Qualitative Medienforschung

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Habitus I: Theoretische Grundlagen

Ein Beispiel für eine solche Sozialtheorie ist die Soziologie Bourdieus, die den Anspruch hat, alle Spielarten menschlichen Handelns und unterschiedlichste Strukturen erklären zu können und sich deshalb nicht nur in der Mediennutzungsforschung anwenden lässt, sondern in nahezu allen Feldern der Kommunikationswissenschaft (vgl. Wiedemann/Meyen 2013; Park 2014). Bei Bourdieu werden wir von dem Wunsch angetrieben, uns von anderen Menschen abzuheben. »Ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein« und damit »etwas bedeuten«, heiße nichts anderes als »sich unterscheiden« (Bourdieu 1998, S. 22). Real ist für Bourdieu die Beziehung zu den anderen, der Abstand zum Gegenüber. Dieser Abstand wird immer wieder aufs Neue markiert, meist ohne die entsprechenden strategischen Absichten und ohne dass uns dieses Ziel überhaupt klar sein muss. Arenen für solche Kämpfe zwischen Menschen sind soziale Felder, die bei Bourdieu aus Akteuren bestehen (und zwar aus allen, die z. B. Politik betreiben oder Kunst und Literatur erzeugen und verbreiten) sowie aus »den objektiven Beziehungen« zwischen diesen Akteuren (ebd., S. 20). Um das Gewicht des einzelnen Akteurs und damit seinen Handlungsspielraum messen zu können, arbeitet Bourdieu mit dem Kapital-Konzept und unterscheidet vier Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, vgl. Wiedemann 2014, S. 89). Die Begriffe »Feld« und »Kapital« gehören zusammen, weil in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und weil in den einzelnen Feldern jeweils spezifische Formen von Kapital entstehen.

Die beiden anderen zentralen Denkwerkzeuge Bourdieus werden hier erwähnt, weil der Habitus untrennbar mit der Kapitalausstattung verbunden ist sowie mit den sozialen Feldern, in denen sich Menschen bewegen. Unsere Erfahrungen, die sich in den Habitus einschreiben, hängen von der Position ab (in sozialen Feldern, im sozialen Raum) sowie von den verfügbaren Kapitalien. Bei Bourdieu (1987a, S. 277) ist der Habitus der Rahmen für Handlungen, Einstellungen zu Handlungen und Ursachen von Handlungen – das »Erklärungsprinzip«, auf dem alles basiert und von dem alles abhängt. Das Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen (etwa in der Kindheit) spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Obwohl der Habitus durch die Gesellschaft und durch die Stellung im sozialen Raum geprägt ist und obwohl die jeweils verfügbaren Ressourcen Handlungsgrenzen markieren, gesteht Bourdieu dem Menschen innerhalb dieser Grenzen sehr wohl Freiheit, Individualität und die Chance auf Innovationen zu. Der Habitus legt noch nicht »die Praktiken an sich« fest, sondern lediglich den »Spielraum«, in dem sich ein Akteur bewegt (Schwingel 2005, S. 69): Was ist möglich und was nicht? Welche Dinge schockieren uns, was ist undenkbar und was würden wir garantiert nie tun? Dieser Spielraum ist allerdings deutlich kleiner als in den extremen Varianten des Lebensstil-Konzepts.

Um konkrete Praxisformen (wie etwa die Nutzung einer Onlinezeitung, die Arbeit eines Nachrichtenredakteurs oder die Verwendung bestimmter Methoden in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung) beschreiben und untersuchen zu können, hat Bourdieu vorgeschlagen, den Habitus analytisch zu teilen – in ein Opus operatum und einen Modus Operandi. Der Modus Operandi (wie und warum handelt man?) wird dabei durch das Opus operatum definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an äußerlichen Merkmalen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen, Körpergröße), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie, Kinder, Kapitalausstattung, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Anders ausgedrückt: Im Opus operatum (im »Ursprung« des Habitus) wird die soziale Position sichtbar. Der Kapitalbesitz einer Person wird inkorporiert und so in dauerhaften Dispositionen Teil des Habitus – Bildung beispielsweise als kulturelles Kapital. Das System dieser Dispositionen ist nicht starr, sondern wird immer wieder modifiziert (vgl. Bourdieu 1987b, S. 105–107).

