides’ Medea und Aischylos’ Orestie als Zäsuren europäischer GeschichteDie Medea-ZäsurDie Orestie-ZäsurDie Zäsur der geteilten TrauerEine medienkritische Reflexion über die Gemeinschaft EuropasTranszendenz der TragikTragödienspurenDie tragische Dialektik im globalen KapitalismusVergegenwärtigung der VergangenheitExemplarische Darstellung des TragischenFurcht, Mitleid und KatharsisDie Überschreitung des Tragischen im RealtheaterGegenwart und Zukunft der TragödieDer Anfang der GeschichteI.II.III.IV.V.

Einleitung

Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien)

Spätestens seitdem Weltgesundheits- und Wirtschaftskrisen, Terrorbekämpfung, Massenflucht und Migration gravierende globale Herausforderungen darstellen, erweist sich die von der Theaterwissenschaft bereits seit geraumer Zeit postulierte Wiederkehr des Tragischen im Theater der Gegenwart1 als unübersehbar. Die inflationäre Bezugnahme auf Aischylos, Sophokles und Euripides mag auf den ersten Blick erstaunen, tatsächlich aber verweist sie auf ein wiederkehrendes Phänomen. Folgt man Walter Benjamin, so erfreuen sich Tragödienbearbeitungen insbesondere in „Zeiten des Verfalls“2 großer Beliebtheit. Ebenjenem Verfall scheint auch die dramaturgische Partikularität der Fragmentiertheit geschuldet, die wir angesichts der gegenwärtigen produktiven Rückgriffe auf das Tragische ausmachen können. So zeichnen sich aktuelle Befragungen des Tragischen tendenziell durch einen zersetzenden oder aber schichtenden Umgang mit den antiken Referenztexten aus. Die alten Texte werden überschrieben, gesampelt, mit anderen sogenannten „Klassikern“ quergelesen oder aber radikal verdichtet. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an Arbeiten von Volker Braun (Demos. Die Griechen. Die Putzfrauen, 2015), Anne Carson (Antigonick, 2012), Elfriede Jelinek (Am Königsweg, 2017 und jüngst Schwarzwasser, 2020), Ewald Palmetshofer (die unverheiratete, 2014), Yael Ronen (Antigone, 2007), Roland Schimmelpfennig (Die Bakchen, 2016) oder Lot Vekemans (Zus van, 2005). Zudem stechen Stückentwicklungsprozesse ins Auge, die sich aus der kombinierenden Befragung unterschiedlicher (historischer) Tragödienbearbeitungen konstituieren, wie es etwa Produktionen von Felicitas Brucker (Ödipus, 2015), Romeo Castellucci (Ödipus der Tyrann, 2015), Jan Fabre (Mount Olympus, 2015), Stephan Kimmig (Ödipus Stadt, 2012), Martin Kušej und Albert Ostermaier (Phädras Nacht, 2017), Ersan Mondtag (Iphigenie, 2016), René Pollesch (Bühne frei für Mick Levcik!, 2016) oder ZinA Choi (Iphigenia in Exile, 2016) tun.

Wie aber wird das Tragische aktuell in den Aufführungskünsten erfahrbar gemacht? Welche ästhetischen Verfahren und künstlerischen Praktiken kommen dabei zum Einsatz? Wie verhalten sich gegenwärtige Tragödien-Befragungen zum „Gestus einer allegorischen Zertrümmerung des antiken Vorbilds“,3 der den Tragödienfragmenten Hölderlins, Kleists und Büchners eingeschrieben ist? Wie gehen das Theater und die dafür entstehenden Texte in der Nachfolge Einar Schleefs ganz aktuell mit der „verschütteten Geschichte des Chors“4 um und welche Rückschlüsse lassen sich daraus hinsichtlich eines Denkens von Gemeinschaft und Individuum ableiten? Wie wirkt sich die gegenseitige Einflussnahme von performativer Praxis und philosophischer Theorie in Hinblick auf den Tragödienbegriff aus? Eignet sich der Terminus des Postdramatischen noch für die Beschreibung gegenwärtiger künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Tragischen?

