Schwabens Abgründe

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Maribel Añibarro

Assassine


Stuttgart

Ich wurde dazu erzogen zu morden. So wie andere Eltern ihren Kindern beibringen, mit Messer und Gabel zu essen, erhielt ich meine Lektionen, wie ein Messer in meiner Hand den Lebensfaden der Zielperson lautlos und rasch durchtrennt. Und wie eine Glock zerlegt, gesäubert, zusammengesetzt und präzise abgefeuert wird. So wie andere Kinder in die Tanzschule geschickt werden, machte man mich mit allen Kampftechniken vertraut, die darauf ausgerichtet sind, größtmögliche Schäden am Körper meines Gegenübers zu verursachen – bestmöglich mit letalen Folgen. So wie andere Eltern ihre Kinder ermutigen, Freundschaften zu schließen, tätowierte meine Mutter mir in den rechten Oberarm: Nur die Familie zählt. So wie andere Kinder unterstützt werden, einen Schulabschluss zu machen, bestimmte der Patron, dass ich keinen brauchen werde.

Ich gehöre zur Familie der Assassinen, mit dem Hauptsitz in einer Villa auf dem Stuttgarter Killesberg. Dafür brauche ich nur eine Ausbildung – und die soll heute zum Abschluss gebracht werden.

Es ist so weit. Sie rufen nach mir. »Bellona«, rufen sie – die Göttin des Krieges.

Ich trete vor den Spiegel, richte meine blonde Pagenschnitt-Perücke und das dunkelblaue Kostüm und sehe mich das letzte Mal in meinem Zimmer um. Ein flüchtiger Kontrollgriff an die rechte Blazertasche, die durch ihren voluminösen Schnitt verbirgt, dass sich etwas darin befindet, gibt mir mehr Sicherheit als all die Jahre meines Drills. Es ist das Erbe meines Großvaters. Das Einzige, was ich je von ihm gewollt habe.

Mein Bewacher vor der Zimmertür tritt zur Seite, als ich diese öffne. Sie trauen mir nicht, bevor sie nicht etwas in der Hand haben, das mich für immer an die Familie bindet. Deshalb werden sie heute alles auf Video aufnehmen. Ein zur Initiation gehörendes Ritual, so sagen sie. Aber ich weiß, was wirklich dahintersteckt. Sollte mir trotz aller Maßnahmen, die sie über die Jahre hinweg ergriffen haben, doch der Defekt anhaften, werden sie das Video nicht der Polizei zuspielen. Nein, es wird ganz altmodisch im Briefkasten des Vaters landen, der ab heute den Rest seines Lebens um seinen Sohn – meine Zielperson – trauern soll.

Der Defekt. Ich war sieben Jahre alt, als mein Cousin Viktor den Auftrag erhielt, meinen älteren Bruder zu exekutieren. Denn mein Bruder hatte diesen Defekt – er hatte ein Gewissen, und er wollte aussteigen.

»Lektion Nummer eins«, haben sie zu mir gesagt.

An diesem Tag habe ich die Verbindung meiner Gedanken zu meiner Mimik gekappt. Meine wahren, verräterischen, für mich lebensgefährlichen Gedanken befinden sich seitdem in den Tiefen meines Daseins, niedergedrückt von der Gewissheit, dass das Bestreben, aussteigen zu wollen, dort endet, wo sich mein Bruder befindet. Aber meine Gedanken existieren, sie sind lebendig und gierig, an die Oberfläche vorzudringen, um sich zu zeigen.

Ich gehe die Treppe zur Halle im Erdgeschoss hinunter und weiß, dass es nach heute kein Zurück mehr geben wird.

Dort steht sie, die Familie. Mein Vater erwartet mich an der untersten Treppenstufe. Seine Gesichtszüge lassen keinen Zweifel daran, was er von mir erwartet. Mach mir und deiner Familie Ehre, wage es nicht, mich zu enttäuschen, erweise dich würdig. Er küsst mich auf die linke, dann auf die rechte Wange und reicht mich weiter. Erst meine Onkel, dann meine Cousins und zum Schluss meine Mutter. Sie drückt mich an sich und sagt: »Ich bin so stolz auf dich.«

Wie kann sie nur.

Mein Cousin Viktor tritt vor. »Hier, nimm, das wirst du brauchen.« Er drückt mir eine Mappe mit Unterlagen und eine Visitenkarte in die Hand.

Luxusimmobilien für gehobene Ansprüche, lese ich darauf. Tamara Gerling, mein Projekt-Name.