Im Modus Operandi wird der Habitus zum »Erzeugungsprinzip von Praxisformen« (Bourdieu 1976, S. 165). Wie Spieler, die Spielregeln verinnerlicht haben, handeln Menschen entsprechend ihres Habitus, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen (Bourdieu 1998, S. 24). So ist auch »rational« vorherbestimmt (ebd., S. 17), ob jemand regelmäßig online Nachrichten liest oder mit Freunden chattet. Dass wir über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, erfasst Bourdieu mit dem Konzept des »praktischen Sinns«, der wie ein Instinkt funktioniert und Akteuren erlaubt, »auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren« (Bourdieu 1987a, S. 190 f.). Die Habitus-Kapital-Feld-Theorie ist deshalb auch als »goldener Mittelweg« zwischen den »beiden Extremen« beschrieben worden, die soziale Praxis entweder »in einer Mechanik struktureller Zwänge« sehen oder als Ergebnis »freier Entscheidungen« (wie etwa im Lebensstil-Konzept). Habitus (»Leib gewordene Geschichte«) und Feld (»Dingcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse«) gehören bei Bourdieu zusammen, weil »die objektiven sozialen Strukturen den Habitus ebenso strukturieren« wie dieser die Praxis (Schwingel 2005, S. 73 f.).

Folgt man Bourdieu, dann ist menschliches Handeln nicht ohne den Habitus und ohne die soziale Position zu erklären. Das hat Folgen für das Untersuchungsdesign – vor allem für die Kategorien, die meine Untersuchung leiten, und damit dann z. B. auch für den Leitfaden, mit dem ich in Interviews gehe, und für die Ergebnisse, die ich aus entsprechenden Gesprächsprotokollen ableite (vgl. Löblich 2016). Um den praktischen Sinn zu verstehen, den ein Mensch etwa mit der Nutzung von Medienangeboten verbindet (Habitus als Modus Operandi), muss ich wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als Opus operatum), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Außerdem dürften Medienangebote auch genutzt werden, um Kapital zu akkumulieren (Kapitalmanagement), um die eigene Position zu erkennen und um diese Position zu markieren. Diese Form des Identitätsmanagements kann über soziale Netzwerke erfolgen, über Fernsehsendungen oder über Internetseiten für Spezialinteressen – Angebote, die sowohl dazu dienen, Signale in den sozialen Raum zu senden (das ist mein Kapital, diesen Normen und Werten fühle ich mich verpflichtet), als auch diesen Raum zu beobachten und so die eigene Position zu bestimmen. Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sendungen oder Internetangebote versprechen kulturelles und symbolisches Kapital und können darüber hinaus zum sozialen und zum ökonomischen Kapital beitragen (vgl. Meyen u.a. 2009). Bei Bourdieu streben letztlich alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen abzuheben und ihre Position zu verbessern. Da allerdings erstens in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und da die Investition in bestimmte Kapitalarten zweitens auch von der Einschätzung der eigenen Position und damit der Erfolgsaussichten abhängt, unterscheiden sich die Mediennutzer sowohl bei der konkreten Kapitalakkumulation als auch in der Bedeutung, die sie Medien insgesamt oder einzelnen Anwendungen zuschreiben (vgl. Jandura/Meyen 2010).

Habitus II: Anwendungen in der qualitativen Medienforschung

Neben Untersuchungen zur Mediennutzung und zur Medienaneignung (vgl. Meyen 2007; Scherer 2013) wird Bourdieus Soziologie in der qualitativen Medienforschung überall dort genutzt, wo menschliches Handeln im Mittelpunkt steht (vgl. die Überblicksdarstellungen in Park 2014 und Wiedemann 2014 sowie die Beispiel-Arbeiten in Wiedemann/Meyen 2013): in der Journalismusforschung (hier vor allem in Studien zum journalistischen Selbstverständnis, zum Arbeitsalltag in Redaktionen, zu den Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern sowie zur Kodifizierung von journalistischer Qualität), im Bereich Organisationskommunikation und Public Relations (etwa wenn es um den Berufshabitus geht, um die Kapitalformen, die im Feld geschätzt werden, oder um strategische Kommunikation), in der Medieninhaltsforschung (Stichworte Sprache, symbolische Macht und Autorität), in der Mediensystemforschung (Beziehungen zwischen Medienangebot und sozialem Raum) sowie in der wissenschaftssoziologisch orientierten Fachgeschichtsschreibung. Thomas Wiedemann (2012) hat das Habitus-Konzept in seiner Biografie von Walter Hagemann z. B. erstens geholfen, das Untersuchungsmaterial einzuschränken und zu strukturieren, und zweitens intersubjektive Nachvollziehbarkeit gesichert – ein zentrales Qualitätskriterium gerade bei qualitativ angelegten Fallstudien.

