Qualitative Medienforschung

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Anmerkungen

1 Zur Veranschaulichung kann man eine der materialreichen historischen Untersuchungen Foucaults anführen. Im ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« (Foucault 1977) fragt Foucault eingangs, wie es denn komme, dass im Zeitalter des Viktorianismus, einer Epoche, die als sittsam, gar als prüde gelte, der Diskurs über »den Sex« explodiert? Foucault zeigt auf, dass die Problematisierung um »den Sex« in der Neuzeit ein ganzes Wissenssystem erst hervorbringt, in dem Konzepte (»Begriffe«/»Objekte«) wie die Vorstellungen vom Körper und dessen Sinnlichkeit zunächst als problematische angesprochen, damit im Wissen errichtet und mit institutionellen Praktiken verkoppelt werden (Sexualitätsdispositiv). Seine These: Das, was heute als »Sexualität« gedacht und praktiziert wird, ist im Zeitalter des Viktorianismus erst entstanden, und die Diskursivierung des Sex als etwas »zu Unterdrückendes« bringt die neuzeitliche Wissensordnung vom »Sex« hervor, die dem Altertum und auch dem Mittelalter noch unbekannt war. Die Raffinesse der foucaultschen Analyse besteht weiter darin, dass er einen modernen »Befreiungsdiskurs«, wie den der Psychoanalyse bloßstellt als eben dieses Sexualitätskonzept fortsetzend. Auch wenn die Versprechung nun ist, dass es um die Befreiung von Individuen gehe und diese sich in ihrer Sexualität anerkennen und befreien könnten, liegt eine Kontinuität vor: Wieder werden die Individuen zu Unterworfenen, werden sie von (wenn auch anderen) Autoritäten (nun therapeutisch) durchleuchtet, analysiert, klassifiziert und beurteilt. Und wieder ist das Wissen um den »Sex« anhand von Kategorien wie wahr/falsch oder Geheimnis/ Geständnis organisiert und mit Praktiken verkoppelt, die die Lebensführung strukturieren. »Ironie dieses Dispositivs: Es macht uns glauben, dass es darin um unsere ›Befreiung‹ geht« (Foucault 1977, S. 153).

2 Wenn eine computergestützte Analyse erfolgt, kann ein diskursanalytisches Codiermodell entwickelt werden.

Literatur

Becker, Frank/Gerhard, Ute/Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 22, 1, S. 70–154.

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.

Crane, Diana (1992): The Production of Culture. Beverly Hills.

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Diaz-Bone, Rainer (in Vorbereitung): Foucaultsche Diskursanalyse. Eine Einführung. Wiesbaden.

Diaz-Bone, Rainer/Schneider, Werner (2010): Qualitative Datenanalysesoftware in der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse – Zwei Praxisbeispiele. In: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.) (2010): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2. Forschungspraxis, 4. Auflage. Wiesbaden, S. 491–529.

Dreyfus, Hubert/Rabinow, Paul (1987): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M.

Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.

Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.

Jäger, Siegfried (2012): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 6. Auflage. Duisburg.

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Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.) (2010): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2. Forschungspraxis, 4. Auflage. Wiesbaden.

Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 4. Auflage. Wiesbaden.

Kendall, Gavin/Wickham, Gary (1999): Using Foucault’s Methods. Thousand Oaks.

Link, Jürgen (2013): Versuch über den Normalismus, 5. Auflage. Göttingen.

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Williams, Glyn (1999): French Discourse Analysis. The Method of Post-Structuralism. London.

Wrana, Daniel/Ziem, Alexander/Reisigl, Martin/Nonhoff, Martin/Angermüller, Johannes (Hrsg.) (2014): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin.

