Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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Literatur

Bechmann, U., Der Weltgebetstag der Frauen – Praxis interkonfessioneller Arbeit, in: Diakonia 25 (1994), 125-130.

Coudenhove, I.F., Gespräch über die Heiligkeit. Ein Dialog um Elisabeth von Thüringen, Frankfurt a.M. 71933.

Cruset, J., Das heilige Abenteuer des Johannes von Gott, Graz 1967.

Deutsches Weltgebetstagskomitee (Hg.), Dokumentation zum Weltgebetstag 1994, verfasst von S. Klein, Düsseldorf 1995.

Frauen bewegen Ökumene, in: Una sancta 53 (1998), H. 4, 311-317.

Fuchs, O., Die Opfer-Täter-Perspektive als notwendige Basis der Kommunikation des Evangeliums, in: T. Kläden/J. Könemann/D. Stoltmann (Hgg.), Kommunikation des Evangeliums, Münster 2008a, 144-157.

Ders., Gott in Dunkelheit erahnen. Die biblische Verbindung von Lob und Klage, in: Bibel und Kirche 63 (2008b), 22-27.

Ders., Schuldbewusstsein als praktisch-hermeneutische Kategorie zwischen Geschichte und Verantwortung, in: R. Bendel (Hg.), Die katholische Schuld?, Münster 2002, 274-307.

Ders., „Unmögliche“ Gegenwart der Gabe. Elisabeth und Derrida als akute Provokation, in: F. Gruber/C. Niemand/F. Reisinger (Hgg.), Geistes-Gegenwart. Vom Lesen, Denken und Sagen des Glaubens (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge, Bd. 17), Frankfurt 2009, 155-178.

Ders., Ursprungscharisma im Kontext der Zeit. Johannes von Gott und Identität seines Ordens, in: Orientierung 58 (1994), H. 23/24, 255-261.

Hiller, H., Ökumene der Frauen. Anfänge und frühe Geschichte der Weltgebetstagsbewegung, Stein 1999.

Oexle, O.G., Armut und Armenfürsoge um 1200. Ein Beitrag zum Verständnis der freiwilligen Armut bei Elisabeth von Thüringen, in: Philipps-Universität Marburg (Hg.), Sankt Elisabeth. Fürstin – Dienerin – Heilige, München 1993, 78-100.

Maresch, M., Elisabeth von Thüringen. Schutzfrau des deutschen Volkes, Bonn 1932.

Nigg, W., Ein Heiliger aus schlechtem Holz. Johannes von Gott, Regensburg 1985.

Schneider, R., Elisabeth von Thüringen, Frankfurt a.M. 1997.

Stolz, A., Die Heilige Elisabeth, Freiburg i.Br. 1923.

Stromeyer, H., Der Hospitalorden des Hl. Johannes von Gott, Regensburg 1978.

1 Es geht hier nicht um eine historische Studie zur Entstehung des Reformationsbegriffs, sondern um seine inhaltliche Korrektur, diese allerdings an historischen Beispielen verdeutlicht.

2 So verrückt erscheint sie, dass sie aus heutiger Perspektive als „pathologisch“ einzuschätzen wäre, vgl. Blödorn, W., Elisabeth von Thüringen. Die Entleerung einer Frau zur Heiligen hin, in: J. Kügler/L. Bormann (Hgg.), Töchter (Gottes). Studien zum Verhältnis von Kultur, Religion und Geschlecht, Berlin 2008, 113-129.

3 Zur höchst ambivalenten Wirkung des Konrad von Marburg auf Elisabeth vgl. Maresch, M., Elisabeth von Thüringen. Schutzfrau des deutschen Volkes, Bonn 1932, 147-151.

4 Es wäre interessant, hier den Verschwendungsdiskurs von Georges Bataille anzuschließen, vgl. Ochs, R., Verschwendung. Die Theologie im Gespräch mit Georges Bataille, Frankfurt a. M. 1995.

