Schwabens Abgründe

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Cindy Jäger

Idyllische Probleme


Weilheim an der Teck

Die Idylle hier machte mich fertig! Die sanften Hügel der Schwäbischen Alb – Fifty Shades of Green! Dann in der Stadt Fachwerk, schmucke Gassen und Geschäfte. Kaum Lärm, es sei denn, die Kirchenglocken bimmelten dich sonntagmorgens aus dem Schlaf.

Kein Wunder, dass die Weilheimer so anständig und ausgeglichen waren! Letztes Wochenende, da ist mal jemand hupend über den Zebrastreifen gefahren, obwohl ich schon den Fuß darauf hatte, und ich wette, was Schlimmeres ist hier noch nie passiert.

Was sollte ich, Katrin Schimmelpfennig, hier nur anfangen?

Vor zwei Monaten war ich aus Berlin nach Weilheim gekommen und lebte, notgedrungen, bei meiner Freundin Eva. Es gab hier nichts, absolut nichts, was meinen Puls in die Höhe trieb. Dagegen reichte ein Gedanke an Berlin, und Adrenalin floss durch meine Adern. Berlin war groß und laut, manchmal grell und manchmal schmutzig – so wie ich. Wie ich den Moloch vermisste!

Und warum gehst du dann nicht nach Berlin zurück, wenn es dir in Weilheim nicht gefällt? Das fragt ihr euch doch jetzt, oder?

Würde ich gern, das könnt ihr mir glauben. Geht aber gerade nicht. Denn dort wartet ein psychopathischer Stalker auf mich – der Hauptgrund für das Adrenalin, wenn ich an Berlin denke. Und außerdem habe ich kein Geld, denn ich musste meine Einnahmequelle in Berlin zurücklassen. Die bestand darin, reiche Typen auszunehmen (wie zum Beispiel den psychopathischen Stalker). Aber in Weilheim gibt’s keine Luxushotels oder hippen Bars, wo ich mich gepflegt am Tresen räkeln und ein potenzielles Opfer ausspähen könnte. Das Opfer spendiert mir dann meistens einen Drink, und ich horche es geschickt aus, um mit der passenden Geschichte möglichst viel Geld aus ihm herauszuquetschen.

Das ist aber unehrlich, sagt ihr jetzt bestimmt. Ja, na und?! Wenn ich mit den Typen fertig war, hatten sie immer noch genug Geld, und ich war für ein paar Wochen versorgt und konnte machen, was ich wollte. Ein bisschen schauspielern, in der Weltgeschichte herumreisen – und meine Schwester Steffi bekam auch hin und wieder was, wenn es mit ihrer mobilen Fußpflege nicht so gut lief.

In Weilheim war das jedenfalls anders. Ich weiß nicht, vielleicht war ich mit 42 auch langsam zu alt dafür, aber in Weilheim spendierte mir nie jemand irgendwas! Nur einmal hatte mich ein Typ von hier, Gunnar, 50 plus, Inhaber eines Dekoladens, zum Abendessen nach Esslingen eingeladen (vermutlich, damit seine Frau davon nichts mitbekam). Beim Essen hatte er den Charmeur gespielt, aber ich merkte schnell, dass er nichts rausrücken würde. Ich war nicht mal dazu gekommen, mein Essen zu genießen, weil sich am Nebentisch zwei Typen hinsetzten, die Gunnar kannten. Den Rest des Abends musste ich so tun, als wäre ich eine Vertreterin für Dekoartikel! Zu guter Letzt setzte mich Gunnar gleich am Ortseingang von Weilheim auf dem Edeka-Parkplatz ab und erklärte, es wäre für uns beide besser, wenn wir diesen Abend nicht wiederholten. Und ich musste vor seinen Augen seine ganzen Textnachrichten und Bilder von meinem Handy löschen. Arschloch! Aber es kam noch schlimmer. Ich musste bis zum anderen Ende der Stadt stöckeln und ruinierte dabei meine Valentino-Pumps, die eigentlich nicht für langes Laufen gedacht sind. Ich schwöre, dafür wird Gunnar noch büßen!

Das war jedenfalls mein erster und einziger Versuch, in Weilheim auf meine gewohnte Weise zu Geld zu kommen. Es war sinnlos. Die wohlsituierten Typen in der Provinz waren viel zu vernünftig und hatten immer auch ein Auge auf die Nachbarn.