Die hier skizzierten Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt einer interdisziplinär angelegten Tagung, die Expert*innen und Nachwuchswissenschafter*innen aus den Bereichen der Theater- und Tanzwissenschaften, der Literaturwissenschaften und der Philosophie im Herbst 2017 in Wien versammelte. Die Veranstaltung war Teil des FWF-Projekts Dramaturgies of the (Dis-)Continuative und wurde in Kooperation mit dem Forschungszentrum S:PAM (Studies in Performing Arts and Media) der Universität Gent, dem Künstlerhaus Wien und dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien ausgetragen. Ausgewählte Beiträge dieser Tagung sind in diesem Band enthalten.

Figurationen des Tragischen

Die erste Gruppe der Beiträge wird von Ulrike Haß eröffnet, die sich dem Begriff des Palimpsests widmet und die Technik des Überprägens in Zusammenhang mit mehrbödigen Oberflächen und Stellplätzen bringt, um sich dem Prinzip des In-Situ zu nähern. Ausgehend von Trägodien-Definitionen von Hegel über Aristoteles bis Heiner Müller macht Haß Spuren des Tragischen bei Pier Paolo Pasolini und Tino Sehgal aus. Silke Felber befasst sich in ihrem Beitrag mit tragischen Figurationen der Durchquerung. Sie stützt sich hierfür nicht nur auf Tragödientexte und Satyrspiele, sondern konsultiert darüber hinaus auch antike Vasenmalereien. Ausgehend von diesem Material untersucht sie das Nachleben von Satyrn, Boten und im Limbus der Unentschiedenheit weilenden Schutzsuchenden in Elfriede Jelineks Tragödienfortschreibungen. Der Topos der Schutzsuche steht auch im Zentrum der Beiträge von Patrick Primavesi und Bernhard Greiner. So nähert sich Patrick Primavesi mit den Schutzflehenden des Aischylos einer tendenziell wenig rezipierten, unter dem Eindruck der Flucht- und Migrationsdebatte aber aktuell intensiv bearbeiteten bzw. viel gespielten Tragödie. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen Jelineks Die Schutzbefohlenen und Einar Schleefs 1986 uraufgeführte Produktion Mütter, die Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides’ Die Bittflehenden miteinander verknüpft. Auch Bernhard Greiner widmet sich Aischylos‘ Tragödienfragment Die Schutzflehenden und dessen Jelinekscher Fortschreibung. Mit Heidegger als Ausgangspunkt und unter besonderer Berücksichtigung der chorischen Passagen geht er zunächst auf die in Jelineks Text wesentliche Kategorie des „Da-Seins“ ein, um dann die philologischen Hintergründe der um Schutz flehenden, diffusen Sprechinstanz der Schutzflehenden zu erläutern. Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Inge Arteel, die sich mit Susanne Kennedys und Markus Selgs multimedialer Installation Medea.Matrix befasst. Arteels Analyse konzentriert sich auf das Verhältnis von Einzelfigur und Gruppe und zeigt in beeindruckender Weise, wie Kennedy und Selg die gewaltvolle Verstoßung Medeas mit Konflikten um Prokreation, Sexualität, den weiblichen Körper und christliches, genealogisches Denken engführen.

 