Einige Arbeiten nutzen Bourdieus Terminologie auch für Kollektivbiografien. Solche Gruppenporträts stützen sich auf vergleichsweise große Datensätze (etwa: alle Vertreter einer bestimmten Professoren-Generation oder möglichst viele und theoriegeleitet ausgewählte Akteure eines nationalen journalistischen Feldes) und beschreiben eine Art Norm: Wie alt war der »durchschnittliche« Professor oder die »durchschnittliche« Journalistin, als er oder sie in das jeweilige Feld eintraten, welche Qualifikationen und welche Herkunft waren für die erste feste Stelle nötig und wann gab es eine Beförderung? Wie war die Situation 1975, wie 1990 und wie 2010? Die entsprechenden Werte helfen dann, individuelle Karrieren einzuordnen und zu bewerten. Die Beschreibung eines Kollektiv-Habitus macht auch deshalb Sinn, weil sich die Position der sozialen Felder im sozialen Raum genauso unterscheidet wie die Position von Subfeldern oder Akteuren in einem bestimmten Feld selbst. Kommunikationswissenschaft und Medienforschung z. B. sind im wissenschaftlichen Feld eher in einer untergeordneten Position zu finden (im Vergleich zu Leitdisziplinen wie Biologie, Hirnforschung oder Physik) – mit Folgen für den Habitus aller Fachvertreter. Den entsprechenden Mechanismus kann man auch in einer Kollektivbiografie von DDR-Journalisten studieren, die Michael Meyen und Anke Fiedler (2013) konstruiert haben. Quelle waren 121 Lebensläufe, die zum einen mithilfe von Memoiren und weiteren biografischen Quellen zusammengestellt wurden und zum anderen über persönliche Interviews. Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit sicherten hier ganz ähnlich wie bei Thomas Wiedemann (2012) Kategorien, die der Soziologie Bourdieus entlehnt wurden und vor allem auf den Habitus der Journalisten zielten.

 

Der kollektivbiografische Ansatz wird auch von Klaus Beck, Till Büser und Christiane Schubert (2016) aufgenommen, die für die Analyse von Mediengenerationen die Konzepte Feld der Medien, mediales Kapital und medialer Habitus entwickelt und genutzt haben. Während in dieser Studie alle Medienakteure zum Feld der Medien gehören (professionelle und gelegentliche Kommunikatoren genauso wie Rezipienten), beschreibt der Begriff »mediales Kapital« die Kapitalformen, die in diesem Feld symbolisch wirksam werden. Dazu gehören auf Rezipientenseite z. B. Medienkompetenzen und Geräteausstattung, aber natürlich auch das Eigentum an Medienproduktionsmitteln oder die Fähigkeit von Akteuren oder Gruppen, »mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Öffentlichkeit für sich und die eigenen Belange herzustellen und auf die journalistische Berichterstattung Einfluss zu nehmen« (Beck u. a. 2013, S. 245).

Der Begriff »medialer Habitus« erfasst bei Beck, Büser und Schubert (2013, S. 251) die »mediale Seite des persönlichen Habitus, also alle Dispositionen, Bewertungen, Erfahrungen und Erwartungen mit Bezug zum Medienhandeln«. Weiter im Text: Der mediale Habitus einer Person »beschreibt ein Handlungsrepertoire, einen Spielraum auf dem Handlungsfeld der Medien. Empirischer Mediennutzungsforschung zugänglich sind die Folgen des Habitus in Gestalt des konkreten Medienhandelns und die Interpretationen dieses Handelns durch die Akteure selbst. Diese können in Befragungen, Tiefeninterviews oder Tagebüchern über ihre Medienhandlungen und ihre Dispositionen (als wesentliche Komponenten des Habitus) Auskunft geben« (ebd., S. 251).

Diese Arbeiten von Beck, Büser und Schubert (2013; 2016) werden hier auch deshalb vergleichsweise ausführlich erwähnt, weil sie zeigen, wie die theoretische Perspektive den Untersuchungsgegenstand formt. Mit dem Habitus-Konzept »geraten statt der spontanen Motive, Heuristiken und Kalküle der Mediennutzungsepisode stärker auch die habitualisierten und ritualisierten Formen des Medienhandelns in den Blick« (Beck u. a. 2013, S. 253). Außerdem fragen Mediennutzungsstudien, die auf Bourdieu aufbauen, nach dem »praktischen Sinn des Mediengebrauchs, und zwar aus der Sicht der Akteure: Medienrepertoires, Medienstile und Medienbewertungen stehen dabei im Mittelpunkt« (ebd.).