»Und das«, fährt Viktor fort. »Ein Messer ist die beste Waffe für das erste Mal. Sieh ihm dabei in die Augen. Es wird dir gefallen, was du zu sehen bekommst.«

Ich imitiere sein Lächeln, das muss reichen. Alle wissen es: Mit dem Stoß der Klinge in das Herz meiner Zielperson sickert deren Blut aus den Herzkammern unbrauchbar in den Körper und meine ebenso unbrauchbare Unschuld aus mir heraus. Gleichzeitig wird das unwiderrufliche Band geknüpft, das mich zu einer Assassine macht.

Ich stecke das Messer in die mit Carbonfaser verstärkte Innentasche meines Blazers und halte meine Hand in Richtung meines Onkels fordernd auf. Er betreibt eine Autovermietungsfirma und ist für den Fuhrpark der Familie zuständig. »Schlüssel«, sage ich nur.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass meinem Vater mein fordernder Ton gefällt. Er nickt meinem Onkel zu. Aber ich sehe noch etwas anderes, während mir der Autoschlüssel in die Hand gedrückt wird. Mein Vater gibt meinem Cousin ein Zeichen. Es ist das charakteristische Nicken, das nur dem Patron zusteht, das dem Empfänger erlaubt, bis zum Äußersten zu gehen.

Endlich bin ich allein. Es ist eine trügerische Kontrolle über mein Leben, denn natürlich folgen sie mir in sicherem Abstand, während ich in einem Mini quer durch Stuttgart fahre. Ich lasse mir Zeit, dabei ist es geradezu verlockend, jetzt schon auszubrechen, Gas zu geben, sie abzuhängen. Aber wozu? Allein, ohne Hilfe kann niemand entkommen. Sie würden mich im Nu finden, denn sie haben alle wichtigen Behörden infiltriert. Die Polizei, Sozialämter, Zulassungsstellen, Jobcenter, sogar in einem Frauenhaus haben sie sich eingenistet. Überall. Der Kern der Familie wird zu Assassinen ausgebildet, die Peripherie umgibt uns wie ein Nebel, um uns zu verbergen, zu schützen und uns mit lukrativen Aufträgen zu versorgen.

Ich parke auf dem mit Kies belegten Vorplatz der Villa an der Weinsteige, in der ich meine Zielperson treffen werde, und zwinge mich, keinen Blick auf den kleinen Geräteschuppen am Rand des Grundstücks zu werfen. Ich schätze, drei Assassinen werden darin dicht gedrängt sitzen und mit ihren Blicken an den Bildschirmen der mobilen Überwachungsstation hängen, um über meine Schritte innerhalb der Villa zu wachen, denn in fast jedem Zimmer haben sie Videokameras installiert.

Als ich die Haustür öffne, schlägt mir die Vergangenheit von einhundert Jahren entgegen. Ich nehme eine vordergründige Mischung aus Gerüchen wahr: Parfüm, Schweiß, Feuchtigkeit und Moder, aber auch die Süße und die Lebendigkeit von Holz. Ich stelle mich in die Mitte der Halle, schließe meine Augen und überlasse meinen Sinnen die Gewalt über meine Instinkte. Sie ertasten jede Oberfläche, erspüren jede noch so kleine Vibration, sie folgen dem fluchtartigen Krabbeln einer Spinne und melden mir jede Art von Anwesenheit. Von dem Schatten hinter dem milchigen Fensterglas in der Küchentür weiß ich, bevor ich meine Augen öffne, bevor der feine Duftfaden eines Aftershaves meine Rezeptoren erreicht.

Erst einmal mache ich Krach, öffne eine Tür nach der anderen, um das Licht der benachbarten Zimmer in die Halle strömen zu lassen. Zuletzt ist die Küche dran. Ich stoße die Tür auf, greife gleichzeitig mit meiner Rechten nach dem Messer in der Blazertasche und drücke die Klinge dem Mann hinter der Tür gerade so fest an die Kehle, dass noch kein Blut fließt, aber jede Bewegung seinerseits zu einer gravierenden Verletzung führen wird.

»Verdammt, was machst du hier?«, fauche ich Viktor an, das Messer noch immer an seine Kehle gedrückt. »Das war so nicht abgemacht.«

»Nimm das Messer runter«, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht.

Aber mich kann er nicht täuschen. Für einen winzigen Moment habe ich die Angst in seinen Augen gesehen. Er hatte also nicht damit gerechnet, dass ich ihn packen könnte. Ich würde mal sagen: fatale Fehleinschätzung.

