Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Literatur

Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung, Gütersloh 161997.

11 „Er trat hinzu, verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf./Er setzte ihn auf sein Reittier, brachte ihn zum Wirtshaus und versorgte ihn./Er zog zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sprach(Lk 10,34.35a).

Hadwig Müller
Religion und Erfahrungen der Empörung

Die Zusammenarbeit mit Norbert Mette für den Kongress der Pastoraltheologen im Herbst 2009 zum Thema „Christlicher Glaube in religionspluraler Gesellschaft“ (Mette 2010) war die bisher letzte Etappe eines langjährigen Weges12, auf dem sich mir das dialogische Arbeiten immer wieder bestätigte, das mir an Norbert Mette vertraut ist und ihn als Theologen auszeichnet. Wir trafen uns in Münster, und bei unserer Wanderung um den Aa-See fragte er – für die gemeinsam zu gebende Einführung in den Kongress – nach meinem Zugang zum Verständnis von Religionspluralität. Dann erzählte er von seinem Einsatz für eine Theologie, die nicht nur eine Option für die Armen und Benachteiligten einfordert, sondern sich auch in der eigenen Arbeit davon leiten lässt.

Hören auf Ideen und Initiativen anderer, theologisches Forschen, das zur Zusammenarbeit einlädt, Theologie, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, Diskussion theologischer Theorien im Dienst der Praxis, wissenschaftliche Reflexion des Glaubens im Interesse daran, wie er an der Basis gelebt wird – das sind einige der Facetten der Kohärenz, die mich an Norbert Mette beeindruckt. Sie hat mich hier zu dem Versuch angeregt, diese zwei Seiten zusammen zu bringen: Religion und Erfahrungen der Empörung. Ausgehen werde ich von Gedanken, die ich dazu bei Edward Schillebeeckx entdeckt habe. Dann möchte ich auf Erfahrungen mit dem Zusammenhang von Religion und Erfahrungen der Empörung eingehen, die im nördlichen und südlichen Teil unserer Welt einen radikal entgegengesetzten Ausdruck finden. Im Anschluss an Luiz Carlos Susin werde ich am Ende zu formulieren versuchen, was sich daraus für theologisches Arbeiten ergibt.

Das Nein der Empörung und sein Geheimnis

Sein Buch „Menschen. Die Geschichte von Gott“ (deutsch 1990, Titel der Originalausgabe 1989: „Mensen als verhaal van God“) beginnt Edward Schillebeeckx mit einem Abschnitt, den er überschreibt: „Radikale Kontrasterfahrungen in unserer menschlichen Geschichte“.

„Sie bilden eine menschliche Grunderfahrung, die ich als solche für ein vor-religiöses und somit allen Menschen zugängliches Grunderlebnis halte, nämlich das Veto, das der Mensch gegen die Welt, wie diese ist, erfährt. […] Was wir als Wirklichkeit erfahren, was wir auch täglich von dieser Wirklichkeit zu sehen und zu hören bekommen, ist offensichtlich nicht ‚in Ordnung’; es ist etwas grundlegend falsch. Diese Wirklichkeit steckt voller Widersprüche. Deshalb ist die menschliche Erfahrung von Leiden und Übel, von Unterdrückung und Unglück Basis und Ursprung eines grundlegenden Neins, das Menschen über die Tatsache ihres In-der-Welt-Seins aussprechen. Diese Erfahrung ist auch gewisser, evidenter als alles, was Philosophie und Wissenschaften uns an verifizierbarem oder falsifizierbarem ‚Wissen’ darbieten können. Empörung (nicht einmal ein wissenschaftlicher Terminus) scheint eine Grunderfahrung unseres Lebens in der Welt zu sein.“ (Schillebeeckx 1990, 27)