Auch in den anderen Gegenstandsbereichen qualitativer Medienforschung lässt sich leicht zeigen, dass mit jeder Sozialtheorie nicht nur eine bestimmte Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte verbunden ist, sondern auch eine genuine Erkenntnisperspektive. Theoretische Ansätze sind nicht nur dazu da, falsifiziert zu werden (wie Vertreter des kritischen Rationalismus ihren Jüngern manchmal glauben machen wollen). Theorien stellen zuallererst Begriffe bereit, die einen Zugang zur Realität erlauben (vgl. Wiedemann/ Meyen 2013, S. 9). Wer mit Bourdieu arbeitet, will weder beweisen noch widerlegen, dass es so etwas wie einen Habitus oder soziale Felder gibt. Diese Denkwerkzeuge werden vielmehr genutzt, um die soziale Welt zu analysieren. Dass hier am Beispiel von Bourdieus Habitus-Konzept für die Nutzung von Sozialtheorien in der qualitativen Medienforschung plädiert wird, wurzelt in einem Wissenschaftsverständnis, das sich auf Systematik, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Reflexion stützt (vgl. Meyen u.a. 2011). Dazu gehört, die theoretische Perspektive offenzulegen, die den Zuschnitt des Gegenstandes bestimmt hat. Wie wollte man, um nur auf das Beispiel der Hagemann-Biografie von Thomas Wiedemann (2012) zurückzukommen, die unendliche Fülle eines Lebens zwischen zwei Buchdeckel pressen, wenn nicht mithilfe einer Theorie, die nicht nur die Fragestellung bestimmt, sondern auch die Lebensstationen und Facetten der Persönlichkeit, die man sich näher anschaut (hier: gesehen durch die Habitus-Brille), und damit letztlich sogar die Auswahl der Quellen?

Literatur

Beck, Klaus/Büser, Till/Schubert, Christiane (2013): Medialer Habitus, mediales Kapital, mediales Feld – oder: vom Nutzen Bourdieus für die Mediennutzungsforschung. In: Wiedemann, Thomas/Meyen, Michael (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kommunikationswissenschaft. Internationale Perspektiven. Köln, S. 234–262.

Beck, Klaus/Büser, Till/Schubert, Christiane (2016): Mediengenerationen. Biografische und kollektivbiografische Muster des Medienhandelns. Konstanz.

Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1987a): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1987b): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1998): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz.

Eckert, Matthias/Feuerstein, Sylvia (2015): Veränderung und Grundcharakteristik der Mediennutzertypen. In: Media Perspektiven, H. 11, S. 482–496.

Gleich, Uli (1996): Neuere Ansätze zur Erklärung von Publikumsverhalten. In: Media Perspektiven, H. 11, S. 598–606.

Haas, Alexander (2007): Medienmenüs. Der Zusammenhang zwischen Mediennutzung, SINUS-Milieus und Soziodemographie. München.

Jandura, Olaf/Meyen, Michael (2010): Warum sieht der Osten anders fern? Eine repräsentative Studie zum Zusammenhang zwischen sozialer Position und Mediennutzung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 58, H. 2, S. 208–226.

Löblich, Maria (2016): Theoriegeleitete Forschung in der Kommunikationswissenschaft. In: Averbeck-Lietz, Stefanie/Meyen, Michael (Hrsg.): Handbuch nicht standardisierte Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden, S. 67–80.

Meyen, Michael (2004): Mediennutzung. Mediaforschung, Medienfunktionen, Nutzungsmuster. Konstanz.

Meyen, Michael (2007): Medienwissen und Medienmenüs als kulturelles Kapital und als Distinktionsmerkmale. Eine Typologie der Mediennutzer in Deutschland. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 55, H. 3, S. 333–354.

Meyen, Michael/Fiedler, Anke (2013): Journalists in the German Democratic Republic (GDR). A collective biography. In: Journalism Studies, Jg. 14, H. 3, S. 321–335.

Meyen, Michael/Löblich, Maria/Pfaff-Rüdiger, Senta/Riesmeyer, Claudia (2011): Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden.