Langsam lasse ich das Messer sinken, kann mir aber nicht verkneifen, ihm einen wütenden Stoß mit der unbewaffneten Hand zu versetzen. »Ich sollte doch allein in der Villa sein.«

»Planänderung, sie haben …«

Ein schrilles Klingeln übertönt seine Worte. Ich wende mich um. An der Wand hinter mir schlägt ein altmodischer Klöppel rasend schnell und ausdauernd an eine Glocke. Meine Zielperson steht also schon vor der Haustür und verlangt Eintritt. Ich will Viktor noch fragen, was das zu bedeuten hat, aber der ist schon am anderen Ende der Küche, um sich zu verstecken. Egal, für mich steht fest, dass ich von meinem Plan nicht abweichen werde.

Auf dem Weg zur Haustür halbiere ich meine Schrittlänge. Ich gebe meinem Gang ein unsicheres Trippeln mit auf den Weg und dehne meine Mundwinkel zu einem geschäftstüchtigen Lächeln, als ich die Tür öffne.

Zwei Männer statt nur einem. Keiner davon ist meine Zielperson. Planänderung, klingt es in meinem Geist nach. Ich spüre, wie das Gaspedal an meinem Herzen durchgedrückt wird. Es hämmert fragend an meinen Brustkorb. Was ist hier los? Doch die eintrainierte Härte lässt nicht zu, dass auch nur ein Funken meines inneren Aufruhrs den Weg aus meinem Körper findet. Test, sage ich mir. Es ist ein Test. Es gehört zur Prüfung.

»Oh, hallo«, sage ich und ziehe umständlich die Makler-Unterlagen aus meiner Tasche heraus. »Ich … Ach, entschuldigen Sie … Ich bin für meine Kollegin eingesprungen. Könnten Sie mir gerade … also mir nochmals Ihren Namen sagen?« Eigentlich undenkbar bei einer Kundenklientel, das sich für ein Millionenobjekt interessiert, aber ich lege die Hilflosigkeit eines neugeborenen Rehs in mein Lächeln und ernte ein gönnerhaftes Schmunzeln des Anzugträgers.

 

Immerhin, denn der andere Typ mit Glatze, schwarzer Lederjacke und gefülltem Schulterhalfter darunter verzieht keine Miene, verlagert sein Gewicht jedoch demonstrativ auf seine weit gegrätschten Beine. Kurz male ich mir aus, wie ein Tritt gegen seine Knieschiebe diese in Knochensplitter zerhackt und wie ich seiner Visage eine OP mit meinem Messer verpasse.

Der Anzugträger reicht mir seine Hand und nennt mir seinen Namen: »Konrad von Stahl.«

Schwach klingelt etwas in meinen Hirnwindungen, ohne dass die Erkenntnis zu mir durchdringt, wer der Mann ist. Er drängt sich an mir vorbei ins Innere der Villa, während ich mich mit Tamara Gerling vorstelle. Ich nutze die Zeit, um das Chaos in meinem Hirn am Schopf zu packen, es nach Themen geordnet in Schubladen zu sortieren und das dringendste Problem auf einem Präsentierteller zu beleuchten: Ich bin der Familie bei Weitem nicht so wichtig, wie ich gedacht hatte. Sie stellen mich auf eine härtere Probe als üblich. Warum? Die Antwort schmeckt bitter. Weil ich die einzige weibliche Assassine bin. Entweder ich komme mit den erschwerten Bedingungen klar oder sie sind bereit, mich zu opfern.

Ich lasse auch den mit Steroiden vollgepumpten Bodyguard an mir vorbei und registriere, dass er mich als ungefährlich eingestuft hat, denn er wendet mir seinen verwundbaren Rücken zu. Ein Fehler, den ich nie machen würde.

Ich baue seinen Eindruck von mir aus und schalte von meinem verlegenen Lächeln um auf Bewunderung, und prompt gehen mir meine neuen Zielpersonen ins Hormon-Netz. Sie schauen mir auf das Dekolleté, übersehen, dass ich die Haustür nur angelehnt lasse, und folgen mir, als ich sie in das erste Zimmer führe.