Antigones Nachleben

Die Aufsätze des zweiten Abschnitts reagieren auf ein auffallend großes Interesse, das der Figur der Antigone gegenwärtig von Theater- und Tanzschaffenden, aber auch von Philosoph*innen entgegengebracht wird. Den Auftakt macht ein Beitrag von Freddie Rokem, der sich ausführlich mit der mythologischen, von der Antigone-Forschung bislang wenig beachteten Figur der Niobe befasst und äußerst wertvolle Ansätze für weiterführende Untersuchungen liefert. Nicole Haitzinger und Julia Ostwald widmen sich der Figur der Antigone Sr. in Trajal Harrells Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church. Die Autorinnen führen den Begriff des kreolisierten Tragischen ein und erläutern anhand einer Bewegungsanalyse, wie Spuren der Sophokleischen Tragödie in einem zeitgenössischen Kontext mit amerikanischer Kolonialgeschichte, Voguing und Postmodern Dance verknüpft werden. Wera Hippesroither geht von Jette Steckels Burgtheater-Inszenierung (2015) aus und erläutert anhand der räumlichen Gestaltung der Inszenierung, warum Antigone weit mehr ist als die antagonistische Figur, als die sie bislang gemeinhin aufgefasst worden ist. Der Begriff des Staubs dient Hippesroither dabei als Ausgangspunkt einer Argumentation für eine ortlose Antigone fernab von Dichotomien. Artur Pełka liest Janusz Głowackis Antigone in New York (1992) mit Slavoj Žižeks Die drei Leben der Antigone (2015) sowie Darja Stockers Nirgends in Friede. Antigone (2016) gegen, um unter Berücksichtigung einer politischen und genderspezifischen Perspektive Strategien zu skizzieren, die es ermöglichen, den Mythos ins Gegenwartstheater zu transferieren. Pełka macht in diesem Zusammenhang den Begriff der Nachkommen stark, um die ästhetische sowie politische Wandelbarkeit des Antigone-Stoffes zu unterstreichen. Auch Lisa Wolfson widmet sich Žižeks Antigone-Bearbeitung und befragt dessen Wahl eines Tragödientextes als Modus philosophischer Überlegungen. Wolfson ergänzt die Hegelsche Konfliktheorie um Lacans Aufzeichnungen zur Tragik und Überlegungen zu postmoderner Politik, um zu erläutern, wie Žižek das Konzept der Tragik für eine politische Diagnose fruchtbar macht.

Wiederkehr des Tragischen?

Der dritte Abschnitt wird von Annika Rink eingeleitet, die im Rekurs auf aktuelle, dem Exzess frönende Tragödien-Projekte von Karin Beier, Jan Fabre und Ullrich Rasche von einer Potenz des Tragischen spricht und dabei sehr plastisch beschreibt, wie sich der damit einhergehende Modus der Überschreitung explizit gestaltet. Sebastian Kirsch widmet sich dem wohlbekannt in Aristoteles’ Poetik eingeführten Begriff der Katharsis und denkt diesen mit der Foucaultschen Sorgetechnik zusammen. Ausgehend von der Frage, wer sich denn wovon reinige und welche hygienischen Implikationen die Katharsis mit sich bringe, eröffnet Kirsch die mannigfaltigen medizinischen, moralischen, rituell-sakralen und wirkungsästhetischen Dimensionen dieses tragischen Schlüsselterminus. Lutz Ellrich geht mit Jean-Luc Nancy von der Hypothese aus, dass der Tragödienbegriff längst einer Trivialisierung zum Opfer gefallen ist. Seine Spurensuche im Gegenwartstheater führt Ellrich zu der Einsicht, dass Tragik im Gegenwartstheater schlicht abwesend oder aber „weg-inszeniert“ sei. Gleich zwei Beiträge dieses Bandes befassen sich mit dem Schaffen des Schweizer Theatermachers Milo Rau. Stella Lange konzentriert sich auf Raus Produktion Empire, die 2016 zur Uraufführung gebracht worden ist. Unter Berücksichtigung des medialen Framings und der unterschiedlichen Sprechinstanzen, die in der Inszenierung zur Anwendung kommen, geht sie auf den Begriff der Zäsur ein, den sie mit der Medea-Figur verknüpft und vor allem in der Kombination von Videosequenzen und Spiel ausmacht. Asmus Trautschs Untersuchung wiederum berücksichtigt sämtliche bislang entstandene Arbeiten Milo Raus. In seinem Beitrag setzt er die Spuren des Tragischen, die er in Raus Werken ausmacht, in Bezug zu heutigen Implikationen des globalen Kapitalismus und stellt daran anschließend Fragen nach Handlungsfähigkeit, Schuld und Mitleid. Beschlossen wird der Band von einem Beitrag David Krychs, der die Theatergeschichtsschreibung und deren gängige Narrative im Rückgriff auf einen äußerst humorvollen Zugang einer kritischen Revision unterzieht. Auf der Suche nach einem Ursprungsnarrativ der Theaterwissenschaft geht Krych von historischen Zeugnissen aus und stellt Fragen zum Verhältnis von Anthropologie und Historiographie sowie von Tragischem und Alltagsrealität.