5 Vgl. Coudenhove, Gespräch 57. Vgl. dazu auch das eindrucksvolle Buch von Leddy, M.J., Radical Gratitude, Maryknoll/New York 2002.

6 Vgl. zu diesem Begriff in unserem Zusammenhang Fuchs, O., Im Brennpunkt: Stigma. Gezeichnete brauchen Beistand, Frankfurt a.M. 1993, 11-17, 25-30.

7 Nigg 1985, 25-26; vgl. zum Bild des Feuers und des Sturmwindes auch Cruset, J., Das heilige Abenteuer des Johannes von Gott, Graz 1967, 101ff.

8 Cruset 1967, 133; in konzeptioneller Entfaltung vgl. dazu Leibbrand, W., Der göttliche Stab des Äskulap. Eine Metaphysik des Arztes, Salzburg 1939, 13-28. 469ff.

Leo Karrer
Kirche zwischen Glaubensgemeinschaft und System
„Rote Karten“

Die Kirche steckt in einer Krise, die alle jene tief erschüttert, denen eine glaubwürdige Kirche am Herzen liegt. In den vergangenen Jahren sind in der Öffentlichkeit und von der besorgten kirchlichen Basis so viele rote Karten an die Adresse des Vatikans gezogen worden, dass sich Beispiele erübrigen. Allerdings stellen die Vorgänge um die Missbrauchsfälle alles in den Schatten. Man spricht von einem Supergau der katholischen Kirche. Mir kommt das schreckliche Bild vom Tsunami in den Sinn, der die Kirche überschwemmt. Dabei handelt es sich nicht nur um interne Spannungen zwischen progressiven und konservativen Lagern in der Kirche. Vielmehr hat die römisch-katholische Kirche in unseren Ländern die moralische Ehre verloren. Die Kirche kann nicht dauernd die ethischen Höchstpreise an die Welt verkünden, ohne diese Grundsätze im eigenen Bereich selber zu praktizieren und die eigenen Kosten im Sinne dieser Höchstpreise zu übernehmen. Sonst wird bis zu einem gewissen Grad verständlich, warum die mediale Öffentlichkeit z.T. so hämisch und sensationslüstern reagiert. Denn man verübelt der Kirche, dass sie ihre eigenen hehren Grundsätze nicht ernst nimmt. Das betrifft auch andere Bereiche wie Menschenrechte, demokratische Partizipation, Subsidiarität usw. Die Kirche ist insofern Opfer ihrer selbst und nicht nur das Opfer einer vermeintlich feindlichen Welt. Wie ist aber diese bedrängende Situation der Kirche zu verstehen?

Bekannt ist ja, dass sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht nur gesellschaftlich, sondern auch religiös und kirchlich damals unvorhersehbare Umbrüche mit Abbrüchen und Aufbrüchen ereignet haben. Durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hat die katholische Kirche gelernt, über sich nachzudenken. Sie wandelte sich von einer statischen Kirche zu einer dynamischen Kirche mit Durchbrüchen und bemühenden Konflikten. In kurzer Zeit ist ein weiter Weg beschritten worden. Das Konzil darf nun in der Rückschau weder von der einen noch von der anderen Seite fundamentalistisch vereinnahmt werden. Es war aber eine charismatische Zäsur in einem Prozess, der weitergehen und nicht zurückgeschraubt werden darf.

Immer mehr muss man intern wahrnehmen, dass die Kirche keine geschichtslose und gesellschaftsferne „societas perfecta“ ist. Massiv ist die Kirche ins gesellschaftliche Fahrwasser des Lebens verstrickt und davon abhängig.