Und außerdem (ich will das eigentlich nicht wahrhaben) meldete sich in Weilheim zum ersten Mal mein Gewissen. Willst du die netten Leute hier wirklich übers Ohr hauen? Das ging mir immer öfter durch den Kopf. Echt ärgerlich!

Und ich wollte auch nicht, dass mein Verhalten auf Eva zurückfiel, meine einzige Freundin, die mich netterweise bei sich wohnen ließ. Aber nicht nur das. Eva hatte mir auch einen Job besorgt, als Aushilfe im Weilheimer Mode-Lädle. Bisher ging ich in solche Läden nur, um Geld auszugeben. Das lag mir einfach mehr. Der Job war ganz in Ordnung, aber ich vermisste die Selbständigkeit – nur meine Opfer, das Geld und ich.

Heute Vormittag hatte mir Sylvie, die Inhaberin, ihren Laden jedenfalls ganz allein überlassen.

Kurz nach acht Uhr (am Morgen!) schloss ich die Tür zum Mode-Lädle auf. Sylvie hatte alles in Topzustand hinterlassen. Bis die ersten Kundinnen kamen, zauberte ich den Schaufensterpuppen ein laszives Dekolletee. Dann drapierte ich den Vorhang der Umkleidekabine und betrachtete mein Spiegelbild. Der Weilheimer Friseur hatte mein kühles Blond aufgefrischt (besser, als es mein Luxus-Figaro in Berlin je hinbekommen hatte). Mein himbeerfarbenes Sommertop betonte meinen Schwanenhals und meine eisblauen Augen. Eine leichte Sommerbräune hatte ich auch wegen der langen Spaziergänge mit Eva. (Was sollte ich hier sonst den ganzen Tag machen?) Ich fühlte mich frisch und jugendlich. Weilheim schien mir zu bekommen.

Und die Weilheimerinnen schienen es zu mögen, wie ich großstädtisches Flair verbreitete. Mehrere Damen verließen den Laden zufrieden und mit vollen Tüten. Ich war völlig ausgelaugt, als die Uhr an der Peterskirche zwölf schlug. Normalerweise war das die perfekte Zeit für ein leichtes Frühstück, aber ehrliche Arbeit und die langen Spaziergänge in der Natur machten mich hungrig, und mein Magen röhrte. Leider konnte ich mir kein ausschweifendes Mittagessen leisten, also stöckelte ich die wenigen Meter vom Mode-Lädle zur Metzgerei Frisch.

Dort wartete bereits eine Schlange, die aber schnell kürzer wurde. Vor allem, weil die Verkäuferin, anders als ich es in Weilheim gewohnt war, nicht mit jedem Kunden ein Schwätzchen hielt. Die Frau Anfang dreißig wirkte abwesend, und ihre Augen waren verdächtig rot. Bald waren nur noch zwei Anzugtypen vor mir, die sich einen ganzen Haufen Fleischkäsebrötchen belegen ließen. Einer der beiden ließ sich nicht durch ihre roten Augen und die knappen Antworten (oder dass ich mit knurrendem Magen hinter ihm stand!!!) davon abbringen, ihr lang und breit zu erzählen, wie er mit seinen Kumpels gestern Abend in irgendeiner Sportkneipe Fußball geschaut hatte.

»Und dein Jochen war wieder nicht dabei«, schäkerte er. »Ihr habt noch nicht mal geheiratet, und schon macht er sich rar!«

»22,40 Euro sind’s dann«, fiel ihm die Verkäuferin schroff ins Wort.

»Mit Quittung, wie immer«, entgegnete er betreten. Sein Blick besagte deutlich, dass er Zweifel an Jochens Damenwahl hatte. Aber er bezahlte schnell, was gut war, denn ich kam mittlerweile fast um vor Hunger. Die saftigen Fleischkäselaibe in der Auslage dufteten verführerisch.

Doch statt mich zu bedienen, warf mir die Verkäuferin nur ein knappes »Moment, bitte« zu und verschwand im Kühlraum. Ich blickte auf die Uhr über der Theke. Noch zwei Minuten, dann machte der Metzger Mittagspause.

Hoffentlich heulte sie sich jetzt nicht stundenlang im Kühlraum die Augen aus! Als sie wiederauftauchte, sahen ihre Augen aus, als wäre sie nur ganz knapp einem Giftgasanschlag entronnen. Scheinbar ziellos irrte sie zwischen dem Waschbecken, wo sie sich nach jedem Kunden die Hände reinigte, und der Theke hin und her.

»Anzugtypen«, meinte ich verächtlich, weil das bei Leuten in Kittelschürzen immer gut ankam.

