Qualitative Medienforschung

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Vom Handlungsbegriff zu handlungstheoretischen Konzepten

Natürlich bleiben Handlungstheorien nicht dabei stehen, den Begriff des Handelns zu diskutieren. Vielmehr versuchen sie, ihre Handlungsorientierung zu begründen und darauf unter Verwendung geeigneter Begriffe komplexere Theorien aufzubauen. Dazu entwickeln sie ein Instrumentarium von mehr oder weniger kodifizierten und empirisch fruchtbaren Konzepten, die sich als Bedingungen und Konsequenzen von Handeln begreifen lassen. Dies soll hier exemplarisch am Beispiel des Symbolischen Interaktionismus skizziert werden (vgl. auch Charon 1979; Krotz 2001a)

• Zunächst hängt jedes Handeln und Erleben ab vom (symbolischen) Standpunkt des Individuums und damit von der Perspektive, von der aus erlebt und gehandelt wird. Perspektive ist dabei eine spezifische Strukturierung der Wahrnehmung, in der nicht alles gleichberechtigt ist, sondern die einen Ausschnitt als relevant definiert und diesen ordnet.

• Damit hängt eng der Begriff der Situation zusammen, in der Menschen in Bezug zueinander handeln (Goffman 1980; Markowitz 1979). Dabei meint »Situation« die je aktuelle Interaktionsgrundlage, die alle Beteiligten von ihrer Eingangsdefinition aus fortlaufend aushandeln. Situation ist damit einerseits ein prozessuales Konzept, andererseits der stets notwendige Rahmen, mittels dessen abgegrenzt wird, was zu einer Situation gehört und was nicht, was in ihr möglich ist und was nicht. Hier ist auf das so genannte Thomas-Theorem hinzuweisen, nach dem eine Situation nicht objektiv geprüft werden kann (Thomas/Thomas 1973). Vielmehr gilt, dass Menschen auf der Basis ihrer Definition der Situation handeln, die sie für wahr und wirklich halten – Situationen beinhalten dementsprechend objektive Elemente, sind aber immer Subjekt gedeutete Entitäten, weil sie nur dadurch ihre Kraft entfalten.

• Weiter ist auf den Begriff der Rolle hinzuweisen, durch die die Menschen in einer Situation präsent sind, ein Konzept, das auf die Metapher vom sozialen Geschehen als Theater verweist (Goffman 1997). Ebenso wie in jeder Situation beispielsweise Perspektive und Standpunkt das Erleben der beteiligten Individuen einerseits strukturieren, andererseits einschränken, ist auch der Mensch in keiner Situation als abstraktes Ganzes mit seiner gesamten Biographie und Erfahrung, mit seinem »Wesen« präsent. Vielmehr präsentiert er sich immer in einer situativ bezogenen intentionalen Form, einer Rolle, in der ihn die anderen erleben. Deshalb sind Rollen auch nicht nur gespielt, sondern müssen theoretisch und empirisch als situativer Ausdruck von Identität und Person verstanden werden.

• In seinen sozialen und individuellen Beziehungen, in der Vielfalt der erlebten und gestalteten Rollen und in den darin gemachten Erfahrungen und deren Reflexion entwickelt sich der Mensch als Individuum, das sich umgekehrt dann auch wieder in seiner Identität und seinem Selbstverständnis als Prozess präsentiert (Krappmann 1975). Auf die Bedeutung dieses Begriffs im Rahmen von Handlungstheorien kann hier nur knapp verwiesen werden (vgl. auch Winter u. a. 2003).

Qualitativ konnotierte handlungstheoretische Ansätze in der Kommunikationswissenschaft

Die oben skizzierten handlungstheoretischen Ansätze lassen sich in verschiedenen Ausprägungen in der Kommunikationswissenschaft finden. Während die Vorformen der modernen Kommunikationswissenschaft den Menschen zunächst mehr oder weniger als ein Objekt medialer Einflüsse untersucht haben, war in den 50er und 60er Jahren eher vom aktiven Mediennutzer die Rede. In beiden Fällen wurden aber meist objektivierte Handlungstheorien als Basis von Kommunikation vertreten, z. B. von Paul F. Lazarsfeld und später vom Uses-and-Gratifications-Ansatz, der die Wichtigkeit mehr oder weniger überdauernde Bedürfnisse empirisch zu belegen versuchte (Rubin 1994), also ein quantitativ konnotierter handlungstheoretischer Ansatz.