2.2 Medienforschung – Alltagsforschung

Alltagshandeln mit Medien
LOTHAR MIKOS

»Die Medien sind integriert in den Alltag, in das Alltagsverhalten« (Bausinger 1983, S. 33). Diese Feststellung des Kulturwissenschaftlers Hermann Bausinger aus den 1980er Jahren trifft im 21. Jahrhundert mehr denn je zu. Ein Leben ohne Medien ist in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum mehr möglich. Die Erforschung der medialen Spuren im Alltag der Akteure ist eine Aufgabe, die weit über die traditionelle Rezeptionsforschung hinausgeht wie über Studien, die sich mit der kommunikativen Aneignung einzelner oder mehrerer Medien, und über Studien, die sich in Bezug auf Handlungstheorien oder im Rahmen der Cultural Studies mit der individuellen und/oder gesellschaftlichen Bedeutung von Medien befassen. Die Beziehung zwischen Medienkonsum und alltäglicher Handlungspraxis ist wechselseitig: Einerseits wird der Medienkonsum von den alltäglichen Lebensvollzügen und den lebensweltlichen Verweisungshorizonten beeinflusst, andererseits wirken die Erlebnisse und Erfahrungen beim Medienkonsum eben auch auf jene alltäglichen Lebensvollzüge zurück. Die Strukturen und Funktionen dieser Wechselbeziehungen zu erforschen, stellt eine wichtige methodische Herausforderung im Rahmen qualitativer Medienforschung dar.

Medien im Alltag

Seit den 1980er Jahren haben Digitalisierung und Globalisierung zu einem weitreichenden Wandel der Medien und der Gesellschaft geführt. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass diese Medien von Menschen entwickelt und auch angewandt bzw. benutzt wurden. Der soziale und kulturelle Wandel, der sich dabei vollzogen hat, ist unter dem Stichwort »Reflexive Moderne« (vgl. Beck 1986, Beck/Giddens/Lash 1996) diskutiert worden. Dabei spielen Medien, insbesondere das Leitmedium Fernsehen, eine nicht unwesentliche Rolle (vgl. dazu Mikos 1999, S. 5 f.) oder wie Bachmair (1996, S. 35) es ausgedrückt hat: »Subjektivität bildet sich an der Schnittstelle der von Rezipienten und Medienproduktion bewirkten Aktivitätslinien«, und zwar im Kontext der lebensweltlichen Bezüge des Alltagslebens. Der Prozess des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt (vgl. Schütz 2004) ist ohne die (Be-)Nutzung von Medien unvorstellbar. Doch ist die Bedeutungskonstitution nicht individuell, sondern sie erfolgt im Rahmen sozialer Bezüge, denn die oben beschriebene Individualisierung bringt neue Formen sozialer Vergemeinschaftung hervor, ebenso wie alte soziale Kräfte zwar an Einfluss verlieren, aber eben nicht ganz verschwinden.

Daraus ergeben sich zwei wesentliche Konsequenzen, die für die Medienforschung bedeutsam sind:

1) Die reflexive Moderne ist eine »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994), die durch Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen gekennzeichnet ist. Ein gesellschaftlicher Konsens über legitime und illegitime Lebensformen ist nur noch schwer herzustellen, auch weil der Horizont der Individuen an die eigenen Lebensformen, in der der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt gelingt, gebunden ist. Einblicke in andere Lebensformen sind nur mühsam zu erlangen. Einerseits bekommen Medien wie das Fernsehen als so genanntes »kulturelles Forum« (vgl. Newcomb/ Hirsch 1986) als Vermittler zwischen und von Lebensformen und Lebensstilen eine besondere Bedeutung. Andererseits sind spezifische Lebensformen und -stile mit bestimmten Medien und Mediennutzungsformen verbunden.

2) Auch wenn die Medien eine wichtige Rolle bei der Bedeutungskonstitution im Alltag spielen, sind Menschen nicht auf Mediennutzer reduzierbar. Sie leben in den vielfältigen Bezügen ihres Alltags – sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen etc. – und werden nur dann zu Rezipienten oder Mediennutzern, wenn sie sich einem oder mehreren Medien zuwenden, wenn sie Medienerlebnisse als kommunikative Ressource benutzen oder wenn sie das von den Medien bereitgestellte symbolische Material in ihren Alltag übernehmen. In diesem Sinn bedeutsam ist »jenes System von wahrnehmungs- und handlungsleitenden Themen des Alltagslebens […], das dem Mediengebrauch seinen subjektiven Sinn gibt« (Weiß 2001, S. 14).