Als Herausgeberinnen hoffen wir, mit diesem Band Impulse für zahlreiche weiterführende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Tragischen zu geben und wünschen all unseren Leser*innen eine inspirierende Lektüre.

Wien, Sommer 2020 Silke Felber und Wera Hippesroither

Figurationen des Tragischen
Palimpseste für ein Theater der Gegenwart

Ulrike Haß (Universität Bochum)

Da Beschreibmaterialien, entweder das Pergament aus Tierhäuten oder Papyrus aus dem getrockneten und gepressten Mark von Pflanzenstengeln, im Mittelalter sehr kostbar waren, wurden sie mehrfach verwendet. Dafür wurde das Geschriebene abgekratzt oder abgewaschen. Als Tintenkiller kam auch Zitronensäure zum Einsatz. Dabei blieben jedoch Spuren der antiken oder frühmittelalterlichen Originaltexte erhalten, die man sehr viel später wieder sichtbar zu machen versuchte. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Priester Erich Dold aus der Erzabtei Beuron zu einem der ersten Fachleute für die Sichtbarmachung gelöschter Schriften auf Pergament. Er entwickelte die sogenannte Fluoreszenzfotografie weiter, ein Verfahren, bei dem das Material elektronisch angeregt wird, für kurze Zeit zu fluoreszieren, also Licht abzugeben.

Doch der Begriff des Palimpsests steht nicht nur für die vormalige Schrift unter einer Schrift, er steht auch für den Vorgang des Palimpsestierens, des Wiederbeschreibens. Er gilt sowohl für das Überprägen alter Strukturen als auch für das Durchprägen vormaliger Strukturen in einer Gegenwart. Der Vorgang selbst gilt, das ist sein nächstes Merkmal, für Oberflächenphänomene wie Papier, Häute oder Stoffe. Unter dem Aspekt des Palimpsests geraten diese Oberflächen zu doppel- oder mehrbödigen Räumen. Prägevorgänge bezeichnen auch in der Biologie, Psychologie und den Sozialwissenschaften Oberflächenphänomene, zu denen so verschiedene Objekte und Bereiche wie Umwelteinflüsse oder individuelles Verhalten oder die reversible Prägung beziehungsweise die reversible Modifikation der DNA gezählt werden.

Überprägen oder Durchprägen – in beiderlei Richtungen zeigt uns der Begriff des Palimpsests an, dass es sich bei den Oberflächen, auf denen etwas zur Erscheinung gelangt, nicht um trennscharfe Grenzen im Sinne von Entweder-Oder-Strukturen handelt. Diese Oberflächen trennen keine Vergangenheit von einer Gegenwart ab, kein Außen vom Innen, kein Vormaliges vom Hier und Jetzt. Der Begriff des Palimpsests sagt uns, dass es sich bei Oberflächen um Übergangzonen handelt, um mehrbödige und ausgedehnte Objekte, die summarisch und in einer anderen Sprache auch res extensa genannt wurden.

Wir müssen den Begriff der Oberfläche absolut ernst nehmen. Er wird für die Modernen sukzessive bedeutsam, die ihn auf Räume ohne die Dimension der Tiefe beziehen, auf Äußerliches ohne Innerlichkeit oder auch auf eine Weltweite, deren Draußen weltimmanent wird. Der Begriff der Oberfläche ist entsprechend weit zu fassen. Er bezieht sich auf die Sphäre, in der Sichtbares genauso gut wie Akustisches, Sprachliches, Gedankliches, Emotionales und Affektives hervortritt. Der Begriff der Oberfläche, dem kein Gegenbegriff eines Inneren mehr zugeordnet werden kann, ist über diese Äußerungsmaterialien hinaus auf Personen und Dinge ganz allgemein zu beziehen. Unter dem Aspekt der Oberfläche werden Personen und Dinge in ihren horizontalen Verflechtungen wahrnehmbar. Das Prinzip ihrer Situierung tritt hervor, ihr Vorhandensein in Um- und Mitwelten, ihre Einbettung. Damit ist ein In-situ-Prinzip angesprochen: in situ heißt In-Situationen-(zu)-Sein. Dieses situative Verständnis setzt sich heute, beziehungsweise in der Moderne an die Stelle eines vormaligen In-der-Welt-Seins, das sich letztendlich auf die Idee der Selbstermächtigung des Menschen inmitten einer Welt stützt, die ihm zur eigenen Einrichtung und Selbstverwirklichung überlassen ist – wie dies mit paradigmatischem Gewicht Pico della Mirandolas Schrift Oratio de dignitate hominis im ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert festhält.1