Meyen, Michael/Pfaff-Rüdiger, Senta (Hrsg.) (2009): Internet im Alltag. Qualitative Studien zum praktischen Sinn von Onlineangeboten. Münster.

Park, David (2014): Pierre Bourdieu. A Critical Introduction to Media and Communication Theory. New York.

Rosengren, Karl Erik (1996): Inhaltliche Theorien und formale Modelle in der Forschung über individuelle Mediennutzung. In: Hasebrink, Uwe/Krotz, Friedrich (Hrsg.): Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Verständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster. Baden-Baden/Hamburg, S. 13–36.

Scherer, Helmut (2013): Mediennutzung und soziale Distinktion. In: Wiedemann, Thomas/Meyen, Michael (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kommunikationswissenschaft. Internationale Perspektiven. Köln, S. 100–122.

Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.

Schwingel, Markus (2005): Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg.

Wiedemann, Thomas (2012): Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln.

Wiedemann, Thomas (2014): Pierre Bourdieu: Ein internationaler Klassiker der Sozialwissenschaften mit Nutzen für die Kommunikationswissenschaft. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 62, H. 1, S. 83–101.

Wiedemann, Thomas/Meyen, Michael (Hrsg.) (2013): Pierre Bourdieu und die Kommunikationswissenschaft. Internationale Perspektiven. Köln.

Medienhandeln und Medienerleben: Agency und »Doing Media«
SUSANNE EICHNER

Agency und Doing Media verbinden das konkrete Medienerleben mit dem allgemeinen Medienhandeln, verstanden als sinnhaftes soziales Handeln innerhalb der Lebenswelt. Dies beinhaltet die bedeutungsvolle und sinnstiftende Aneignung der rezipierten Inhalte in das eigene Leben, aber auch Wahrnehmungsprozesse und kognitive Informationsverarbeitung im konkreten Rezeptionsprozess, fortlaufende Interpretationsaktivitäten, Partizipations-, Interaktivitäts- oder Spielprozesse, vor- und nachgelagerte Selektionsprozesse, Umdeutungsprozesse oder den kreativen und gestalterischen Umgang mit Medienprodukten. Agency und Doing Media stellen damit ein medienübergreifendes (medien-)handlungstheoretisches Konzept dar, das seine theoretischen Bezugspunkte in der soziologischen Handlungstheorie hat und diese mit kognitionspsychologischen und rezeptionsästhetischen Modellen verbindet.

Agency und Doing Media – Begriffe und Konzepte

Der Begriff »Agency« bezieht sich auf die Handlungsbefähigung, welche Rezipientinnen und Rezipienten in sämtlichen Phasen der Medienkommunikation mit Selektions-, Rezeptionsund Aneignungsprozessen ausüben. Agency ist ein präzisiertes Verständnis der allgemeineren Rezeptionsaktivitäten (»audience activities«) und im weiteren Feld der Medienhandlungstheorien (→ Krotz, S. 94 ff.) verortet. Innerhalb der qualitativ konnotierten handlungstheoretischen Ansätze der Kommunikations- und Medienwissenschaft hat sich die Vorstellung von Rezeption als ein aktiver und sinnstiftender Prozess durchgesetzt. Insbesondere die Einbeziehung des Symbolischen Interaktionismus (Mead 1967; Blumer 1969) und der Semiotik (Pierce 1977; de Saussure 1967/2001) in die Kommunikations- und Medienwissenschaften – nicht zuletzt durch die Cultural Studies – können als zentral für den Paradigmenwechsel vom Transmissionsmodell hin zum Bedeutungsmodell der Medienkommunikation und damit hin zur aktiven Rezipientin gesehen werden (eine frühe Unterscheidung der beiden Richtungen liefert Carey 1989: »transmission model« vs. »ritual model«). Grob lässt sich dieser Entwicklungsprozess über die frühe Medienwirkungsforschung (»Effect Studies« und »Limited Effect Studies«), den Nutzenansatz (»Uses and Gratifications«), die Cultural Studies und schließlich die Medienrezeptionsforschung nachvollziehen (vgl. Butsch 2014; Jensen/Rosengren 1990). Ausgehend von einem Entwurf der machtvollen Massenmedien einerseits, und einem beeinflussbaren Publikum andererseits, bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass Rezipienten dem Einfluss der Medien durchaus etwas entgegenzusetzen haben. So stellte Elihu Katz bereits 1959 die Frage danach, was die Menschen eigentlich mit den Medien machen – und nicht umgekehrt: »What do people do with media?« (Katz 1959, S. 2). In jüngster Zeit werden Fragen der Publikums- bzw. User-Aktivitäten vor dem Hintergrund konvergierender Medienumgebungen und der zunehmend vernetzten Gesellschaft unter neuen Vorzeichen diskutiert. Erlaubt die dialogische Struktur vernetzter Medien mehr Handlungsmacht als lineares Fernsehen, oder sind die Nutzerinnen und Nutzer mehr denn je der Macht der Medien und großen Medienmogulen wie Google und Facebook ausgeliefert?