Demgegenüber haben sinn- und bedeutungsbezogene Handlungstheorien in den 70er Jahren in die deutsche Kommunikationswissenschaft Einzug gehalten. So wurde der Symbolische Interaktionismus durch zwei Aufsätze von Will Teichert (1972, 1973) in die deutsche Kommunikationswissenschaft eingeführt (vgl. aber auch Rapp 1973); mit dem so genannten Nutzenansatz hat Karsten Renckstorf (1973) versucht, diesen Ansatz mit quantitativen Methoden zu verbinden. Im Laufe der Zeit liegt eine allmählich anwachsende Zahl von Texten dazu vor, von denen hier nur einige genannt werden können (Altheide/Snow 1979; Fritz 1991; Fry/Alexander/ Fry 1989; Höflich 1979; Krotz 2001a; vgl. auch Krotz 2001b). Auch die Verwendung entdeckender empirischer Methoden (Glaser/Strauss 1967; Kleining 1995) nimmt zu.

Auf phänomenologische und auf hermeneutische Forschung bezogene Handlungstheorien finden sich ebenfalls in der deutschen Kommunikationswissenschaft. Zu ihnen sind beispielsweise konversationsanalytische Untersuchungen zu rechnen, wie sie von Angela Keppler (1994) oder Ruth Ayaß (1997, → Ayaß, S. 416 ff.) betrieben werden. Danach manifestiert sich die Bedeutung von Medien primär im Sprechen über ihre Inhalte, das von daher als Untersuchungsobjekt im Vordergrund steht. Im Anschluss daran kann man auch auf die Untersuchungen von Reichertz (1997) und Hitzler (1997) verweisen. Mit der so genannten strukturanalytischen Rezeptionsforschung, die sich des Verfahrens der Objektiven Hermeneutik von Oevermann bedient, haben Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun sowie ihre Mitarbeiterinnen (1990) den Medienumgang von kleinen Kindern in ihrer sozialisatorischen Bedeutung untersucht; andere Untersuchungen dieser Art fanden im Bereich der Medienpädagogik und etwa der Computerspiele statt. Ethnographische und am handlungstheoretischen Ansatz der Cultural Studies orientierte Arbeiten (→ Winter, S. 86 ff. und 588 ff.) finden sich etwa von der soziologisch arbeitenden Trierer Forschungsgruppe um Waldemar Vogelgesang, die sich mit (auch) medial konstituierten Jugendszenen beschäftigen (Vogelgesang 1996; Hepp 1998). Zu nennen ist hier auch das im Rahmen der Genderforschung gesammelte empirische und theoretische Wissen, das für qualitativ konnotierte handlungstheoretische Ansätze eine große Rolle spielt (vgl. z. B. Röser 2002), wobei hier aber nicht immer von einer handlungstheoretischen Konzeption ausgegangen wird. Zudem findet sich eine Reihe kommunikationswissenschaftlich angelegter Studien in psychoanalytischen bzw. sonstigen qualitativ konnotierten Bezugssystemen (Hipfl 1997; Holly/Püschel 1993; Zeul 1994).

Literatur

Altheide, David L./Snow, Robert P. (1979): Media logic. London.

Ayaß, Ruth (1997): Das Wort zum Sonntag: Fallstudie einer kirchlichen Sendereihe. Stuttgart.

Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.

Blumer, Herbert (1973): Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 1. Reinbek, S. 80–146.

Burkart, Roland (1995): Kommunikationswissenschaft: Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 2. Auflage Köln.

Burkitt, Ian (1991): Social Selves. London.

Charlton, Michael/Neumann, Klaus (1990): Medienrezeption und Identitätsbildung. Kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter, in Zusammenarbeit mit Barbara Brauch, Waltraud Orlik und Ruthild Rapp. Tübingen.

Charon, Joel M. (1979): Symbolic Interactionism. Englewood Cliffs.

Felsch, Anke/Küpper, Wille (1998): Handlungstheorie. In: Grubitzsch, Siegfried/Weber, Klaus (Hrsg.): Psychologische Grundbegriffe. Ein Handbuch. Reinbek, S. 224–226.

Fritz, Angela (1991): Handeln in Kommunikationssituationen. Versuch einer induktiven Modellbildung. In: Publizistik 36 (1991) 1, S. 5–21.