Da traten ihr wieder Tränen in die Augen. »Die wollen doch nur, dass er mitkommt, weil er immer für die Getränke bezahlt. Der Jochen ist so gutmütig, wenn es ums Geld geht.«

Ha! Das war Musik in meinen Ohren! Aber ich würde einer unglücklichen Fleischereifachverkäuferin natürlich nicht den Verlobten beziehungsweise dessen Geld abspenstig machen. Erstens, weil die Leute hier so nett waren, und zweitens wegen Eva.

»Alles in Ordnung mit Jochen?«, fragte ich, weil ich auch mal ein netter Mensch sein wollte. Die Verkäuferin erinnerte mich an meine Schwester Steffi. Sie war ebenfalls unbeholfen, unscheinbar und machte einfach nichts aus sich.

»Nein, gar nichts ist in Ordnung«, schluchzte sie.

Ich schlug ihr vor, doch erst mal abzuschließen, was sie mit zitternden Fingern tat.

»Der Jochen hat bestimmt eine andere«, vertraute sie mir schließlich an.

Sie erzählte mir außerdem, dass sie Franziska hieß und dass sie mit diesem Jochen seit Anfang des Jahres verlobt war. Im Spätsommer hatten sie eigentlich heiraten wollen. Aber Jochen wollte plötzlich die Hochzeit aufs nächste Jahr verschieben.

»Ich hab ihn gefragt, ob er kalte Füße kriegt, doch da hat er nur den Kopf geschüttelt und ganz komisch geschaut«, schniefte sie.

»Und hast du jemanden im Verdacht?«, fragte ich sie mit einem Seitenblick auf die Fleischkäselaibe. Die Geschichte konnte sich noch ein bisschen hinziehen, und eine Stärkung wäre jetzt wirklich nicht verkehrt.

»Vielleicht eine Kollegin?«, meinte sie zögerlich. »Der Jochen arbeitet bei der Volks- und Raiffeisenbank um die Ecke. Und zum Mittag holt er sich gern einen groben Leberkäse. So haben wir uns kennengelernt, weißt du? Jetzt kommt er seit ein paar Wochen nicht mehr und nimmt sich immer ein Brot mit ins Geschäft. Mit billiger Wurst vom ALDI!«

Wie furchtbar! Ich fragte Franziska, ob sie sonst noch Anzeichen einer möglichen Untreue bemerkt hätte. Komische Anrufe, abgesagte Treffen, Haare auf dem Sakko – das Übliche. »Nein, das ist es ja!«, rief sie aus. »Nichts! Nur dass er seit ein paar Wochen keine Lust mehr hat wegzugehen. Er sagt, er kuschelt lieber mit mir auf dem Sofa.«

 

Das klang allerdings nicht nach einem zünftigen Ehebrecher. Oder war er vielleicht besonders raffiniert? Es musste doch einen Grund geben, dass er die Mittagspausen nun statt mit einem saftigen Fleischkäse und seiner Verlobten lieber mit einem mageren Brot verbrachte.

»Warum will er mich nicht mehr heiraten?«, schniefte Franziska. »Wenn ich das nur wüsste. Manchmal will ich ihn in die Wüste schicken, aber dann denke ich mir, so einen netten Kerl wie den Jochen findest du nie wieder. Die Ungewissheit macht mich ganz krank!«

Mir war der Appetit vergangen, denn mein Gewissen meldete sich plötzlich so vehement, wie ich es noch nie erlebt hatte. Bisher war ich es gewesen, die sich hinterrücks mit fremden Ehemännern traf. Das war ja sozusagen mein Job gewesen. Doch mein Abgang aus Berlin hatte mich aus dem Rhythmus gebracht, und ich hatte in Weilheim viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Für diesen kleinen Ort, wo alle so nett waren und man nicht ständig auf der Hut sein musste, übertölpelt zu werden, hatte ich entschieden zu viel Energie. Die musste ich in neue Bahnen lenken, sonst würde ich hier verrückt werden!

Da hatte ich einen Geistesblitz. Vielleicht konnte ich Franziska helfen?

»Arbeitet Jochen heute auch in der Bank?«, fragte ich. »Und hast du ein Bild von ihm?«

»Ja, wieso?«

Ich schlug Franziska vor, mich an Jochen heranzumachen und seine Treue zu testen.