Das grundlegende Nein, das die Begegnung mit Leiden und Unglück, mit Elend und Gewalt und den unsäglichen Verletzungen, die Menschen einander antun, in denen heraufbeschwört, die sich dieser Begegnung aussetzen, bleibt nicht unwidersprochen. Neben Ereignissen und Taten, die von menschenverachtender Grausamkeit, von Leiden, Machtmissbrauch und Terror sprechen, gibt es Fragmente des Guten, gibt es immer wieder ein Aufleuchten von Schönheit und Sinn. „Es scheint sogar unter Unterdrückten mehr Freude und Gesang zu geben als bei Unterdrückern.“ (Schillebeeckx 1990, 27) Sofern diese Widersprüchlichkeit der Empörung ihr Recht zu nehmen scheint und statt dessen eher Grund gibt zu einer zynischen oder auch nur ratlosen Relativierung und Gleichgültigkeit gegenüber Dunkelheit und Licht im menschlichen Leben, wird sie selber zum Gegenstand jenes grundlegenden Nein der Empörung: „Trotz all seines Elends ist der Mensch zu stolz, um das Böse als gleichberechtigt mit dem Guten anzusehen“ (Schillebeeckx 1990, 28).

Dennoch kann dieses rätselhafte Miteinander von Licht und Dunkelheit, von Demütigung und Größe, Zerstörung und Hingabe, Entstellung und Schönheit, von Hass und Vergebung dem Nein der Empörung seine Kraft nehmen, und zwar besonders deshalb, weil es immer wieder unmöglich ist, klare Unterscheidungen vorzunehmen, die aus dem Bösen das Gute herauswaschen würden wie Goldstaub aus dem Sand. Denn beides wurzelt offensichtlich in denselben Menschen. Angesichts der Unauflöslichkeit der Widersprüche ist die Versuchung allgegenwärtig, jegliche Betroffenheit aufzugeben, vor dem Bösen nicht mehr zu erschrecken und auch angesichts des Guten nicht mehr zu staunen und das, was nach seiner fördernden oder zerstörerischen auf das Leben „wirklich“ gut und „wirklich“ böse ist, zu verharmlosen und zu banalisieren. Hinzu kommt schließlich, dass wir nicht wissen, was den Sieg davon tragen wird. Warum sollen wir uns engagieren in einem Nein, wenn wir damit am Ende nur ganz furchtbar unterlegen sein werden? „Aus der Geschichte wissen wir nicht einmal, was in diesem Gemisch die Oberhand gewinnen wird, nicht einmal, ob, von diesem tatsächlichen Geschehen aus gesehen, ein letztes Wort zu hören sein wird.“ (Schillebeeckx 1990, 28)

Nimmt man dieses Nichtwissen, nimmt man die Versuchung zur Relativierung des Bösen und zu seiner Banalisierung, nimmt man auch nur die Ratlosigkeit angesichts des Rätsels, das der Mensch selber aufgibt, so ist klar, dass das Nein der Empörung, so spontan es sich angesichts all dessen einstellt, was Menschen und ihr Leben zerstört, eine eigene Anstrengung braucht, um sich nicht unterdrücken zu lassen. Diese Anstrengung hat einen Namen. Ethik steckt darin, aber auch von Religion kann hier gesprochen werden.

„Darin steckt Ethik, und vielleicht sogar mehr. […] Diese Weigerung des Menschen, sich mit einer solchen Situation abzufinden, bietet eine erhellende Perspektive. Sie enthüllt eine Offenheit auf eine andere Situation hin, die durchaus Anspruch auf unser Ja hat. Man kann es als einen Konsens mit ‚dem Unbekannten’ bezeichnen, dem inhaltlich nicht einmal positiv Bestimmbaren: einer besseren, einer anderen Welt, die in Wirklichkeit noch nirgends gegeben ist. Oder noch anders: mit der bloßen Feststellung der Möglichkeit, unsere Welt besser zu machen; Offenheit auf das Unbekannte und auf das Bessere hin. […]