Die Gesellschaft als bestimmende Quartiermeisterin für die Kirche(n)

Durch das Konzil lernte die Kirche, sich unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen. (vgl. Gaudium et spes) Dieser Weg zeigte, dass die unübersichtliche Komplexität und überfordernde Kompliziertheit der Wirklichkeit vor den Kirchentüren nicht Halt gemacht, sondern sich in die Kirche selber ergossen hat. Eine hochdifferenzierte und individualisierte (z.T. singularisierte und damit desolidarisierende) Gesellschaft mit ihrer Macht und ihren Normen, aber auch mit ihrer Brüchigkeit und mit ihrer Brutalität sowie mit ihrer medialen Öffentlichkeit ist zur maßgeblichen Quartiermeisterin auch für die Kirche geworden. Rückzüge in kontrollierbare Reviere nützen nichts und heilen noch weniger. Wenn z.B. die Gleichstellung von Mann und Frau, Partizipatio, demokratische Entscheidungsfindung, Menschenrechte und faire Konfliktverfahren selbstverständliche Normen geworden sind, auch wenn man ihnen in der Praxis oft nicht die Ehre antut, dann schafft das unüberwindliche Spannungen zum geltenden kirchlichen Rechtssystem. Dieses kommt für viele Menschen daher mit einem tiefen Argwohn gegenüber dem freiheitsliebenden Denken und der Leiblichkeit mit der Vitalität und der Sexualität des Menschen. Zudem ist die Kirche zentralistisch übersteuert und patriarchal strukturiert. Die interne Kommunikation verläuft mit der medialen Ästhetik eines Hofzeremoniells nur von oben nach unten. Und an jedem Hof genießen Denunzianten mehr Gehör als die Denunzierten Schutz. In der Logik des Systems werden nicht zuerst pastoral und kommunikativ kompetente Leute, sondern Systemloyale mit z.T. erheblichen menschlichen Insuffizienzen in Linienpositionen berufen, wie Bischofsernennungen schmerzlich zeigen, die ganzen Bistümern den Frieden kosten.

Nun: Einen Krisenherd zu benennen, heißt nicht, ihn hämisch und selbstinszenierend zu bedienen, sondern sich ihm anzunähern, um heilende Schritte für die weitere Wegsuche auszukundschaften. Es könnte ja sein, dass in Zusammenbrüchen etwas Neues auf- und durchbrechen möchte. Auch das Rettende zeigt sich – wenn auch oft erst verborgen. Zwar wird gegen die Kritik am hierarchischen System eingewendet, man soll sich nicht dauernd auf zweitrangige äußere Probleme fixieren. Es käme doch primär auf die mystische und sakramentale Dimension der Kirche an. Letzteres ist unbestritten. Aber damit sind Anfragen an das System unserer Kirche trotzdem sinnvoll. Immerhin ist Glaubwürdigkeit keine beliebige Option. Zudem ist Kirchen- und Selbstkritik aus dem Geiste des Evangeliums heraus auch kirchliches und christliches Handeln.

Versuch einer Konflikthypothese: Spannungen durch das System

Die aktuellen Spannungen in der Innenarchitektur unserer Kirche und der ungeheure Realitätsverlust des Systems sind wohl folgendermaßen zu diagnostizieren. Die vorhin genannten Schritte der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil belegen, dass die Kirche sich in einer differenzierten und pluralistisch gewordenen Zivilgesellschaft im Konflikt mit sich selbst befindet sowie in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Was ist damit gemeint? Die Kirchenverständnisse und die Vorstellungen über die Kirche haben sich intern vervielfacht und atomisiert. Diese dynamisierenden Bewusstseinsschübe haben den früher monolithischen Binnenraum der Kirche enthärtet und selber pluralisiert. Vervielfacht haben sich gleichzeitig die Konzepte des pastoralen Handelns bis hin zu verschiedenen Kategorien von Spezialseelsorge entwickelt, obwohl auch diese letztlich Normalseelsorge sind. Zudem: in den letzten Jahren sind – unter dem Druck des Priester- bzw. Personalmangels und infolge des Geldmangels – auch die früheren kirchlichen Sozialformen neu in Bewegung gesetzt und strukturiert worden wie z.B. Pastoraler Entwicklungsplan im Bistum Basel, die Lebensraumorientierte Seelsorge im Bistum St. Gallen, die Sektorenpastoral im französischsprachigen Raum, Pastoralräume, Seelsorgeeinheiten, Pfarrverbände im deutschsprachigen Bereich und nicht zuletzt die Hilfswerke, die Präsenz als Bahnhofs-, Flughafen-, Einkaufszentrum-Kirche oder City-Kirche usw. Aber nicht nur die Kirchenbilder, nicht nur die Seelsorgekonzepte und die pastoralen Sozialformen haben sich enorm verändert und sich dem gesellschaftlichen Kontext angepasst, sondern auch das kirchlich-pastorale und theologische Betriebspersonal. Und dies greift sozusagen intim in das hierarchische Selbstverständnis unserer Kirche hinein.