Fry, Virginia H./Alexander, Alison/Fry, Donald I. (1989): The Stigmatized Self as Media Consumer. In: Studies in Symbolic Interaction 10, S. 339–350.

Garfinkel, Harold (1973): Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Band 1. Reinbek, S. 189–262.

Geertz, Clifford (1991): Dichte Beschreibung, 2. Auflage Frankfurt a. M.

Glaser, Barney G./Strauss, Anselm Leonard (1967): The Discovery of Grounded Theory. New York.

Goffman, Erving (1980): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M.

Goffman, Erving (1997): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1. Auflage 1983). München.

Habermas, Jürgen (1987): Theorie kommunikativen Handelns, 2 Bände, 4. Auflage Frankfurt a. M.

Hepp, Andreas (1998): Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus Perspektive der Cultural Studies. Opladen/Wiesbaden.

Hipfl, Brigitte (1997): Inszenierung des Begeherens. In: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hrsg.): Kultur – Medien – Macht. Opladen.

Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M.

Hitzler, Roland/Hohner, Anne (Hrsg.) (1997): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen.

Höflich, Joachim R. (1997): Zwischen massenmedialer und technisch vermittelter interpersonaler Kommunikation – der Computer als Hybridmedium und was die Menschen damit machen. In: Beck, Klaus/Vowe, Gerhard (Hrsg.) (1997): Computernetze – ein Medium öffentlicher Kommunikation? Berlin, S. 85–104.

 

Holly, Werner/Püschel, Ulrich (Hrsg.) (1993): Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung. Opladen.

Horton, David/Wohl, R. R. (1956): Mass Communication and Para-Social Interaction. In: Psychiatry 19 (1956) 3, S. 215–229.

Horton, Donald/Strauss, Anselm (1957): Interaction in Audience-Participation Shows. In: American Journal of Sociologiy 62(6), 579–587.

Jäckel, Michael (1996): Wahlfreiheit in der Fernsehnutzung. Opladen.

Joas, Hans (1989): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead. Frankfurt a. M.

Keppler, Angela (1994). Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt a. M.

Kleining, Gerhard (1995): Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Band 1. Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim.

Krappmann, Lothar (1975): Soziologische Dimensionen der Identität. 4. Auflage Stuttgart.

Krotz, Friedrich (2001a): Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien. Opladen.

Krotz, Friedrich (2001b): Der Symbolische Interaktionismus und die Medien: Zum hoffnungsvollen Stand einer schwierigen Beziehung. In: Rössler, Patrick/Hasebrink, Uwe/Jäckel, Michael (Hrsg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. München, S. 73–95.

Lorenzer, Alfred (1972): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.

Lüdtke, Hartmut (1978): Handlungstheorie. In: Rammstedt u. a. (1978): Lexikon zur Soziologie. Opladen, S. 268–269.

Markowitz, Jürgen (1979): Die soziale Situation. Frankfurt a. M.

McQuail, Denis (1994): Mass Communication Theory. Third edition London u. a.

Mead, George Herbert (1969): Philosophie der Sozialität. Franfkurt a. M.

Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried J./Siegfried Weischenberg (Hrsg.) (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen.

Oevermann, Ulrich 1983: Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse. In: v. Friedeburg, Ludwig/J. Habermas, Jürgen (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a. M., S. 234–289.

Rapp, Uri (1973): Handeln und Zuschauen. Darmstadt/Neuwied.

Reichertz, Jo (1997): Objektive Hermeneutik. In: Hitzler, Roland/Hohner, Anne (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen, S. 31–56.

Renckstorf, Karsten (1973): Alternative Ansätze der Massenkommunikationsforschung. In: Rundfunk und Fernsehen 21, S. 183–197.

Röser, Jutta (2000): Fernsehgewalt im häuslichen Kontext. Wiesbaden.

Rubin, Alan M. (1994): Media uses and effects: A Uses-and-Gratifications perspective. In: Bryant, Jennings/Zillmann, Dolf (Hrsg.): Media effects: advances in theory and research. Hillsdale, S. 417–436.

Schütz, Alfred (1971): Gesammelte Aufsätze. 2 Bände. Den Haag.

Storey, John (1998): An Introduction to Cultural Theory and Popular Culture. Second Edition Athens.