Ich spule meinen auswendig gelernten Makler-Text runter. Erbaut im Jahr, Architekt war, gewohnt hat hier bereits, die Nachbarschaft, Original-Parkett, Deckenhöhe, Sanierung, und, und, und. Im Salon angekommen lasse ich die beiden auf die Terrasse treten. Ich bleibe im Zimmer, ziehe mein Smartphone aus der Tasche und gebe den Namen des Anzugträgers in die Suchmaschine ein. Die Erkenntnis, wie hoch der Patron den Preis meines ersten Mordes geschraubt hat, raubt mir kurz den Atem. Der Anzugträger ist ein hohes Tier bei der Polizei.

Vor der Küchentür angekommen, lasse ich meine rechte Hand unauffällig über die aufgesetzte Blazertasche gleiten. Das Erbe meines Großvaters ist noch an Ort und Stelle. Es ist an der Zeit, den letzten Akt einzuläuten.

Ich sehe dem Anzugträger tief in die Augen, ertappt erröte ich, weiß nicht, wohin ich schauen soll, lande mit meinem Blick auf dem Brustkasten des Bodyguards und lege auch ihn mit einem letzten verschämten Blick in seine Augen an die straffe Leine. Ich lasse meine Hand leicht zittern, als ich die Türklinke niederdrücke, und weiß um die Sicherheit, in der sich die beiden nun wiegen.

In der Mitte der Küche angekommen, gleitet mir die Mappe mit den Immobilienunterlagen aus der Hand. »Hoppla!« Die einzelnen Seiten flattern zu Boden, ich gebe einen hilflosen Laut von mir und fasse mir an den Hals. Artig bücken die beiden sich zu meinen Füßen und sammeln die Blätter ein.

Der mir dargebotene Rücken des Bodyguards lädt mich geradezu ein, mein Messer tief darin zu versenken, doch die Halsschlagader des Anzugträgers ist mir strategisch näher. Ich nehme die Spritze mit Großvaters Erbe aus der Blazertasche und beuge mich von hinten über ihn. Wahrscheinlich denkt er, ich will die von ihm aufgelesenen Papiere in Empfang nehmen. Seinen Denkfehler kann er nicht mehr realisieren, denn die Wirkung des intravenös injizierten 2,6-Diisopropylphenols lässt ihn auf der Stelle erschlaffen und zur Seite kippen.

Das ruft Lederjacke auf den Plan. Noch hält er die aufgesammelten Papiere in der Hand. Mit offenem Mund scheint er in seiner Erstarrung meine Gefährlichkeit auf einer Skala von eins bis zehn einstufen zu wollen. Ich gebe ihm keine Gelegenheit, zu dem Schluss zu kommen, dass meine Fertigkeiten außerhalb der Skala liegen. Ich täusche mit meiner Linken einen Schlag an, und seine Augen schauen meiner Hand nach wie ein Kind einem Schmetterling, während seine beiden Füße so fest am Boden verankert sind, als würde er in einem Sumpfloch stehen. Die Wucht meines Tritts gegen sein Knie verändert die evolutionär ausgeklügelte Anatomie seines Kniegelenks beträchtlich. Er schreit gegen den Schmerz an, hält sich aber immerhin auf seinem noch gesunden Bein aufrecht. Erst jetzt scheint er sich seiner Waffe zu besinnen. Er greift unter seine Jacke. Zu spät. Die Kante meiner rechten Hand trifft seine Nase, die bricht wie ein Bleistift in den Händen eines Cholerikers. Lederjacke knallt wie ein Bügelbrett auf den Boden und bleibt dort reglos liegen.

»Sauber«, sagt Viktor, klatscht Beifall und kommt aus seinem Versteck. Er prüft den Puls des Anzugträgers. »Alles klar, der hier lebt noch, und Pistolenmann wird bei jedem seiner Schritte an dich denken – aber auch er wird es überleben.«

Ich lächle Viktor an. Den einzigen Zeugen meines Verrates an der Familie, die aus mir eine Mörderin machen wollte. Noch wissen sie nicht, dass meine Zielpersonen leben, denn hier, in der Küche, befinden sich keine Videokameras, dafür hatte Viktor gesorgt.

Plötzlich dringt ein ohrenbetäubender Knall von der Haustür aus zu uns. Einige Sekunden später stehen fünf vermummte Männer vor uns, gekleidet wie eine SEK-Einheit. Die Waffen auf uns gerichtet, umzingeln sie uns.

»Hände hoch und mitkommen!«, schreit der Anführer und treibt uns aus der Küche in die Halle.

Ich hebe meine Hände, folge der Aufforderung und überlege, was wohl die Assassinen im Schuppen machen werden. Kaum stehen wir in der Halle, fallen zwei Schüsse. Ich sehe Viktor vornüberkippen, fühle die klebrige rote Flüssigkeit, die sich auf meiner Bluse verteilt, und lasse mich fallen.