 

Es hat sich somit innert weniger Jahrzehnte so viel gewandelt, ohne das Wesentliche zu verlieren, dass das alltägliche Gesicht der Kirche meiner Jugendzeit heute kaum mehr auszumachen ist. Allerdings – und dies spitzt die Konflikthypothese zu – : alles hat sich differenziert und professionalisiert und der Kirche ein verändertes Profil beschert; nur einzig und allein das kirchenrechtliche Gewand bzw. die geschichtlich entfaltete Organisationsform der Kirche ist vorkonziliar stehen geblieben. Dieses klerikal-hierarchische System wird in seinem geradezu feudalistischen Zuschnitt eher wieder forciert. Die kanonische Kirche ist für das inzwischen üppig Gewachsene viel zu eng geworden. Was sprießen und leben will, möchte sich entfalten und beansprucht Lebensraum. Dadurch werden bemühende Konflikte erzeugt. Regelverstöße, Druck von unten und schismatisierende Selbsthilfe werden geradezu provoziert. Am meisten bedrängt aber die Mutlosigkeit und Resignation der Enttäuschten mit viel gutem Willen. Für die Geduld mancher ist der Weg zu lang und zu mühsam geworden. Die sozusagen amtliche Kirche riskiert vieles, was pastoral eigentlich zu retten wäre, wenn wir z.B. allein an den Reichtum des sakramentalen Lebens denken, der durch den sog. Priestermangel bedroht ist. Oder haben wir Gesetze, wonach Gemeinden bzw. Pfarreien sterben müssen? Es ist eine pastorale Chaostheorie zwischen Realität und Botschaft aufgetragen, die nicht leicht sein wird, vor allem für jene nicht, die für den Zusammenhalt der Kirche geradestehen und oft in unbarmherzigen Spannungen ausharren müssen. In Kurzform: Reformen des Systems sind angesagt. Sie sind verantwortlich in die Wege zu leiten, Reformen, die pastoral notwendig und theologisch möglich sind. Es hilft alles nichts und heilt noch weniger, wenn sich das klerikale System dauernd gegen die gewachsene Modernität im eigenen Hause und gegen die Unverwüstlichkeit (Vitalität) der eigenen Basis stemmt und sich daran wund reibt. Der binnenkirchliche Kulturkampf des Systems mit der Modernität in den eigenen Reihen verliert sich im Zweitrangigen und verschleudert die so vielen kostbaren menschlichen Ressourcen.

Reformen als Erneuerung aus der spirituellen Tiefe heraus

Kirche ist nicht nur funktionales System, sondern aus vielen Menschen auch Gemeinschaft im Glauben. In dieser Unterscheidung der beiden Pole, die nicht zu trennen sind, liegen auch Hinweise auf Heilungsressourcen. Das kanonische System der Kirche ist eine geschichtliche Größe von Menschenhand. Es ist nicht selbst das Heil. Vielleicht verrät sich hinter all den Kirchenkrisen und dem moralischen Grounding durch die Missbrauchsfälle so etwas wie eine indirekte Pädagogik Gottes. Ist eventuell zu lernen, auf die Botschaft Jesu von einem Gott, der den Menschen in Liebe nahe ist, alle Karten zu setzen und nicht zuerst auf die institutionalisierte Kirche mit all dem Reichtum ihrer „Heilsmittel“. Ein unbewegliches System der Kirche darf nicht suggerieren, dass Gott und Mensch nur dann eine Chance haben, wenn dieses System mit seiner Doktrin, seiner Disziplin und seinen pastoralen Instrumenten dazwischentritt. Die Chance der Kirche ist einzig und allein die Erneuerung aus ihren spirituellen Quellen auf der Basis der biblischen Botschaft. So wäre es auch beunruhigend, wenn in Reaktion auf die Skandale der jüngsten Zeit die institutionelle Kirche nur mit strukturellen Verbesserungen der Verfahrensregeln reagierte und sich nicht dem öffnete, was Gott der Kirche heute sagen und bedeuten möchte. Darin liegt die vielleicht verborgene Chance in den gegenwärtigen Querelen.