Demgegenüber akzentuiert das In situ nicht das Machen und Verwirklichen, sondern eher ein passives Sich-einbezogen-empfinden und die Empfindung einer situativen Einbettung, sei diese nun gut oder schlecht.2 Das In situ begrenzt das aktive Erzeugen auf ein vages Miterzeugen dieser Situation. Wir können nicht anders als Gelebte leben, als Gewusste wissen, als Gesprochene sprechen usw. Stets bezieht sich unsere Rede auf ein Vorgesprochenes, auf ein Vorgelautetes, auf ein Vorgedachtes und ist in dieser Weise nicht als erzeugende, sondern nur als mitzeugende Rede denkbar. Und nur als solche Mitzeugenden kommen wir vor, konkret und singulär, und dehnen uns aus.3

Heiner Müller hat dieses Grundverhältnis, das in einer, sagen wir post-utopischen und global komprimierten Welt (die er scharf gesehen hat) als Selbstwahrnehmung und Empfindung des Eingebettet-seins immer expliziter wird, in einem späten Gedicht formuliert. In seiner absolut strengen Einfachheit gehört dieses kleine, sechszeilige Gedicht mit dem Titel Altes Gedicht einem Genre an, das sich mit der Bezeichnung „Gelegenheitsdichtung“ als originäres In-situ-Genre ausweist.

Altes Gedicht

Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick

Der dich in Frage stellt Es gibt keinen anderen mehr

Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist

Aus einem Buch das Du nicht geschrieben hast

Dagegen kannst Du lange anschreiben auf dem

Ausbleichenden Farbband Der Text schlägt durch4

Das Gedicht spricht vom Mitwissen eines vorgängigen Textes: Der Dichter, sein Schreiben, alles nur ein Palimpsest. Der vorgängige Text bricht in die Gegenwart des Gedichts ein, das sich in diesem Moment abbricht, ohne jedoch aufzuhören. Dieses sich in die Unscheinbarkeit zurückziehende Gedicht dehnt sich im Moment des Abbruchs. Es macht Platz, es gibt Raum, es spendet Raum für einen Empfang. „Der Text schlägt durch.“ Das Gedicht, das ohnehin vollständig auf Interpunktion verzichtet, endet ohne Punkt. Es folgt kein Wort mehr, aber auch kein Ende. Vielmehr wechseln wir die Ebene oder besser, wir wechseln in der Ebene: Im Abbruch des Gedichts tritt unvermittelt eine Berührung ein (die zum Beispiel bewirkt, dass dieses Gedicht, vor zwei Jahrzehnten wahrgenommen, sich mir aufdrängt, während ich dem Begriff des Palimpsests nachgehe). Der Abbruch des Gedichts öffnet sich – nicht auf einen Abgrund hin, wie eine letztlich idealistische Lesart der Negativität an solchen Stellen schnell bereit war anzunehmen, sondern auf ein Außen hin. Der unabgeschlossene Schluss dient als Berührungspunkt der Realität einer res extensa, einer ausgedehnten Sache, die nicht vorliegt oder vorrätig ist wie das gefrorene Gemüse im Tiefkühlregal, sondern die sich unvermittelt in der Äußerlichkeit eines Hier und Jetzt einstellt. Indem dieses Außen, diese ausgedehnte Sache, im Moment des Abbruchs sich selbst berührt, vermag sie auch ein anderes Empfinden zu berühren und vermag mich zu einer Mitempfindung zu verführen – eben das ist res extensa.5

 