Auf dem Boden liegend, beobachtet von den vermummten Männern, die ihre Gewehrläufe noch immer auf uns richten, höre ich das Martinshorn, das immer lauter wird, je näher es der Villa kommt. Dann herrscht kurz Stille, es folgen schnelle Schritte, hektisch werden Viktor und ich auf Tragen gehievt, zugedeckt, angeschnallt und begleitet von den Befehlen der vermummten Männer aus der Villa getragen, vorbei am Schuppen – in dem sich nichts regt –, und in den Fond eines Krankenwagens geschoben.

Die vermummten Männer quetschen sich zwischen die Tragen und geben dem Fahrer das Zeichen, Gas zu geben. Das Tempo muss halsbrecherisch sein, so sehr werden wir hin und her gerüttelt.

Dann fängt Viktor an zu lachen, lauthals zu lachen. Ich stimme ein, löse mit meinen – vom Theaterblut klebrigen – Händen den Gurt der Trage und richte mich auf.

»Bellona, dein Plan war perfekt«, sagt Viktor, noch immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Bis die darauf kommen, was wirklich gelaufen ist, sind wir über alle Berge.«

Ich sehe mir die vermummten Männer genauer an. Ich war doch noch ein Kind, als ich ihn das letzte Mal sah, sodass ich nicht weiß, unter welcher der Masken er sich verbirgt. Dann zieht der Mann, der mir am nächsten ist, seine Maske vom Kopf. Ich falle ihm in die Arme. Meinem Bruder.

Julia Bernard

Ammenmärchen


Auf dem Seitenstreifen der A 8, kurz vor der Drachenlochbrücke

Dass jeder eines Tages für seine Übeltaten zur Rechenschaft gezogen werde, war ein Ammenmärchen. Das war das Erste, was er seinen Mandanten erklärte. Noch bevor er ihnen von dem dehnbaren Gummiband erzählte, das zwischen Recht und Unrecht gespannt war und das er für sie zur Seite biegen konnte, sobald sie seine Honorarvereinbarung unterschrieben hatten. Und er war jeden Cent wert. Nicht umsonst nannten seine Anwaltskollegen ihn Magic Ted.

Teds linke Hand, mit der er seine Aktentasche umklammerte, öffnete sich etwas. Auch er würde nicht in den Knast wandern, natürlich nicht. Gesetze, Gefängnis, das war etwas für Minderbemittelte. Er hatte alles unter Kontrolle. Die letzten Unterlagen, die ihn in Verbindung mit dem unerklärlichen Verschwinden von zwei Millionen Euro aus dem Aktienfond der Kanzlei und dem Unfalltod des Seniorpartners beim Bergwandern brachten, waren sicher in seiner Tasche verwahrt, da er von einem seiner Kontakte bei der Polizei rechtzeitig von der heutigen Kanzleidurchsuchung erfahren hatte. Sobald er zu Hause war, würde er die Papiere im Kamin verbrennen, und dann aus die Maus für den fetten Staatsanwalt, der bei der Befragung gekeucht hatte wie ein Mops beim Treppensteigen. Eine Kleinigkeit wie diese Autopanne mit seiner jungen Chefin Susanne brachte einen Magic Ted nicht aus der Ruhe. Der Abschleppwagen, auf den sie seit zwanzig Minuten warteten, musste gleich hier sein. Alles würde gut werden, morgen um diese Zeit saß er bereits im Flieger in die Südseeoase ohne Auslieferungsabkommen mit Deutschland. Er hätte fast gelächelt, aber im letzten Moment fiel ihm ein, dass ihn der Unfalltod seines Chefs und Mentors Moritz offiziell sehr mitgenommen hatte und es daher unklug war zu lächeln. Ganz besonders bei Susanne im Auto, die seit drei Wochen Schwarz trug und die tägliche Trauer-Schweigeminute ins Leben gerufen hatte. Moritz’ Chefstelle hatte sie allerdings, ohne mit der Wimper zu zucken, übernommen, aber das änderte natürlich nichts an ihrem Betroffenheits-Getue. Den trauernden Tonfall hatte sie nicht mal abgestellt, als sie vorhin mit dem Pannendienst gesprochen hatte.