Medien spielen so eine entscheidende Rolle sowohl bei der subjektiven als auch bei der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 2010). »Die mediale Kommunikation stellt eine conditio sine qua non gegenwärtiger Lebenszusammenhänge dar: Ohne sie geht es – weitgehend – nicht. Das bedeutet aber andererseits nicht, dass die soziale Wirklichkeit nichts weiter als eine Konstruktion oder ein Effekt ›der Medien‹ wäre. Denn diese haben ihre sozialbildende Kraft nur, weil sie ein integraler Teil der sozialen und kulturellen Praxis geworden, in der mittelbare und unmittelbare Kommunikation einander vielfach überlagern, durchdringen und wechselseitig konturieren« (Keppler 2015, S. 2, Herv. i. Orig.). Medien machen nur einen Teil – wenn auch einen wichtige – der alltäglichen Kommunikation aus. Ihr Gebrauch »ist immer in das soziale Gefüge des häuslichen Zusammenlebens und weiterer Kontexte integriert, wo er ganz unterschiedliche Bedeutungen entfalten kann« (Röser/Thomas/ Peil 2010, S. 9).

 

Medien und ihre Nutzung sind in die alltäglichen Handlungsabläufe der Menschen integriert (vgl. Mikos 2004). Die Bedeutung der Medien liegt nicht in ihrer technischen bzw. medialen Verfasstheit, sondern in ihrem Gebrauch, in ihrer sozialen Anwendung in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten, denn »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/Prommer 2004, S. 148). Konkrete Medienrezeptionen, d. h. Situationen, in denen sich Menschen einem Medium zuwenden und es rezipieren, kommen zwar vor, sind aber nur ein Teil des Alltags. Medien sind auch dann im Alltag von Bedeutung, wenn in den Handlungen der Menschen kein offensichtlicher Medienbezug zu erkennen ist. »Die Medien sind ein Ausdruck unserer Kultur, und unsere Kultur funktioniert in erster Linie durch die von den Medien zur Verfügung gestellten Materialien« (Castells 2001, S. 385), oder anders ausgedrückt: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« (Luhmann 2009, S. 9). Ohne die Medien und ihre Folgen/Effekte ist ein subjektiv sinnvolles Leben in den zivilisierten Gesellschaften nicht möglich.

Direktes Medienhandeln im Alltag ist subjektiv sinnhaft und ist immer auch soziales Handeln. Es ist immer an das Subjekt gebunden, aber »das handelnde Subjekt seinerseits bleibt in seinen Handlungsmöglichkeiten situationsgebunden« (Schülein 1983, S. 55). Situation und Handeln bedingen sich wechselseitig. In Bezug auf das Fernsehen hat David Morley (1996, S. 42) festgestellt, dass die Fernsehnutzung »weitgehend innerhalb sozialer Beziehungen und nicht außerhalb von ihnen« stattfindet. Fernsehnutzung müsse daher »als soziales Geschehen« behandelt werden, »das im familiären Kontext, verstanden als ein Muster sozialer Relationen, stattfindet«. Medien sind integraler Bestandteil des Familienalltags in vielerlei Hinsicht. Sie vermitteln nicht nur zwischen der Innenwelt der Familie und der Außenwelt. »Die Medien gehören im Familienalltag immer auch zum Bereich des Sozialen, der Gemeinsamkeit sowie der Reflexion des Lebens mittels Symbolen und Geschichten. Insofern ist der Umgang mit Medien eine wichtige kulturelle Praxis, deren Qualität von der jeweiligen Familienkommunikation abhängig ist« (Barthelmes/ Sander 2001, S. 298; H. i. O.). Sowohl in der konkreten Medienrezeption als auch im alltäglichen Handeln kann das Handeln entsprechend der Definition von Max Weber sowohl zweckrational, wertrational, affektuell oder traditional (»durch eingelebte Gewohnheit«) bestimmt sein (vgl. Weber 2002, S. 12). Jedes alltägliche Handeln weist zumindest einen impliziten Medienbezug auf, denn einerseits »sind die Medien, vor allem Radio und Fernsehen, zur audiovisuellen Umwelt geworden, mit der wir endlos und automatisch interagieren« (Castells 2001, S. 382), und andererseits erarbeiten sich die Menschen ihren Lebenssinn im Alltag in einem »Prozess der individuellen Bedeutungskonstitution in einem komplex verflochtenen Medienfeld« (Bachmair 1996, S. 13). Alltägliches Handeln kann expliziten bzw. direkten oder impliziten bzw. indirekten Medienbezug haben. Das bedeutet für die Medienforschung, dass sie sich vergegenwärtigen muss, es mit einem breiten Spektrum von Aktivitäten zu tun zu haben, die auf ganz unterschiedliche Beziehungen zwischen den Medien und den Subjekten bzw. Akteuren verweisen.