Soviel einleitend zum Palimpsest-Begriff, der hier, im Unterschied zu seiner eher metaphorischen Verwendung als Bezeichnung für eine generell vorliegende Intertextualität von Texten, als Raumbegriff akzentuiert wird.6 Eher als linguistische Verfahren interessieren uns hier solche, die mit dem schwachen Verb „prägen“ verknüpft sind und als Prägeverfahren zwingend mit den Begriffen Oberfläche und Außen zusammenhängen. Als ein solcher Raumbegriff erscheint das Palimpsest in besonderem Maße für unsere Gegenwart geeignet, für die in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede vom „Weltinnenraum“7 geltend gemacht wird. Damit wird eine Immanenz thematisiert, die sich einer weltweiten Nivellierung aller vertikalen Gliederungen verdankt, in der sich alles vormals Äußere nach innen gezogen hat, sodass es – je nachdem – nur noch ein einziges großes Innen gibt oder nur noch das Außen einer globalisierten Synchronwelt. In jedem Fall haben Innen und Außen aufgehört, einander zu bedingen und zu definieren (eine moderne Entwicklung, die schon im Barock einsetzt). Anstelle der althergebrachten Gliederung von Innen und Außen realisieren heute globale Verkehrsströme von Nachrichten, Daten, Personen, Waren und Kapital eine Welt ohne „Hienieden“ und „Jenseits“, also keine Welt mehr, wie wir sie kannten. Bezüglich dieser sich nur noch oberflächlich dehnenden Sache, die früher mal die Welt war (und diese Entwicklung ist keine neue und datiert auch nicht erst seit gestern), ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob die Tragödie in ihr noch eine Chance hat oder warum sie vielleicht keine Chance mehr hat und abgeschlossen im Geschichtsgrau der griechischen Antike versiegelt liegt, einem Museumsfundstück vergleichbar, das auf seine Präparatoren wartet.

In Bezug auf diese Frage möchte ich mich zunächst mit zwei prominenten Lesarten der Tragödie auseinandersetzen: Zum einen mit dem Modell des unversöhnlichen tragischen Konflikts, das durch Hegel motiviert wurde, zum anderen mit dem Modell einer schicksalhaften Fügung, die sich auf Aristoteles‘ Poetik beruft. In meiner Auseinandersetzung mit diesen beiden Tragödienmodellen möchte ich Lesarten nahelegen, die das Potential des Tragischen anders situieren und für unsere Gegenwart annehmbar werden lassen. Die Voraussetzung dafür ist nicht so sehr der Streit mit dem Common Sense der Tragödientheorien, wie Wolfram Ette meint (natürlich muss man zurück zu den Sachen, zu den Stücken). Aber der Streit, der zu führen wäre, betrifft eher einen Begriff der Geschichte. Und auch hier will ich meine These noch kurz vorausschicken: Der uns geläufige Begriff von Geschichte ist im Horizont der Hominisierung entstanden und mit dem Anthropozentrismus liiert bis hin zu den sich im weltgeschichtlichen Rahmen gegenseitig entdeckenden Völkern, genannt „Menschheit“. Anstelle einer solchen Geschichte, die mit ihren Botschaften und Sinnversprechen für eine jeweils „menschlichere Zukunft“ einstehen sollte, ist heute vom Ende dieser Geschichte auszugehen. Dies betrifft zunächst und ganz zentral die menschlichen Existenzen in ihrer Sinnhaftigkeit. Sie bekommen keinen Sinn mehr (göttlich) verliehen und sie verfügen über keinen Sinn mehr, der ihnen so lange und zuletzt auch ersatzweise durch das geschichtliche Projekt zugewachsen ist. Und dennoch gibt es einen Anspruch auf Sinn, weiterhin. Die menschlichen Existenzen, diese kleinsten Vitalsplitter, die unsere Leben darstellen, sind nicht ohne Anspruch auf Sinn. Davon spricht Jean-Luc Nancy, der festhält, dass „dieser Anspruch […] für sich allein bereits der Sinn [ist],mit all seiner Kraft zum Aufstand“.8

Es ist diese Lage, keinen Sinn zu haben und keinen Sinn mehr (geschichtlich) zu erzeugen, die wir mit den antiken Tragikern bis heute unvermindert teilen. Deshalb hat uns die Tragödie heute etwas zu sagen und ist tauglich auch für unsere Gegenwart.