»Mein Auto hat mich noch nie im Stich gelassen«, sagte sie in diesem Moment mit ihrer leidenden Kleinmädchenstimme. »Das ist mir so unangenehm.«

»Kein Problem«, knurrte er. Seine Nachlässigkeit, dass er nicht darauf bestanden hatte, mit seinem Maserati zu diesem auswärtigen Termin zu fahren, wenn sie schon wegen des Briefings zusammen fahren mussten. Dass Susannes Oldtimerklapperkiste schlappmachen würde, wenn sie ein bisschen Dezemberregen abbekam, hätte er sich denken können.

»Ausgerechnet an Ihrem vorletzten Arbeitstag. Sie werden unsere Kanzlei nachher noch schlecht in Erinnerung behalten«, säuselte Susanne.

»Ich hatte eine großartige Zeit bei Liebermann & Snyder«, erwiderte er. Das war nicht mal gelogen, wenn man die Jahre mit dem cholerischen, alterssenilen Moritz als Chef und Susanne als seiner rechten Hand einmal beiseiteließ.

Susanne legte ihm für eine Sekunde die Fingerspitzen mit den langen roten Fingernägeln auf den Unterarm, wie sie es auch immer bei Moritz gemacht hatte. Nur hatte sie ihre Hände bei Moritz noch auf ganz andere Stellen gelegt. »Wir werden Sie vermissen, Magic Ted. Sie gewinnen doch immer!«

Ihre Berührung machte ihn unruhig, aber natürlich fühlte er sich geschmeichelt und konnte es sich nicht verkneifen, ein paar Anekdoten von seinen letzten vernichtenden Siegen über diverse Staatsanwälte loszuwerden. Den Satz »Meine Mandanten gehen niemals ins Gefängnis« äußerte er gleich mehrfach, so was konnte man in seiner momentanen Situation gar nicht oft genug wiederholen. Nebenbei erwähnte er, wie er seine Ex-Frau in spe Eva bei ihrem laufenden Scheidungsverfahren fertiggemacht hatte, ein juristischer Geniestreich, brillant und hart an der Grenze zur Illegalität. Ein bisschen Abschreckung schadete nicht, keine Ahnung, auf was für Ideen Susanne sonst kam, wenn sie hier noch lange mit ihm im Auto saß. Es war zu befürchten, dass er in ihr Beuteschema passte. Und sie sah nicht mal übel aus. Sie hatte einen großen, sexy Mund mit vollen Lippen. Für ein kurzes Abenteuer, bei dem sie nicht mit leidender Kleinmädchenstimme sprechen konnte, weil sie oral beschäftig wäre, würde sie vielleicht schon taugen, aber eine solche Schwäche konnte er sich im Moment nicht erlauben. Nicht auszudenken, wenn der fette Staatsanwalt anrief, und er, Ted, Unvorsichtigkeiten ins Telefon stöhnte, wo äußerste Vorsicht angezeigt wäre. Oder, noch schlimmer, wenn er während des Orgasmus in wilder Ekstase versehentlich seine Aktentasche aufriss und die Papiere herausfielen.

»Ich spüre, Sie leben für den Anwaltsberuf.« Susanne tätschelte erneut seinen Arm. »Warum hören Sie auf?«

Ted zog seinen Arm weg. Draußen prasselte der Regen auf die Scheiben. »Moritz’ tragischer Unfall hat mir mehr als deutlich vor Augen geführt, dass wir nicht ewig leben«, sagte er salbungsvoll. »Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir es jetzt tun, nicht irgendwann! Ich möchte ein einfaches Leben leben und die kleinen Dinge genießen.« Was sich mit insgesamt fast dreieinhalb Millionen auf einer Südseeinsel sicherlich gut bewerkstelligen ließ. Er lächelte nun doch, versuchte aber, dem Lächeln einen nachdenklich-melancholischen Touch zu geben. Schwierig, denn es war so ein Genuss, sich vorzustellen, was seine zukünftige Ex-Frau Eva für ein Gesicht machen würde, wenn sie erfuhr, dass er sie nicht nur bei Gericht abgezockt hatte, sondern auch noch mit dem gesamten restlichen Vermögen, sogar ihrem Geld und dem der Kinder, abgehauen war.

 

»Was haben Sie denn vor?«, fragte Susanne.

»Gärtnern«, sagte er nur.