Sie schluckte heftig und rang schwer mit sich. »Ich muss es wissen!«, stieß sie schließlich hervor. »Aber warum willst du das machen?«

»Neue Stadt, neues Leben«, antwortete ich schulterzuckend. »Und ich hätte übrigens gern einen Zwiebelfleischkäse.«

Ich schloss das Mode-Lädle um 18 Uhr ab und rannte, so schnell es meine Pumps erlaubten, über das Weilheimer Pflaster Richtung Volks- und Raiffeisenbank, die um die gleiche Zeit schloss. Hoffentlich hatte ich Jochen nicht verpasst.

Franziska hatte mir sein Bild geschickt: schmale Schultern, Bauchansatz und Halbglatze. Er erinnerte mich an die Birnen, die hier überall an den Obstbäumen wuchsen. Und sein Allerweltsgesicht erst! Minutenlang hatte ich auf das Handy gestarrt und versucht, mir seine kaum vorhandenen Gesichtszüge einzuprägen. Neben ihm sah selbst Franziska im Fleischerkittel glamourös aus.

Typen wie er freuten sich entweder über jede Form von Aufmerksamkeit, egal von welcher Frau, oder sie suchten nach dem ultimativen Luxusweibchen, in dessen Glanz sie sich sonnen konnten. Aber ganz egal, welcher Gattung er angehörte, Jochen würde sich auf keinen Fall lumpen lassen. Ich freute mich auf ein delikates Abendessen. Auf Mexikanisch hatte ich richtig Lust. Und Cocktails. Wohin er mich wohl ausführen würde? Nach Esslingen, wie Gunnar? Oder war ihm das noch zu nah, und wir würden nach Stuttgart fahren? Plötzlich hatte ich Sehnsucht nach einer Großstadt und konnte es gar nicht erwarten, dass Jochen endlich auftauchte.

Nach zwei Minuten kam er auch schon. Ich wartete, bis er auf doppelte Armlänge an mich heran war, und stieß dann – nach einer Dreivierteldrehung mit integriertem Ausfallschritt – kunstvoll mit ihm zusammen. (Den Bewegungsablauf hatte ich über die Jahre mithilfe Dutzender Opfer verfeinert und konnte es sogar so einrichten, dass mich der Typ anschließend auffing. Aber für Jochen würde die einfache Variante reichen.)

»Oh, entschuldigen Sie vielmals«, raunte ich und drückte seinen Unterarm.

»Schon gut«, murmelte er und zog an mir vorbei.

Nanu? Wieso blieb er denn nicht stehen? Hätte ich mich doch auffangen lassen sollen?

»Die Bank hat doch nicht etwa schon geschlossen?«, seufzte ich, so sexy wie nur was. Aber Jochen beachtete mich gar nicht. War das zu fassen? Ich musste dem Birnenmännchen doch tatsächlich hinterherlaufen.

»Meine Karte funktioniert nicht, und ich habe überhaupt kein Bargeld mehr«, säuselte ich ihm ins Ohr.

»Da wenden Sie sich an den Telefonservice. Die Bank hat zu.« Jochen hielt nicht mal an. Und diesen Kerl fand Franziska nett? Vielleicht war ihr mehr geholfen, wenn ich ihr einen neuen Verlobten besorgte?

Ihr aktueller war inzwischen an seinem Auto angekommen. Rasch manövrierte ich mich zwischen Jochen und die Fahrertür. »Ohne Bargeld sitze ich hier fest!«

Jochen hatte seinen Autoschlüssel herausgeholt und starrte unbehaglich in alle Richtungen. Der Typ machte keine Anstalten, mich abzuschleppen! Ich musste andere Saiten aufziehen, denn er brauchte anscheinend eine strenge Hand.

»Du fährst nicht zufällig über den Guckenrain?«, fragte ich forsch. Da wohnte er, hatte mir Franziska erzählt.

»Äh, doch«, stammelte er.

»Und hast du noch einen Platz frei?« Ich zeigte auf sein Auto.

»Äh, ja.«

»Tja, dann. Danke dir! Ich bin übrigens Katrin. Schön, dass du mich mitnimmst.« Ich lächelte und ging zur Beifahrertür.

Jochen sah sich erneut nach allen Seiten um und stieg schließlich wie ein begossener Pudel ein.

Die Fahrt von Weilheim zum Guckenrain dauerte keine zehn Minuten. Alle meine Versuche, Jochen aus der Reserve zu locken, scheiterten. Dass dieser Kerl seine Verlobte betrog, konnte ich mir im Leben nicht vorstellen. Ich hatte mich ihm quasi auf dem Silbertablett angeboten – aber er griff einfach nicht zu. An mir lag das sicher nicht!