Das grundlegende Veto des Menschen gegen das Böse erschließt deshalb ein inhaltlich nicht bestimmtes und somit ‚offenes Ja’, das genauso unumstößlich ist wie das menschliche Nein; eigentlich sogar noch stärker, weil gerade das offene Ja diesen Widerstand begründet und ermöglicht. Außerdem gibt es, gelegentlich, fragmentarische, aber wirkliche Erfahrungen von Sinn und Glück kleinen und größeren Ausmaßes, die das ‚offene Ja’ immer wieder neu nähren, bestärken und aufrechterhalten. In dieser Erfahrung finden Gläubige und Agnostiker einander. […]

Menschen, die an Gott glauben, geben dieser einen, zweiseitigen Grunderfahrung einen religiösen Inhalt. Das ‚offene Ja’ erhält dann mehr Zielrichtung und Relief. Sein Ursprung ist nicht so sehr, oder zumindest nicht direkt, die Transzendenz ‚des Göttlichen’ – die unaussprechlich und anonym ist, sich nicht in Worte fassen lässt – als vielmehr – wenigstens für Christen – das erkennbare menschliche Antlitz dieser Transzendenz, wie es unter uns im Menschen Jesus erschienen ist, den wir als Christus und Sohn Gottes bekennen. So geht für Christen das grundlegende Murren der Menschheit in eine begründete Hoffnung über. Etwas von einem Seufzer der Barmherzigkeit, des Erbarmens, steckt in den tiefsten Tiefen der Wirklichkeit, gläubige Menschen vernehmen darin den Namen Gott.“ (Schillebeeckx 1990, 28f)

Das Nein der Empörung geht also notwendigerweise zusammen mit einem Ja zur Möglichkeit einer anderen, einer besseren Welt; und es ist nicht ausgeschlossen, das Entstehen von Religion mit dieser „zweiseitigen Grunderfahrung“ zusammen zu bringen. In der „Leidenschaft für das ‚Heil-sein’ von Natur und Weltgeschichte, von Gesellschaft und Menschen untereinander“ erkennt Schillebeeckx „ein Geheimnis, das viele Menschen – unter welchem Namen auch immer – Gott nennen“ (Schillebeeckx 1990, 19).

Gottesrede und die „zweiseitige Grunderfahrung“ der Empörung

Frère Rudolf, evangelischer Pastor aus Hamburg, Bruder der Gemeinschaft von Taizé und seit mehr als 20 Jahren Mitglied der von Taizé im Nordosten Brasiliens gegründeten Kommunität, bringt in vielen seiner sporadisch zugeschickten Nachrichten das Evangelium auf überraschende Weise zusammen mit dem von Gewalt geprägten Alltag der Kinder und Jugendlichen, mit denen er regelmäßig spielt und arbeitet; oder er bringt auch Spuren aus diesem weit entfernten Alltag zusammen mit Zeugnissen aus unserer Gesellschaft hier in Deutschland. Seine Kommentare dazu sind karg, er lässt die von ihm hergestellten Verbindungen sprechen. So fanden sich in einer Nachricht vom Mai dieses Jahres praktisch nur zwei Fotos, eines aus Ostdeutschland, das andere aus dem Nordosten Brasiliens. Sie bezeugen beide ein Nein, eine verzweifelte Empörung – aber in jeweils einem Satz über Gott, der nicht gegensätzlicher sein könnte.

 

Auf beiden Fotos ist jeweils ein Haus zu sehen, eine ins Innere des Hauses führende verschlossene Tür und neben der Tür an die Wand geschrieben ein Satz in drei Worten: „God ist dead“ – Gott ist tot – wurde auf die eine Wand gesprüht; „Deus é fiel“ – Gott ist treu – steht in Kreidebuchstaben auf der anderen. Die eine Wand gehört ganz offensichtlich zu einer Kirche – einer Dorfkirche in Brandenburg, so hat der Fotograf präzisiert. Die andere Wand ist die eines baufälligen Lehmhauses im Nordosten Brasiliens. Von diesem Lehmhaus und der Situation, in der es zu dem Satz auf seiner Wand kam, wissen wir dank Frère Rudolf mehr: Er kennt die 13-jährige, die an ihre Hütte geschrieben hatte: „Gott ist treu“. Kurz zuvor war ihr Bruder ermordet worden, bis dahin hatte sie dort mit ihren Geschwistern gelebt.