Nicht nur Schatten, sondern auch Licht

In dieser Situation scheint wichtig, Kirche als Glaubensgemeinschaft und als geschichtlich gewachsene Organisation mit ihrem kanonischen System zu unterscheiden. Es wäre zu einfach, mit der berechtigten Kritik an der Kirche bzw. an ihrem System sich von der Kirche als Glaubensgemeinschaft zu verabschieden. Ich würde als einzelner schnell verdummen sowie seelische und spirituelle Energien verspielen, wenn ich mich aus der Erfahrungsnähe zu einer solchen weltweiten Interpretationsgemeinschaft des Glaubens abkoppeln wollte. Menschlich würde man sich letztlich auch selbst betrügen. Denn mit Hinweis auf das unideale System der Kirche kann man sich nicht aus der Eigenverantwortung stehlen und sich schenken, im Christsein selber erwachsen zu werden, zu meinen möglichen Anteilen solidarisch mitzugehen und sich selbst und andere dabei auszuhalten. Wenn immer es um das Entscheidende im Leben geht, bezahlt man mit sich selber, auch in seiner Glaubensbiographie.

Zudem ist nicht zu übersehen: Unsere Kirche ist mit den anderen Kirchen zusammen eine zweitausendjährige auf der Basis der jüdischen Tradition aufbauende Interpretationsgemeinschaft der Botschaft Jesu und der Impulse für die praktische Nachfolge in seinem Geiste. Trotz aller historischen Veruntreuungen ist dies auch eine ungeheuer reiche Weisheits- und Solidaritätsgeschichte, auch wenn dies in unserer medialen Öffentlichkeit nicht die verdiente Beachtung findet. Zudem ist das institutionelle Gewand unserer Kirche ein weltweit bis in die territoriale (Pfarrei-)Struktur hinein organisiertes System, das als Solidaritätsverband kein vergleichbares Pendant in der Welt findet… Denken wir auch an die übernationale Bedeutung einer moralischen Instanz wie das Papsttum, wenn der Papst vor der UNO und in den Medien für Menschenrechte, gegen Gewalt und Krieg sowie gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit eintritt. Ungeachtet des reformbedürftigen Systems gibt es auch in unserer Kirche hierzulande und weltweit trotz der Ermüdungserscheinungen eine charismatische Dynamik, spirituelle und geistige Schubimpulse, menschliche Ressourcen, ethische und solidarische Synergien und so viel guten Willen mit prophetischer Wut und Glut und in aller Stille so viel selbstverständliche und unbelohnte Treue. Es gibt eine richtige Praxis im falschen System. Es wäre auch Realitätsverlust, nicht sehen zu wollen, was in und durch Kirche geschieht und sich schenken will.