Wenn einer so verstockt war, musste ich Klartext reden.

»Halt an!«, befahl ich. Jochen stieg in die Eisen. Der Mann gehorchte aufs Wort! Vielleicht gefiel er Franziska deshalb so gut?

»Lass uns über Franziska reden!«, forderte ich.

»Äh, Franzi?«, stammelte er.

»Hast du eine andere?«

»Eine andere … was … nein …«

»Und warum willst du sie dann nicht mehr heiraten?« Ich blickte ihm streng in die Augen.

»Will ich doch, wirklich. Aber ich kann nicht!« Jochen wandte rasch seinen Blick ab.

»Wie? Du kannst nicht?!«

Jochen umklammerte krampfhaft das Lenkrad und sah ziemlich verzweifelt aus. Mein erster Ausflug als Treuetesterin hatte wohl gerade eine unerwartete Wendung genommen. Auf die Idee, die aufdringliche Fremde einfach aus seinem Auto zu schmeißen, kam er glücklicherweise nicht.

»Was kannst du nicht, Jochen?«, sagte ich mit einem weichen Timbre in der Stimme, dem die Männer für gewöhnlich nicht widerstehen konnten.

Jochen blickte stur geradeaus.

Ich seufzte. »Vielleicht hat Franzi bald keine Lust mehr, dich zu heiraten, wenn du sie zu lange warten lässt. Schon mal daran gedacht?«

»Was? Nein. Ich will sie ja heiraten. Aber ich kann … ich kann die Hochzeit nicht bezahlen«, stieß er hervor.

»Was?«

»Ich habe das Geld, das wir dafür gespart haben, einem Kumpel gegeben. 11 500 Euro«, klagte er. »Und jetzt sagt er, er kann es mir bis nächstes Jahr nicht zurückzahlen.«

»Du hast deinem Kumpel einfach so 11 500 Euro gegeben?«

»Ja, er brauchte doch das Geld.«

Oh, Jochen! Du bist mein Traumopfer! Sollte ich nicht versuchen, ihm wenigstens ein paar Hunderter abzuluchsen? Für eine kleine Shoppingtour nach Stuttgart in die Königstraße? Ich riss mich zusammen und fragte streng: »Und wofür braucht er das Geld?«

»Weiß nicht«, erwiderte Jochen kleinlaut. »Für seine Musik vielleicht? Der Sven will so gerne ein eigenes Album herausbringen. Und er hat uns versprochen, mit seiner Band auf unserer Hochzeit aufzutreten. Kostenlos!«

»Wie nett von ihm«, antwortete ich.

»Ja, nicht wahr?«, strahlte Jochen. »So eine Band ist sonst ganz schön teuer. Und die Franzi will keinen DJ.«

Wie viele Schuhe könnte ich mir für 11 500 Euro kaufen? Nicht, dass ich so unvernünftig war, aber nach zwei Monaten im Weilheimer Exil hätte ich es mir verdient. Ungeduldig fragte ich Franziskas Verlobten, ob er wenigstens einen Schuldschein hatte.

»Nein, wir kennen uns doch von früher«, erklärte er allen Ernstes. »Und der Sven ist Grundschullehrer, weißt du? Und er ist eigentlich ganz nett, er zahlt mir das Geld mit Zinsen zurück. Mit höheren Zinsen als auf der Bank, weißt du? Mehr Geld für die Hochzeit.«

Oh, Jochen! Warum bist du mir nicht früher begegnet? Ich hätte dich gnadenlos ausgenommen!

»Die Franzi darf davon nichts erfahren«, flüsterte er. »Sie liebt mich doch, weil ich so vernünftig bin und das Geld zusammenhalte.«

Aha, so hatte er also Franzis Herz erobert! Hätte ich mir ja denken können, dass Sparsamkeit hier ein dicker Pluspunkt war. Arme Franzi. Zwar betrog ihr Birnenmännchen sie nicht, aber eine Hochzeit würde sie trotzdem nicht bekommen. Das hatte sie nicht verdient.

Ich wandte mich streng an Jochen. »Du erzählst mir jetzt, wo ich diesen Sven finde und alles, was ich wissen muss!«

»Aber was willst du denn von ihm?«

»Das Geld natürlich, was denn sonst?«

»Du holst das Geld zurück und erzählst es nicht Franzi?«, fragte er hoffnungsvoll. Anscheinend hatte ich Eindruck auf ihn gemacht. »Wie kann ich dir nur danken?«

»Fahr mich nach Weilheim zurück!«, forderte ich.