Vom Autor der neben den Eingang in die kleine Kirche aufgesprühten Schrift wissen wir nichts. Aber auf dem Foto ist ein wenig mehr zu sehen: ein älterer Mann, der wohl gerade die Kirche verlassen hat, weil er mit dem Rücken zur geschlossenen Tür steht und die wenigen Stufen von dort noch nicht hinuntergestiegen ist. Die gesprühten Buchstaben sind größer als er. Es muss an dieser Nachbarschaft zwischen der Schrift und dem mit dem Gesicht dem Fotografen zugewandten Mann liegen, dass ausgerechnet dieses Foto mit seiner Absage an die Anwesenheit Gottes und damit an eine mögliche Beziehung, beim Betrachter den Eindruck hinterlässt, dass es voller Anwesenheit ist, erfüllt von einer starken Beziehung. „God is dead“ – das wirkt wie ein Schlag ins Gesicht dieses Mannes, wie ein Schrei oder auch eine Anklage, eine Herausforderung, die ihm entgegengeschleudert wird. Damit wir sie hören können, dürfen wir oberflächliche Assoziationen zur gesellschaftlichen Situation in Brandenburg zu Hilfe nehmen: Arbeitslosigkeit, entwohnte Häuser und Straßen, Jugendliche, die keine Zukunft für sich sehen. Dann hören wir, was die gesprühten Worte rufen. „Antworte, wenn du kannst! Gott ist doch tot! Wir sind die Letzten, abgeschrieben, vergessen. Gott ist eine Lüge – eure Lüge! Sag etwas dagegen! Wenn du an Gott glaubst, antworte mir doch…!“

Dagegen: „Gott ist treu“ – in bald abgewaschenen Kreidebuchstaben auf das armselige Haus im Nordosten Brasiliens geschrieben, von der Hand einer Jugendlichen, die in ihrer von Gewalt heimgesuchten, zerbrochenen Familie für sich selbst und ihre jüngeren Geschwister um ein Zuhause kämpft, in dem es möglich ist, in Sicherheit und Würde zu leben. Das Foto, das nichts weiter zeigt als dieses aufgegebene Haus ohne das geringste Zeichen von Leben, dessen Wand gerade noch als Unterlage für die Kreideschrift dient, bezeugt nichts als Leere, Abwesenheit und Verlassenheit – obwohl die Schrift eine Anwesenheit beschwört, auf die man sich verlassen kann, und eine Beziehung zusagt, die nicht aufgegeben wird, was auch immer passiert. Dieser Gegensatz arbeitet im Betrachter und hinterlässt Ratlosigkeit: Wie kann es sein, dass Gott treu ist, wenn die Situation, in der eine 13-jährige das schreibt, im schreienden Widerspruch dazu steht? Wie kann Gott treu sein, wo Willkür und Gewalt Kindern ihre Zukunft nehmen? Wer das Foto anschaut, kann den Eindruck gewinnen, als sei dieser Satz „Gott ist treu“ ein Anschrei gegen diese Fragen, ein Akt, mit dem eine Jugendliche ihre einzige Hoffnung beschwört, wie wenn diese dadurch, dass sie öffentlich gemacht wird, nicht getäuscht werden könnte.