Neben dem generellen Verständnis des Medien-Rezipienten-Verhältnisses hat Agency noch eine weitere Komponente – die des individuellen Erlebens: Der Psychologe Albert Bandura weist darauf hin, dass ein wesentlicher Aspekt von Agency (ins Deutsche als Selbstwirksamkeit übersetzt) das Kontrollerleben ist, welches wiederum die Essenz des Menschseins selbst sei (Bandura 2001, S. 1). In diesem Zusammenhang kommt dem Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein eine wichtige Bedeutung zu: Um überhaupt in der Lage zu sein, Agency zu erlangen, müssen Menschen sich zunächst als handlungsfähige Subjekte wahrnehmen. Dieses Bewusstsein wird im Laufe des Sozialisationsprozesses erworben. Es beginnt sich zu manifestieren, wenn Kleinkinder zum ersten Mal bemerken, dass sie Objekte manipulieren können, und ist, so lässt sich vermuten, niemals ganz abgeschlossen. Agency ist also einerseits erworben und in ihrer Ausprägung von äußeren determinierenden Faktoren abhängig. Sie ist damit niemals absolut, sondern stets graduell und lässt sich, einmal verfestigt, nur schwer greifen, da Agency-Prozesse sich auf metakognitiver Ebene abspielen. Agency ist also lediglich als generelles Gefühl vorhanden, das sich nur schwer anhand einzelner Handlungen verdinglichen lässt. Andererseits lässt sich anhand empirischer Studien nachweisen, dass Teilnehmerinnen einer experimentellen Studie in der Regel sehr wohl wissen, wann sie in Kontrolle der Ereignisse sind und wann nicht – ungeachtet dessen, ob im Experiment die Resultate manipuliert wurden (Metcalfe/Greene 2007).

 

Diese Untersuchungen zeigen, dass Agency in der Kommunikations- und Medienwissenschaft auf zwei Ebenen Relevanz hat: einerseits, um ein grundlegendes Verständnis von den beteiligten Prozessen von Handlung und von Medienrezeptionsaktivitäten zu erlangen. In diesem Sinn können Rezipienten – egal welchen Mediums – nicht nicht aktiv und handlungsbefähigt sein. Andererseits ermöglicht es, Handlungsbefähigung – Agency – nicht nur als Voraussetzung von Medienkommunikation zu verstehen, sondern auch als eine seiner Erlebensqualitäten. Agency lässt sich unter bestimmten Voraussetzungen ästhetisch erfahren – immer dann, wenn die spezifischen Taktiken der Agency für die Rezipientinnen bewusst oder signifikant werden. Interaktivität, Medienkompetenz, Flow-Erleben oder Partizipation können so als spezifische Varianten von Agency betrachtet werden.

Der Begriff »Doing Media« entlehnt seinen Ursprung aus performativen Ansätzen der Sprach- und Kulturwissenschaft. Der von Candace West und Don Zimmerman (1987) in den 1980er-Jahren geprägte Begriff wurde durch Judith Butler (1990) aufgegriffen und weiter ausdifferenziert. Butler macht insbesondere auf den verkörperlichten Zusammenhang von Bedeutungskonstruktion aufmerksam: Gender ist nicht, es wird sprachlich hergestellt und inkorporiert. Der Begriff »Doing Media« will damit die Aufmerksamkeit für die Vielschichtigkeit von Medienhandlungsprozessen schärfen – einerseits in Bezug auf die Zeitlichkeit (vor, während und nach der konkreten Rezeptionsphase) und die Multiplizität (viele Plattformen, Inhalte, Zugänge oder Formen) von Mediennutzung, andererseits in Bezug auf die Vielschichtigkeit des Handelns selbst, das mindestens kommunikativ und performativ erfolgen kann.