»Hä?« Aber da ließ er schon den Motor an, und ich saß pünktlich zum Abendessen bei Eva am Tisch. Flädlesuppe und Vollkornbrot mit selbst gemachtem Kräuterquark statt Mexikanisch. Und vor dem Schlafengehen gab es Pfefferminztee (aus dem Garten). Keine Cocktails, leider.

Aber die würde mir morgen Abend dieser Sven spendieren. Ich freute mich schon!

Die Idylle Weilheims hatte mich eingelullt. Richtig träge war ich geworden und hatte nach dem Fiasko mit Gunnar gar nicht mehr versucht, irgendwelche Typen aufzugabeln. Ein Fehler – denn jetzt war mein Jagdinstinkt wiedererwacht. Ich saß in einer sogenannten Szenekneipe in Kirchheim, denn laut Jochen verbrachte Sven Häberle, 46, Grundschullehrer, hier fast jeden Abend.

Tief im Inneren war Sven nämlich Rockstar und trat hier manchmal mit seiner Band auf. Natürlich hoffte ich, dass er auch die Allüren eines Rockstars hatte und kräftig mit Geld um sich warf. Vermutlich vor allem Jochens Geld. Aber egal, einen Cocktail konnte ich vom Hochzeitsbudget guten Gewissens abzweigen. Ich ging gedanklich meinen Plan durch.

Laut Jochen hatte Sven gerade keine Freundin. Die letzten beiden hatten ihn verlassen, weil sie seine Musik nicht unterstützten und lieber Kinder haben wollten. Da war ich doch genau das richtige Groupie! Jetzt war ich froh, dass ich vor meinem Abgang aus Berlin mein silbernes Paillettenkleid und meine schwarze Perücke eingepackt hatte. Und was wolltest du in Weilheim damit anfangen? Das fragt ihr euch vielleicht. Weiß ich auch nicht, aber ohne fühlte ich mich eben nicht komplett.

In Berlin traf man wenigstens ab und zu echte Rockstars. Sven dagegen klimperte Kindern auf der Gitarre vor und hatte es nur von Weilheim nach Kirchheim geschafft. Was, zugegeben, ein ganz schön langer Weg war, wenn man den Bus dafür nahm. So wie ich heute. Jetzt kannte ich nicht nur Weilheim und Kirchheim, sondern auch noch Holzmaden, Ohmden und Jesingen. Über eine Stunde war ich im Paillettenkleid über die Dörfer getuckert. Für den Rückweg würde ich auf jeden Fall ein Taxi nehmen, und Sven würde es mir bezahlen!

Ich strich ein paar Pailletten glatt und zog sämtliche Blicke auf mich. Einer der Gäste wollte mich sofort zu einem Drink einladen. Leider musste ich ihn vertrösten. Ein Blick auf seinen Autoschlüssel hatte mir gezeigt, dass er mich den ganzen Abend mühelos hätte aushalten können. Mist. Stattdessen machte ich Jagd auf einen Grundschullehrer mit Rockstar-Ambitionen. Für den guten Zweck, ja, aber eine gute Gelegenheit ließ ich mir ungern entgehen.

Ich hatte mir jedenfalls ein paar Sätze überlegt, um mit Sven ins Gespräch zu kommen. Völlig unnötig! Als er die Kneipe betrat, fasste er mich sofort ins Auge. Kein Wunder – hier war ich wie ein Koi, der aus Versehen in die Forellenzucht geraten war.

Er sprach mich jedoch nicht an, sondern ging geradewegs zur Bar, wo er mit der Bedienung schäkerte. Oh Mann, ich hoffte, dass mir jetzt kein Paarungstanz mit verstohlenen Seitenblicken und gegenseitigem Ignorieren bevorstand. Aber so raffiniert war Sven nicht. Bald kam er an meinen Tisch, setzte sich lässig – war einstudiert – und stellte mir einen Cocktail vor die Nase. Orangerot mit Schirmchen, roch nach Pfirsich – ein »Sex on the beach«. Nicht mein Lieblingscocktail, doch in Weilheim hatte ich mir abgewöhnt, wählerisch zu sein.

 

Sven schwenkte derweil ein Whiskyglas – mit Eiswürfeln, also bitte! – und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich schaute genauso erwartungsvoll zurück, und schließlich sagte er mit Blick auf den Cocktail: »Deswegen bist du doch hier, oder?«

Anmache zwei von fünf Sternen, würde ich sagen. Sven hatte Glück, dass ich sowieso schon hinter ihm her war. »Gibt’s denn in Kirchheim einen Strand?«, fragte ich augenzwinkernd.