Hier, in Deutschland, ein Nein voll von einem geheimen Ja – dort, in Brasilien, ein Ja gegen ein übermächtiges Nein. Beide Sätze sind Gottesrede: Rede über Gott, in der zugleich, ob als Absage oder Festhalten an einer Zusage, ob implizit oder explizit, eine Beziehung zu Gott und daher auch eine Rede zu Gott vorausgesetzt ist. Beide Sätze lassen sich als religiöse Zeugnisse in einer heillosen Situation lesen, die bei denjenigen, die nicht an ihr vorbei schauen, spontane Ablehnung bewirken kann und damit jenes Nein der Empörung, deren Grunderfahrung für Schillebeeckx zum Ursprung von Religion gehört.

Die beiden Drei-Wort-Sätze drücken allerdings weder hier noch dort selber ein Nein der Empörung aus. Trotz der Geschlossenheit der jeweiligen Aussage sind sie offen wie ein Schrei, der bei denen, die ihn hören, etwas bewirken will, sonst wäre er nicht geschrieben und öffentlich gemacht worden für alle, die an dieser Wand vorbei kommen. Bei diesen Menschen allerdings, die den einen oder den anderen Satz lesen, kann er sehr wohl Betroffenheit bewirken, und dann auch Aufmerksamkeit für die Not, aus der heraus er wie ein Schrei kommt, und schließlich auch Empörung über das Unrecht, das diese Not bedeutet. Betroffenheit, Aufmerksamkeit, Empörung und zugleich den Wunsch, sich für eine Veränderung der jeweiligen Situation einzusetzen, bewirken die Sätze vor allem bei jenen, denen eine Gottesrede, mag sie ihnen auch fremd sein oder von ihnen abgelehnt werden, dennoch nicht gleichgültig oder vielleicht sogar vertraut ist, so wie etwa die Psalmen der Bibel. Denn in ihnen kommen gerade auch Anklage, Verzweiflung, Abschied von Glauben und Hoffnung zu Wort. Beide Sätze haben jedenfalls ihr Recht in der Gemeinschaft derer, die nicht bereit sind, sich mit dem Leben und der jeweiligen Welt von Menschen, so wie sie ist, abzufinden, und die zugleich an die Möglichkeit einer anderen, besseren Welt glauben. Ihnen rufen sie Bitten entgegen, die sich zu ein- und derselben Herausforderung vereinen: „Sprecht mit uns von eurem Gott, auf dass er keine Lüge für uns ist! Zeigt uns, dass es stimmt, dass Gott treu ist! Handelt, damit er für uns lebendig ist! Handelt, damit unsere einzige Hoffnung nicht zuschanden wird!“.

Empörung und Solidarität als Inspiration für eine aufrichtende Theologie

Der Zusammenhang zwischen Religion und dem Nein der Empörung wird von Schillebeeckx vorsichtig angedeutet, wenn er sagt, dass Ursprung und Ziel dieser doppelten Erfahrung, in der sich das Nein zu einer heillosen Situation untrennbar mit dem Ja zu einer besseren Zukunft verbindet, für Christen ein menschliches Antlitz bekommen hat, das Antlitz des Menschen nämlich, den sie als Christus bekennen. Im Evangelium dieses Jesus Christus finden die Hörenden damals und die Lesenden heute allerdings kaum Spuren für den wechselseitigen Zusammenhang von Empörung und Religion oder Gottesrede, es sei denn, sie sind bereit, in ihren Erwartungen an eine Gottesrede eine Kehrtwende zu vollziehen.

Darauf macht der südbrasilianische Theologe Luiz Carlos Susin immer wieder aufmerksam. Der Überbringer des Evangeliums, der zugleich seine Botschaft selber ist: Jesus, erinnert seine Zeitgenossen im Namen ihres gemeinsamen und schon seit Generationen von ihnen angerufenen Gottes daran, dass es ihrem und seinem Gott um ein Leben in Fülle für alle Menschen geht; und er spricht von diesem Gott nur in der Weise, dass er zugleich von den Menschen spricht, und zwar gerade von denen, die ganz unten um ihr Leben zu kämpfen haben, ganz so wie die junge Brasilianerin und der unbekannte Sprayer in Brandenburg. Das Evangelium kehrt erwartete Perspektiven um.