Alltägliches Medienhandeln

Ausgangspunkt ist daher das Alltagsleben der Menschen, die in bedeutungsvollen gesellschaftlichen Strukturen handeln und dabei sinnstiftend tätig sind. Der Alltag lässt sich »als Vermittlungsbereich begreifen, auf den sich alle Bereiche menschlichen Handelns partiell beziehen müssen« (Krotz/Thomas 2007, S. 39), also auch das auf Medien bezogene Handeln und das Handeln mit Medien. Mediennutzung kann daher als Handlung begriffen werden (→ Eichner, S. 112 ff.; → Krotz, S. 94 ff.), »die sich im Alltag als Aneignungsprozess von Strukturen (auch Medienangeboten) vollzieht. Als Ergebnis wird diese Medienhandlung Teil der Lebenswelt« (Pfaff-Rüdiger 2007, S. 13).

Medienhandeln im Alltag geht mit einer Zuwendung zum Medium einher. Die im Alltag handelnden Individuen planen einen Rezeptionsakt, führen ihn durch oder haben ihn durchgeführt und benutzen das, was sie gelesen, gehört oder gesehen haben, auf irgendeine Weise in ihrem Alltag. Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Individuum dann als Fernsehpublikum handelt, wenn es plant, eine Fernsehsendung zu rezipieren, sie tatsächlich anschaut, sich also dem Fernsehen zuwendet und sich mit Inhalt, Ästhetik und Gestaltung (wie aktiv oder passiv auch immer) auseinandersetzt. Es handelt aber auch als Publikum, wenn es mit anderen Personen aus seiner sozialen Umgebung über Fernseherlebnisse oder über Programme kommuniziert. Es handelt auch als Publikum, wenn es sich bei alltäglichen Aktivitäten auf Medien bezieht. Das wäre z. B. der Fall, wenn ein Rezept aus The Taste oder Lafer! Lichter! Lecker! nachgekocht würde. Es handelt aber auch als Publikum, wenn es im Internet die Seite von Wer wird Millionär? aufsucht, und zwar sowohl als Nutzer der Internetseite als auch als Zuschauer der Fernsehsendung.