Gott nicht zu klein denken: Selbstevangelisierung

Die Grundfrage jeder Kirchenreform mündet letztlich in die spirituelle Existenzfrage: Wem vertrauen wir? Auf wen setzen wir die Hoffnung? Ist es das Vertrauen auf die Treue Gottes oder auf die scheinbaren Garantien der Kirche als Institution? Natürlich steht Kirchen-Reform immer an. Die ideale Kirche ist uns nicht verheißen. Sie ist nicht machbar. Und wer auszieht, um sie zu schaffen, sehe zu, dass er nicht fundamentalistisch überfordert oder heillos zerstört. Mit ausdrücklichem Rückgriff auf Impulse des II. Vatikanischen Konzils hat die Bischofssynode 1974 in der Evangelisierung die tiefste Identität der Kirche (Evangelii nuntiandi 14) erblickt und damit die Verkündigung in der Welt und die Erneuerung und Bekehrung der Kirche selber verbunden. „Jeglichem Ekklesiozentrismus (als Folge etwa der Fixierung auf binnenkirchl. Probleme in der nachkonziliaren Diskussion) wird damit eine Absage erteilt.“ (Mette 32001, 1031)

Empirische Daten über das System Kirche und ihr Handeln unter gesellschaftlichen Bedingungen sind Chancen, um Realitäten wahrzunehmen und Verständniszugänge zu gewinnen. Sie können Ratschläge erteilen. Aber sie können nicht das Evangelium ersetzen. Die Kirche darf nicht nur umfragenreaktiv in Blick genommen werden, sondern maß-geblich Botschaft-orientiert.

Die Seele der Kirche ist im Horizont der biblischen Botschaft die Einheit der Menschen- und Gottesliebe. (vgl. Karl Rahner) Kirche wird als solche da erfahren, wo Menschen sich miteinander auf den Weg und die Botschaft Jesu einlassen, und wo in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Alltag von jener neueren und größeren Liebe und Hoffnung etwas gelebt und erfahren wird, von denen uns die biblischen Urkunden des Glaubens erzählen. Kirche wird demzufolge durch menschliche Beziehungen und Kommunikation zum anschaulichen Hinweis auf das anbrechende Reich Gottes. Konkret verleiblicht sich Kirche in unterschiedlichen Lebenskontexten und biographischen Abläufen als Volk des Gottes Jesu und als „Zeichen und Sakrament der Einheit mit Gott und der Einheit der Menschen untereinander“ (Lumen gentium 1) wie auch als empirisch zugängliche Gemeinschaft und als vernetzende Organisation. Somit hat sie gleichsam zwei Plattformen: die Menschenfragen und die Gottesfrage(n). Sie sind nicht zu trennen. Ansonsten drohen von beiden Ebenen her immer wieder Bodenlosigkeit, Realitäts-Verlust oder Gottes-Verlust. Somit wird Kirche insofern glaubwürdig und mystisch-spirituell einladend, als sich ihre Sozialformen und ihr pastorales Mühen immer wieder zur christlichen Tiefen-Dimension konvertieren. Dann wird sie zum Erlebnisraum gelebten Christseins. Sie muss dann nicht krampfhaft Gottes Handeln an ihre eigenen Bedingungen knüpfen. Sie kann in ihrer Selbstevangelisierung als Konversion zur christlichen Tiefe offen und gelassen werden, weil sie Gott nicht ängstlich zu klein denkt, sondern immer größer als alle unsere eigenen Möglichkeiten mit ihren Chancen und Tücken. Dann wird Kirche ökumenisch und offen für andere Religionen; sie wird dialogisch und heilend; sie wird politisch engagiert im Kontext von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und Solidarität; sie wird eine Gemeinschaft von Pilgern auf dem Weg und nicht von passiven Passagieren im Kirchenkahn; sie wird Weite in den Realitäten des Lebens gewinnen, weil sie sich der Tiefe ihrer Hoffnung im Vertrauen auf Gott aussetzt und hingibt; sie wird nicht der volkskirchlichen Pastoral des Erntens nachjammern, sondern ihre Sendung heute als Zeit des Säens wagen; sie wird Mut und Phantasie aufbringen, im Leben daheim zu sein und dort ihr „Adsum“ zu wagen; sie wird die einzelnen wohl selber gehen lassen, aber nicht alleine lassen, sondern gemeinsam den Weg suchen und gehen lassen.

So wird sich der Kirche die Einsicht als Auftrag und als Entlastung schenken, dass sie einer Liebe dient, die sie nicht selber erfüllen muss und kann. Gott ist immer größer.