Die Konsequenzen aus dieser Umkehr zeigt Susin in einem soeben erst für Misereor geschriebenen Text „Die Letzten und das schöpferische Chaos“ an der Ankündigung des Weltgerichts im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums. Er erinnert daran, dass Gottes Gericht in der traditionellen Vorstellung eine vernichtende Macht ist, die „von oben“ kommt. Das 25. Kapitel des Matthäusevangeliums nun enthält eine Gerichtsankündigung, die diese Richtung umkehrt: „nicht von oben kommt das Gericht, sondern von unten; nicht von göttlicher Hoheit, sondern von menschlicher Erniedrigung kommt es her“ (Susin 2011), von den Letzten13, den Benachteiligten und Kleingemachten, denen, die in ihrem Menschsein gedemütigt und verwundet sind. Die Letzten sind es, die zum Maßstab für Gottes Gericht werden. Gott hält im Menschsein seines mit den Letzten identifizierten Sohnes Gericht. Wenn sein Gericht nun im gedemütigten Menschsein des Sohnes schon gekommen ist, erhalten dadurch alle mit Gott die Chance, Richter der Welt zu sein – nicht um zu verurteilen, sondern um eine gerechte Ordnung der menschlichen Beziehungen herbei zu führen. Denn das ist die Aufgabe des Richters von alters her.

„So ist das Gericht der Letzten eine gute Nachricht: Vorweggenommen in einer Situation der Schwäche und des Flehens, eröffnet es in der uns geschenkten Zeit wie eine Zukunft die Chance, die Geschichte von Ungerechtigkeit und Würdelosigkeit umzukehren. Noch können wir den Letzten zu Hilfe eilen. Der Richter kommt nicht mit Macht von oben, sondern klopft mit flehender Demut an unsere Tür, murmelt eine Bitte, enthüllt seine traurige Nacktheit mit Augen, deren Anfrage uns nicht loslässt. Er wendet sich an unsere eigene Verwundbarkeit, an unsere Zärtlichkeit und an unser Mitleiden, das schöpferische Kräfte mobilisieren kann. Identifiziert mit den Letzten kommt der Richter nicht zur Androhung unserer Verurteilung, wenigstens noch nicht – allerdings drängt die Zeit – sondern zu unserer eigenen Rettung. Er macht unsere Zeit zur Zeit der Umkehr, in der wir zu ‚Richtern’ an der Seite der Letzten werden. […]

Heute ist die Zeit des Gerichts, das von den Letzten gehalten wird. So wie dem Gott Jesu, so ist auch den Letzten weit mehr an Hilfe und Gerechtigkeit, um leben zu können, gelegen als an Verurteilung und daran, dass Leben und Sterben der Armen weiter vom Unrecht beherrscht wird. In diesem Sinn eröffnet das Wort des Evangeliums, das vom Menschensohn als Richter über die Völker spricht, schon jetzt das Gericht: als Chance, Recht zu schaffen und für eine gerechte Welt das Gute ins Werk zu setzen. […]

All jene, die sich um die Ordnung der Welt bemühen, brauchen sich daher vor dem Gericht nicht zu fürchten, denn sie werden zu Gefährten des Richters, der über die Ordnung der Welt urteilt: Was den Gott Jesu interessiert, ist, dass die Hörer sich neben den Richter stellen und von Gerichteten zu Richtern mit ihm werden und sich in der ihnen gegebenen Zeit für die Ordnung der Welt einsetzen. Das ist die Zeit der Rettung. Dieses Evangelium vertreibt jede Angst vor Verurteilung und bewirkt, mit allen Kräften, den Einsatz für eine gerechte Welt. Es ist eine gute Nachricht.“ (Susin 2011)