Studien zur kommunikativen Aneignung des Fernsehprogramms haben gezeigt, dass der Alltag der Zuschauer den Bezugsrahmen für die Wahrnehmung und Deutung der Fernsehsendungen sowie deren Übernahme in den Alltag bereitstellt. Dies gilt dann, wenn während des Fernsehens Äußerungen gemacht werden, die sich auf das Fernsehgerät, das Medium oder die laufenden Sendungen beziehen. Klemm (2000, S. 147 ff.) nennt hier als Tätigkeiten »organisieren, verarbeiten und Verständnis sichern«, die sich über entsprechende Sprachhandlungen äußern. Diese Tätigkeiten sind für ihn Handlungsfelder der Zuschauerkommunikation. Daneben hat er aus den sprachlichen Äußerungen der Zuschauer noch die Handlungsfelder »deuten, übertragen und einordnen, bewerten und sich vergnügen« herauskristallisiert. Diese Handlungsfelder machen mehr als deutlich, welche große Rolle der lebensweltliche Kontext der Zuschauer, ihr Alltag, ihre biographischen Erfahrungen, ihre Identität und Subjektivität, ihre Norm- und Wertvorstellungen, ihre Moral und ihre ethischen Grundhaltungen in der Rezeption und Aneignung von Fernsehsendungen spielen. Das hat auch Weiß (2001, S. 199 ff.) in seiner theoretischen Aufarbeitung von Erkenntnissen der Rezeptionsforschung noch einmal eindrücklich klargestellt. Er fasst diese Kontexte unter dem Begriff der »Weltanschauung« der Zuschauer zusammen, die als »handlungsleitende Schemata des Alltagsbewusstseins« (ebd., S. 148) dem Fernsehhandeln einen subjektiven Sinn geben. Auf diese Weise wird der Gebrauch nicht nur des Fernsehens, sondern aller Medien strukturiert und organisiert. Denn der »kompetente Gebrauch populärer Filme, Fernsehsendungen oder Videoclips, die die Funktion von ästhetischen Expertensystemen einnehmen, trägt ebenfalls zu einer reflexiven Regulierung des Alltags bei, die aber nicht kognitiv, sondern ästhetisch organisiert ist« (Winter 2001, S. 339).

Es geht dabei nicht nur darum, dass die lebensweltlichen Bezüge in den genannten Handlungsformen in Rezeptionssituationen eine Rolle spielen (vgl. Weiß 2001), sondern dass symbolischem Material der Medien in alltäglichen Handlungsvollzügen eine besondere Bedeutung zukommt. Allseits verfügbare Medien wie das Fernsehen liefern nicht nur Normen und Werte, die angeeignet werden und im Alltag Verwendung finden, sie liefern auch Lebensmodelle und Zielvorstellungen, Präsentationsmuster und Rollenbilder, Muster der Verständigung und Koordinierung von Handlungsplänen. Die Medienspuren sind dabei mehr oder weniger explizit. Wenn Kinder einen öffentlichen Auftritt performen, dann sind Medienbezüge oft sehr explizit. In der Aushandlung von gemeinsamen Plänen und Zielen innerhalb von Beziehungen bzw. Ehen spielen sie oft implizit eine Rolle. Die Medienspuren lassen sich dann nur schwer auffinden.

Die Beispielstudie »TV Living«

In Großbritannien wurde in den 1990er Jahren erstmals eine Langzeitstudie zum Leben mit dem Fernsehen durchgeführt (vgl. Gauntlett/Hill 1999). Das British Film Institute untersuchte zunächst 509 Personen über einen Zeitraum von fünf Jahren, von 1991 bis 1996, von denen im Verlauf der Studie einige absprangen, sodass zum Ende des Projektes noch 427 Personen dabei waren. Die Teilnehmer mussten dreimal pro Jahr ein Fernsehtagebuch ausfüllen und zusätzliche Fragen des Forscherteams beantworten. Es wurde versucht, die Teilnehmer an der Studie so auszuwählen, dass sie repräsentativ für die britische Bevölkerung waren – zumindest was Alter und Geschlecht anbelangte, Schicht und ethnische Zugehörigkeit wurden nicht berücksichtigt. Die Bezugsgröße war nicht mehr wie in früheren deutschen und britischen Studien die Familie, sondern der Haushalt. Das hat gegenüber Familien den Vorteil, dass nicht nur die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und die daraus resultierenden Kommunikations- und Interaktionsstrukturen als relevant für den häuslichen Umgang mit dem Fernsehen erachtet werden, sondern auch die materielle und ökonomische Ausstattung eines Haushalts, die den Fernsehkonsum erst möglich macht (vgl. dazu auch Mikos 1997; Silverstone 1994, S. 43 ff.). Ferner hat der gesellschaftliche Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Haushaltsstrukturen entscheidend verändert. Zwar nimmt die klassische Kleinfamilie immer noch einen relativ großen Stellenwert ein, doch haben sich auch zahlreiche andere Haushaltsformen etabliert: Einpersonenhaushalte, Alleinerziehende, nichteheliche Lebensgemeinschaften hetero- oder homosexueller Paare sowie Wohngemeinschaften. Sie alle wurden in der britischen Studie berücksichtigt.