Er kicherte und wusste anscheinend nichts zu erwidern. Hatte sich mit seiner Anmache übernommen. Was für ein Rockstar!

Ich sog lasziv an meinem »Sex on the beach« und sah, dass es seine Wirkung nicht verfehlte. Wenn Jochen und Franzi das Geld für ihre Hochzeit heute nicht wiederbekamen, dann hatte ich als Trickbetrügerin in Berlin nichts mehr zu suchen. Dann würde ich mich lebenslang in Weilheim verkriechen!

Der Flirt mit Sven kam aber nicht so richtig in Gang. Warum bloß? Ich war der Traum von jedem Provinz-Rockstar! Natürlich! Das Problem war, dass es Sven nicht mal in diese Liga schaffte. Er war ein Grundschullehrer, der singen konnte, und hatte mit seiner Lederhose und den langen Haaren bestimmt leichtes Spiel bei den Bauernmädchen aus der Umgebung oder bei gelangweilten Ehefrauen. Doch ich war eindeutig eine Nummer zu groß für ihn. Hätte ich das Paillettenkleid mal lieber zu Hause gelassen, es überforderte ihn nur.

Wie sollte ich die Situation nur retten? Ich bestellte eine zweite Runde Drinks. Und noch eine. Sven taute langsam auf und wurde selbstbewusster. Dann begann er, von seiner Musik zu erzählen. Gähn!

»Katrin, ich schreibe einen Song für dich!«, lallte er irgendwann so laut, dass es die ganze Kneipe hörte. Es waren nicht viele Leute da, vermutlich nur Stammkunden, und die meisten beachteten Sven nicht weiter. Der eine oder andere konnte sich ein süffisantes Lächeln aber nicht verkneifen. Was das wohl zu bedeuten hatte?

»Oh, wie schön«, flötete ich enthusiastisch. »Ich hoffe, du verdienst viel Geld damit!«

»Nein, Katrin, ich mache meine Musik nicht des Geldes wegen. Geld, Geld, Geld! Immer wollen alle nur Geld von einem.« Plötzlich sah er richtig unglücklich aus.

Das machte mich stutzig. Wenn ihm Geld nichts bedeutete, warum hatte er Jochen dann sein Hochzeitsbudget abgeknöpft?

Um Zeit zum Nachdenken zu haben, bestellte ich die vierte Runde Getränke. Oder die fünfte? Wenn man Geld in Whisky umwandelte, konnte Sven durchaus was damit anfangen. Ich war nach dem Cocktail auf Weißweinschorle umgestiegen.

»Du hast recht«, meinte ich, als ich mich mit den vollen Gläsern wieder neben ihn in die Lederpolster sinken ließ, »Geld allein macht nicht glücklich.«

Er schüttelte traurig den Kopf und schüttete den Whisky in einem Zug hinunter. Die Kneipe leerte sich langsam.

»Was würde dich denn glücklich machen, Sven?«, hauchte ich und hoffte, dass er den Sex on the beach schon vergessen hatte.

»Willst du das wirklich wissen?«, fragte er mit glasigen Augen.

Ich nickte ihm vertraulich zu.

»Ach, Katrin. Ich wünschte, die Erde würde sich schneller erwärmen.«

»Ähm …«

»Dann wird es hier wärmer, weißt du?«

»Aha.«

»Wenn es wärmer wird, gibt’s mehr Mehltau.«

»Ja?!«

»Und wenn es mehr Mehltau gibt, dann gibt’s weniger Getreide.«

»Aber …« Was hatte ich mir da nur eingebrockt?

»Kein Getreide, kein Whisky! Verstehst du?«

Oh Gott!!! Keine Kneipe, kein Whisky, wie wäre das? Laut sagte ich: »Also, du willst eigentlich keinen Whisky trinken?«

»Das ist Teufelszeug«, schluchzte er. Traurig blickte er erst sein leeres Glas und dann mich an.

Mit einem verständnisvollen Lächeln holte ich Nachschub. Wenn das so weiterging, war von Jochens Geld bald nichts mehr übrig. Sven wurde immer betrunkener, und ich war noch keinen Schritt weitergekommen.

»Das ist mein Untergang«, seufzte er und nahm das frische Glas entgegen. »Zwölf Wochen habe ich keinen Tropfen angerührt. Damals …« Er ließ sich in die dicken Polster sinken und schloss die Augen.