Wenn Schillebeeckx sagt, dass unser Nein zu einer heillosen Situation – das uns in seinem Ursprung ein Geheimnis bleibt – und unser in seinem Ursprung uns genauso entzogenes Ja zu einer anderen, besseren Welt für Christen ein Gesicht bekommen hat in Jesus Christus, so zeigt Susin, dass das Evangelium dieses Jesus Christus in zweifacher Richtung weiter geht. Menschen, die sich angesichts der demütigenden Situation der Letzten – die nur noch darum kämpfen, im sozialen Chaos nicht völlig unterzugehen – empören und mit ihnen solidarisch sind, indem sie alles tun, um Menschen aufzurichten und in Beziehungen des Unrechts und der Unterdrückung Recht und Freiheit wiederherzustellen, müssen Christus weder kennen noch bekennen; dennoch wirken sie an dem Ordnung schaffenden Gericht seines Gottes mit. Diejenigen nun, für die ihre Grunderfahrung von Empörung und Solidarität ein menschliches Antlitz in Jesus Christus bekommen hat, den ihnen die Evangelien vor Augen stellen, lassen sich damit auch die gute Nachricht zusprechen: dass ihr eigenes sie befreiendes Gericht schon stattfindet, wenn sie einen oder eine der Letzten aufrichten.

Hier nun geht Susin noch einen Schritt weiter, in Richtung auf die Theologie, die sich von der Grunderfahrung von Empörung und Solidarität inspirieren lässt: In kreativer Weiterführung der Theologie der Befreiung beschreibt Susin eine Theologie, die an der Aufrichtung der Letzten Anteil hat. Das Portugiesische hat ein Wort für „denken“, das zugleich „verbinden und versorgen von Wunden“ bedeutet: „pensar“. Frucht des Denkens in diesem Sinn ist die Theologie der Christen, die aus der Grunderfahrung von Empörung und Solidarität heraus das Verlangen haben, alles zu tun, um die Beziehungen zu verändern, die Menschen nach unten drücken, und ihnen dabei beistehen, sich aufzurichten. Das Denken dieser aufrichtenden Theologie ist kein Denken, das vorgibt, rein objektiv im Sinne einer unerreichbaren Neutralität zu sein. Es ist Sorge um Verletzungen, Verbinden von Wunden.

Darin sieht Susin den Beitrag, den die Befreiungstheologie geleitet hat, die in Lateinamerika eben dadurch entstanden ist, dass sie auf den Hilferuf der von Gewalt Verletzten gehört hat und „sich hat befruchten lassen von der Leidenschaft derer, die mit dem Öl von Hoffnung und Widerstandskraft die Wunden versorgen“ (Susin 2000, 11). Diese Theologie nun, „die sich dem Schmerz nicht verweigert und ganz nah am Leben denkt, die den Träumen und Utopien hilft, ihren Ort zu finden, an dem sie geboren werden und zu Gestalten, die das Geschenk des Lebens feiern wachsen können“ (Susin 2000, 11), erwächst aus dem angedeuteten Zusammenhang von Empörung und Religion. Als christliche Theologie stellt sie sich unter das Evangelium vom Gericht des mit den Gedemütigten identifizierten Gottes, indem sie auf eine gerechte Weltordnung und auf Beziehungen hinarbeitet, in denen sich die Gedemütigten aufrichten können.

 

Das ist die Theologie, für die Norbert Mette steht. Eine solche Theologie bleibt immer angreifbar. Sie drängt sich nicht auf. Im Angesicht derer, die wissenschaftliche Objektivität suchen oder die Übereinstimmung mit kirchlicher Lehre, kann sie ihr Recht nicht verteidigen, ohne die Empörung und den Glauben und damit die Subjektivität dessen ins Spiel zu bringen, der diese Theologie verantwortet. Ihre Angreifbarkeit braucht den Dialog, die Zusammenarbeit, das Zusammenstehen. Sie braucht Vertrauen und Verlässlichkeit. Zugleich bietet sie denen Vertrauen und Verlässlichkeit, deren Theologie dazu beitragen möchte, dass Menschen sich aufrichten.

You have finished the free preview. Would you like to read more?