»Wie wundervoll. Und wo?«

»In meinem Garten.«

Susannes Handy klingelte. Sie nahm ab, hörte eine Weile zu, schimpfte dann »Selbstverständlich, zur Not gehen wir bis in die höchste Instanz!«, legte auf und wandte sich wieder Ted zu. »Die durchsuchen schon wieder die Kanzlei«, sagte sie verärgert. »Die glauben, dass ich zwei Millionen Kanzleigeld beiseitegeschafft habe, nur weil ich eine winzige Briefkastenfirma auf Guernsey besitze, die ich bei der letzten Steuererklärung versehentlich vergessen hatte anzugeben. Unverschämtheit! Wahrscheinlich kommen die als Nächstes, um mir anzukreiden, ich hätte Moritz den Abhang hinuntergestoßen.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist gering«, bemerkte Ted. »Immerhin waren Sie nicht mal dabei bei unserem Firmenausflug.«

»Aber ich profitiere als Einzige von seinem Tod, Ted! Als einzige! Ich erbe die Kanzlei und seine Villen. Und ich habe kein Alibi für den Tag. Herrgott, Sie sind doch seit Jahrzehnten Strafverteidiger, Sie wissen doch, was das heißt.«

»Ich weiß, dass das gar nichts heißt«, sagte er jovial. Und der guten Ordnung halber fügte er hinzu: »Schade, dass ich meine Anwaltszulassung abgebe, sonst hätte ich Sie da raushauen können.«

Dass Moritz sogar sein Testament geändert und diese Tussi eingesetzt hatte, war ja grauenhaft. Aber wunderbar, dass sie nun verdächtigt wurde, das verschaffte ihm noch mehr Zeit. Eine Weile schwiegen sie. Mit einem leisen Klicken verabschiedete sich die Beleuchtung des Oldtimers, das Licht im Inneren wurde dämmrig-düster. Der Dezemberregen peitschte auf die Windschutzscheibe, das Prasseln nervte Ted.

Susanne versuchte immer wieder, ihr Auto anzulassen. Ständig drehte sie am Autoschlüssel. Dann hielt sie kurz inne. »Ich … Sie waren doch dabei bei dem Firmenausflug vor drei Wochen. Als Moritz … Als die Sache mit Moritz …« Sie schien den Tränen nahe. »Was ist eigentlich genau passiert? Dort am Berg, meine ich?«

Ihre Stimme klang so merkwürdig, dass Ted für eine Sekunde alarmiert war. Aber ein weiterer Blick zu seiner Chefin, die zum bestimmt dreißigsten Mal vergeblich versuchte, ihr Auto zu starten, wobei nach dem ersten Mal schon klar gewesen war, dass hier Hopfen und Malz verloren waren, zerstreute seine Bedenken. Von der ging mit Sicherheit keine Gefahr aus. Die bemerkte eine kriminelle Handlung wahrscheinlich erst dann, wenn jemand direkt vor ihren Augen erschossen wurde. Abgesehen davon hätte sie ihn kaum im Auto mitgenommen, wenn sie einen Verdacht gehabt hätte.

»Ich …«, fuhr Susanne fort, »ich weiß, Sie wollen eigentlich nicht darüber sprechen, weil es Ihnen verständlicherweise zu Herzen geht, aber …« Eine Träne rann nun ihre Wange hinunter. »Ich habe Moritz geliebt, ich muss es wissen. Ob er gelitten hat. Sie waren doch ganz in der Nähe, Ted. Haben … haben Sie ihn abstürzen sehen?«

Ted sah in den Fußraum. Auf die Aktentasche. Erneut legte Susanne ihm ihre Hand mit den roten Fingernägeln auf den Arm. »Bitte«, flehte sie. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist? Und falls die Staatsanwaltschaft mich wirklich beschuldigen sollte, etwas mit Moritz’ Tod zu tun zu haben … Können Sie denen sagen, dass die sich irren? Bitte, Ted.«

Daher wehte also der Wind. Es hätte ihn auch gewundert, wenn Susannes Liebe zu dem über vierzig Jahre älteren Moritz echt gewesen wäre. Er nickte ernst.

»Moritz’ Tod war eindeutig ein Unfall. Ich habe es gesehen«, sagte er und sah Susanne direkt in die Augen. »Eine Tragödie.« Es gelang ihm, eine Träne zu verdrücken. Was schwierig war, denn es war so ein herrliches Gefühl gewesen, dort auf dem schmalen Pfad an der Felswand endlich nicht mehr zu buckeln, sondern Moritz mit einem harten Stoß in die ewigen Jagdgründe zu verabschieden. »Ein Fehltritt von Moritz auf dem nassen Untergrund … Er hat das Gleichgewicht verloren … Ich habe noch versucht, zu ihm vorzudringen, ihn zu retten, aber es war bereits zu spät, ich war zu weit weg.« Ted rieb sich mit einer theatralischen Geste über die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. »Ich habe immer dieses Bild vor Augen, dieses Entsetzen in seinem Gesicht, als er den Halt verloren hat.« Er räusperte sich, legte nun seinerseits die Hand für einen Moment auf Susannes Arm. »Aber es ging schnell, Moritz hat nicht gelitten. Ein kurzer Flug, ein platschendes Geräusch …«

Susanne stöhnte auf.