Ich horchte auf. »Ja? Was war denn damals?«

Aber Sven schüttelte nur träge den Kopf und sah völlig fertig aus. »Das kann ich dir nicht erzählen, obwohl du total nett zu mir bist. Es ist schlimm.«

Zeit, die Strategie zu wechseln. Ich nahm ihm das Whiskyglas weg und stellte es auf dem kleinen Tischchen vor uns ab. Dann nahm ich seine Hände in meine. »Sven, schau mich an«, flüsterte ich. »So schlimm, dass du es mir nicht erzählen kannst, ist es bestimmt nicht.«

»Ich würde so gern mit meinen Schülern tauschen«, jammerte er, »sie haben ihr Leben noch vor sich.«

»Man kann sein Leben immer ändern«, entgegnete ich ein bisschen halbherzig.

Ich hielt noch eine Weile seine Hände und redete ihm gut zu, dann erzählte er mir alles. Der Whisky war schuld. Er hatte sich Sven vor einem halben Jahr mal wieder gläserweise aufgedrängt und dann nicht davon abgehalten, in sein Auto zu steigen. Und der Whisky hatte auch nicht auf die Bremse getreten, als er in Weilheim die Kurve zu schnell nahm und schließlich in ein Sperrgitter fuhr. Ausgerechnet das Sperrgitter, das vor Svens Grundschule die Kinder davon abhalten sollte, auf die Straße zu laufen, während sie auf den Schulbus warteten. Und er wurde dabei beobachtet und fotografiert, wie er ausstieg, um die Unfallstelle herumwankte und schließlich einfach weiterfuhr.

»Wäre Gunnar doch nur zur Polizei gegangen.« Jetzt heulte er wie ein Schlosshund. »Dann hätte ich es hinter mir!«

»Aber Sven, was ist denn schlimm daran, wenn dich der einzige Zeuge nicht verpfeift?«

Ganz einfach: Sven wurde von Gunnar erpresst. Da er sein Beamtengehalt gern in Whisky und seine Band investierte, war bei ihm nicht viel zu holen. Also hatte Sven ein paar Sammler-Gitarren verkauft und, als das nicht reichte, seine Kumpels angehauen, damit sie ihm Geld liehen. Nur Jochen war so blöd gewesen, ihm welches zu geben.

»Und er will immer noch mehr, weil er selbst Spielschulden hat. Aber ich habe nichts mehr und der Jochen auch nicht. Und der Gunnar verdient mit seinem Geschäft genug. Er will nur nicht, dass seine Frau davon erfährt, weil ihr der Laden und das Haus gehören.«

Da erst fiel bei mir der Groschen. »Meinst du Gunnar Hartman von Deko- und Geschenke-Hartmann?«, fragte ich mit gesenkter Stimme. Der Barkeeper schaute immer mal wieder in unsere Richtung, vermutlich weil wir die letzten Gäste waren und er sich fragte, wann das besoffene Wrack neben mir endlich bezahlte und er Feierabend machen konnte.

Sven nickte und wischte sich ein paar Tränen von der Wange.

»Gunnar Hartmann erpresst dich und hat nun Jochens Geld?«

Sven nickte schwerfällig. »Und er will noch mal Fünftausend bis zum Wochenende. Was soll ich nur machen, Katrin? Hast du vielleicht Geld? Ich zahl’s dir zurück, ganz bestimmt!«

Ja, klar! Aber eher eröffnen sie pünktlich den BER, als dass ich einem Typen Geld gebe. »Lass uns gleich darüber reden«, meinte ich und tätschelte seine Hand. Nach den ganzen Drinks musste ich dringend aufs Klo und würde danach elegant verschwinden. Jochen würde von Sven das Geld nicht wiederbekommen. Heute Abend nicht und vermutlich auch nicht im nächsten Jahr. Meine nächste Station war Gunnar!

Von der Toilette aus hielt ich geradewegs auf den Ausgang zu und musste nur noch an der Bar vorbei.

»Schönen Abend gehabt?«, fragte der Barkeeper. »Ich habe mir erlaubt, schon mal die Rechnung auszudrucken.«

»Die zahlt …« Ein kurzer Blick in Svens Richtung offenbarte bloß zwei leere Ledersessel. Dafür hatte mich der bullige Türsteher voll im Blick. Zähneknirschend zückte ich meine Kreditkarte. Der mitleidige Blick des Barkeepers sagte mir, dass ich nicht die erste Frau war, die am Ende eines enttäuschenden Abends auch noch Svens Whisky berappen musste.

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