Teichert, Will (1972): ›Fernsehen‹ als soziales Handeln. In: Rundfunk und Fernsehen 20 (1972), S. 421–439.

Teichert, Will (1973): ›Fernsehen‹ als soziales Handeln (2). In: Rundfunk und Fernsehen 23 (1973), S. 356–382.

Thomas, William I./Thomas, Dorothy S. (1973): Die Definition der Situation. In: Steinert, Heinz (Hrsg.): Symbolische Interaktion. Stuttgart, S. 333–335.

Vogelgesang, Waldemar (1996): Jugendmedien und Jugendszenen. In: Rundfunk und Fernsehen 44, S. 346–364.

Weber, Max (1978): Soziologische Grundbegriffe. Tübingen.

Winter, Carsten/Thomas, Tanja/Hepp, Andreas (Hrsg.) (2003): Medienidentitäten. Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur. Köln.

Zeul, Mechthild (1994): Bilder des Unbewußten. Zur Geschichte der psychoanalytischen Filmtheorie. In: Psyche XLVIII. 11, S. 975–1003.

Habitus und Lebensstil
MICHAEL MEYEN

Die Konzepte Habitus und Lebensstil rücken zwar beide das Individuum in den Mittelpunkt, stammen aber aus unterschiedlichen Theorietraditionen und sind in der qualitativen Medienforschung auch unterschiedlich stark verankert. Während der Begriff »Lebensstil« den Spielraum bei der Gestaltung des Lebens betont, deshalb vor allem in Studien zu Konsum und Freizeit genutzt wird und dort die traditionellen Merkmale sozialer Ungleichheit ergänzt oder ersetzt (etwa: Alter, Geschlecht und Einkommen), zielt Pierre Bourdieus Schlüsselbegriff »Habitus« auf die sozialen Bedingungen unserer Entscheidungen. Was wir tun und wie wir denken, hängt hier von den Erfahrungen ab, die wir aufgrund unserer sozialen Position gemacht haben. Das Habitus-Konzept ist so sehr gut mit den Prinzipien qualitativer Forschung vereinbar und wird überall da eingesetzt, wo es um menschliches Handeln geht.

Theoretisch-methodologische Einordnung

Habitus und Lebensstil in einem Beitrag für das Handbuch Qualitative Medienforschung gemeinsam zu behandeln, gleicht auf den ersten Blick der Quadratur des Kreises. Beide Konzepte zielen zwar auf das Individuum, und es gibt einige Autoren, die Habitus mit »Stil« übersetzen und auch den Begriff »Lebensstil« verwenden, wenn sie mit Bourdieu das Handeln von Personen empirisch untersuchen (vgl. Beck u.a. 2013, S. 239), eigentlich aber handelt es sich um zwei getrennte Forschungstraditionen, die das Verhältnis von Akteur und Struktur unterschiedlich konzeptualisieren und in der qualitativen Forschung auch nicht gleich stark verankert sind.

Wer sich mit Lebensstilen beschäftigt, streicht normalerweise die Rolle des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen heraus und nimmt an, dass wir in unserem Handeln mehr oder weniger frei gewählten Überzeugungen folgen. Dieses Konzept findet sich vor allem in der Mediennutzungsforschung und wird häufig mit quantifizierenden und elaborierten datenanalytischen Verfahren verknüpft. Der Begriff hat seine Wurzeln zwar in der klassischen Sozialwissenschaft (Thorstein Veblen, Georg Simmel, Max Weber), wird heute in der Marktforschung aber häufig einfach als Verhaltensmuster im Konsum- und Freizeitbereich definiert und dabei manchmal auch in »soziales Milieu« übersetzt. Einem solchen Milieu werden die Menschen nach ihren Aktivitäten, Werten oder Einstellungen zugeordnet.