»Er hatte noch so viel vor, trotz seines stattlichen Alters.« Ted senkte den Kopf. »Ein wundervoller Mensch, ein herausragender Anwalt.«

Ohne die Tricks, die ihm der alte Arsch seinerzeit beigebracht hatte, hätte er nie im Leben so viel Geld unbemerkt beiseiteschaffen können, dachte er gehässig. Und wahrscheinlich hätte er seinen ersten Mord auch nicht durchgezogen. Sein damaliger Vermieter, eine uralte Geschichte, die ihm heute noch peinlich war, unüberlegt, schlecht geplant, riskant. Ein Wunder, dass er nicht im Knast gelandet war. So was würde ihm heute nicht mehr passieren, er hatte gelernt, seine Gefühle zu beherrschen, er hatte nicht mal Eva umgelegt, und da war er die letzten Monate seiner Ehe ganz dicht davor gewesen. Und Susanne auch nicht, obwohl sie ihm vor vier Jahren, mit achtundzwanzig, die Leitung der Strafrechtsabteilung weggeschnappt hatte und trotz ihrer hübschen Fassade nervig war wie die Pest. Er war ja kein verrückter Serienmörder. Er löste nur gelegentlich Probleme, die sich anders nicht lösen ließen. Und Moritz war selbst schuld. Hätte er mal seine Nase nicht in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, dann wäre er jetzt noch am Leben. Aber Moritz musste ja die falschen Fragen stellen. Abgesehen davon hatte er Ted die saftige Gehaltserhöhung und die Partnerstelle verweigert, die ihm zugestanden hätten. Sich das Geld, das ihm gebührte, selbst zu verschaffen und Moritz zu beseitigen, war der einzige Ausweg gewesen.

Ted bewegte seine kalten Füße, immer darauf bedacht, ja nicht an die Aktentasche zu stoßen. Der Regen prasselte unvermindert auf die Scheibe. Er holte sein Handy aus seiner Jackentasche, steckte es jedoch wieder zurück, ohne seine WhatsApp-Nachrichten abzufragen. Langsam verspannten sich seine Schultern. Wie lange konnte so ein verdammter Abschleppwagen brauchen?

»Irgendwas ist mit der Standheizung nicht in Ordnung«, murmelte Susanne in die Stille. Ihre großen Augen sahen aus wie die eines verletzten Rehs. »Es ist wirklich sehr frisch hier drin.«

Er wusste nicht genau, ob es der Urinstinkt des Beschützers oder einfach ein Moment geistiger Umnachtung war, aber er bot Susanne seinen Mantel an. Sie zog ihn über ihre Jacke, und er blieb in Jackett und Armanihemd zurück. Kurze Zeit später fing er an zu bibbern. Der dreibeinige Edelstahlbrotkorb, den ihm seine Sekretärin zum Abschied geschenkt hatte und der ihm als Vorwand für seinen etwas überstürzten Aufbruch kurz vor der Kanzleidurchsuchung gedient hatte, eine der kreativsten Problemlösungs-Ideen seines Lebens im Übrigen, lag neben der Tasche im Fußraum und fror wie die stachelige Eisskulptur eines außerirdischen Virus fast an seinem Knöchel fest. Wenn der Abschleppdienst nicht bald kam, war es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis der Schnitter an die Scheiben des Oldtimers klopfte. Normalität vorspielen war das eine, aber warum hatte er sich aufführen müssen wie ein Heiliger? Er war ja besser als Sankt Martin! Der hatte nur den halben Mantel abgegeben. Was gar nicht so blöd gewesen war. Aber jetzt den Fehler zu beheben und mit dem Metalleiskratzer einen Teil des Mantels abzuschneiden, war definitiv keine so gute Idee. Außerdem würde die kleinste Bewegung dazu führen, dass sich seine mittlerweile ziemlich volle Blase in Susannes Fußraum ergoss. Wo blieb der verdammte Abschleppdienst?