Interessanter als die generellen Einsichten in die alltägliche Fernsehnutzung sind die Ergebnisse, die sich mit dem Wandel der Fernsehgewohnheiten und der Fernsehnutzung befassen. Dabei sind drei Arten von Änderungen zu unterscheiden: (1) solche, die sich aus einem Bruch oder Wandel im Leben der Menschen ergeben; (2) solche, die sich aus den technologischen und medienpolitischen Veränderungen der Fernsehlandschaft ergeben, und (3) solche, die sich aus veränderten Haltungen und Einstellungen zum Fernsehen ergeben. In der Studie wurde deutlich, wie groß der Einfluss von Umzügen, Ehescheidungen, Studienabschlüssen, Arbeitslosigkeit etc. auf die täglichen Fernsehgewohnheiten ist (Gauntlett/Hill 1999, S. 79 ff.). Das betrifft nicht nur die alltägliche Routine, sondern auch die Zuwendung zu bestimmten Inhalten. Schließlich ist nicht jede Sendung dazu geeignet, Trost zu spenden oder von Sorgen abzulenken. In den Untersuchungszeitraum der Studie fiel die endgültige Durchsetzung der Videorekorder in den Haushalten sowie die Verbreitung von Fernsehen über Kabel und Satellit (ebd., S. 141 ff.). Überraschendes Ergebnis: Die Fernsehnutzung ändert sich auch durch die Vermehrung von Programmen und die andere Art der Verbreitung nicht wesentlich. Die Videorekorder dagegen gestatten den Menschen mehr Verfügbarkeit über ihre Freizeit, da die Möglichkeit besteht, unabhängig von den Programmstrukturen der Sender einzelne Programme aufzuzeichnen und sie sich später anzuschauen. Dabei zeigte sich, wie sehr der Rekorder zu einem Alltagsmedium wurde und sich die untersuchten Personen diese Technologie aneigneten und verfügbar machten. Zugleich schälten sich unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten heraus. Da gab es die Sammler, die ein Archiv mit ihren Lieblingsfilmen anlegten, aber auch die Nutzer, die aufgezeichnete Sendungen sofort nach dem Ansehen wieder löschten. Bei den Sammlern ließen sich Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Personen ausmachen. Während Erstere sich vor allem eine Sammlung von »Kultfilmen« zulegten, zeichneten Letztere vor allem Dokumentationen und künstlerisch anspruchsvolle Programme auf.

Die Untersuchung hat gezeigt, wie sehr das Fernsehen Bestandteil des Alltagslebens geworden ist und wie eigenmächtig die Menschen mit dem und gegenüber dem Medium handeln. Fernsehen wird benutzt, wenn es in den eigenen Alltag und dessen Gewohnheiten passt. Methodisch bleibt anzumerken, dass sich die Forscher nicht selbst ins Feld begaben, sondern lediglich die Daten aus den Tagebüchern ausgewertet und interpretiert haben. Wenn sich die Forscherin jedoch ins Feld begibt, um in direkten Kontakt mit den untersuchten Menschen zu treten, z. B. mittels teilnehmender Beobachtung (→ Mikos, S. 362 ff.), narrativer Interviews (→ Keuneke, S. 302 ff.) oder Gruppendiskussionen (→ Schäffer, S. 347 ff.), sieht sie sich einer Reihe von Problemen gegenüber.