Auch der Begriff »Habitus« hat eine lange ideengeschichtliche Tradition, wird aber heute vor allem mit der Soziologie Pierre Bourdieus verbunden (vgl. Wiedemann 2014, S. 88). Habitus steht dort für den Versuch, den Dualismus von Handeln und Struktur zu überwinden (vgl. Park 2014, S. 3), und wird in der Literatur deshalb auch als Mittelweg »zwischen Subjektivismus und Objektivismus« beschrieben (Schwingel 2005, S. 73 f.). Von Anhängern des Lebensstil-Konzepts ist Bourdieu vorgeworfen worden, den Menschen zum Gefangenen der gesellschaftlichen Strukturen und vor allem seiner sozialen Position zu machen. Diese Vorwürfe sind richtig und falsch zugleich. Wenn man annimmt, dass soziale Unterschiede nahezu unbedeutend geworden sind und dass deshalb heute jeder Mensch relativ frei von den Vorgaben einer sozialen Position und ohne Not im »Raum der Möglichkeiten« seinen eigenen Lebensentwurf wählt, dann kann man mit Bourdieu nicht viel anfangen (vgl. Schulze 1992). Der Habitus ist bei ihm nicht angeboren, sondern speist sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht. Diese (individuellen und kollektiven) Erfahrungen wiederum hängen in erster Linie von der sozialen Position ab und führen zu »Systemen dauerhafter Dispositionen«, die als »strukturierende Strukturen« wirken (Bourdieu 1976, S. 165), als »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987a, S. 101). Übersetzt: Der Habitus legt fest, was möglich ist – wie ein Akteur die Welt wahrnimmt, wie er andere bewertet, welchen Geschmack er hat, wie er denkt und handelt, wie er seinen Körper präsentiert und wie er sich bewegt (Bourdieu 1976, S. 165–167). Bourdieu selbst hat zwar jede Festlegung auf ein bestimmtes methodologisches Lager abgelehnt und z. B. auch mit Statistiken gearbeitet (vgl. Park 2014), gerade das Habitus-Konzept aber, das versucht, individuelles Handeln mithilfe der Lebensgeschichte zu erklären, legt einen qualitativen Zugang nahe.

Lebensstil

Der Lebensstil-Begriff wurde in den 1960er-Jahren wiederbelebt, um Umfrageergebnisse besser strukturieren und so das Kaufverhalten genauer vorhersagen zu können (vgl. Meyen 2004, S. 41–43). Offenbar genügten die traditionellen Merkmale sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Beruf, sozialer Status, Bildung, Geschlecht, Alter und Wohnortgröße nicht mehr. Die entsprechenden Typologien sind ebenso bekannt wie die Versuche, möglichst griffige Bezeichnungen zu finden. Da steht der »Spaßorientierte« dem »Häuslichen« gegenüber, der »Sachbearbeiter« aus dem Harmonie- dem »Studenten« aus dem Selbstverwirklichungsmilieu und der »flexible Privatfunk-Nutzer« dem »Medien- und Kulturvermeider«. Schon diese Namensvielfalt lässt das Problem ahnen: Was taugen solche Typologien? Diese Frage stellt sich umso schärfer, wenn man erstens weiß, dass die Ergebnisse von Cluster- oder Faktorenanalysen stark von den Vorgaben der Forscher abhängen, und zweitens die Interessen berücksichtigt, die z. B. hinter der Mediennutzertypologie von ARD und ZDF stehen (Vermarktung von Werbezeiten, vgl. Eckert/Feuerstein 2015). Alexander Haas hat untersucht, ob sich ein Medienmenü (alles, was ein Nutzer insgesamt an Medienangeboten nutzt) besser über die klassischen soziodemografischen Merkmale erklären lässt oder über Lebensstil-Modelle (hier am Beispiel der Sinus-Milieus). Das Ergebnis fiel eindeutig zugunsten der Soziodemografie aus (vgl. Haas 2007). Die Konsumentenforschung wusste schon vor 20 Jahren (also lange vor dem Trend zur Singularisierung), dass sich ein Drittel der Menschen und mehr anders verhalten als der Typ, zu dem sie eigentlich gehören müssten (Gleich 1996, S. 603).

Der schwedische Kommunikationswissenschaftler Karl Erik Rosengren (1996) hat das Konzept des Lebensstils modifiziert und darauf hingewiesen, dass alle Handlungen (und damit auch die Nutzung von Medienangeboten) durch strukturelle, positionelle und individuelle Merkmale und Bedingungen determiniert seien. Rosengren hat drei Typen von Handlungsmustern unterschieden:

Lebensformen sind dabei strukturell bestimmt – Handlungsmuster, die Menschen, die in Industriegesellschaften leben, von denen in Agrargesellschaften unterscheiden, Großstadt- von Dorfbewohnern und muslimische Länder von der westlichen Welt.

Der Begriff »Lebensweise« zielt auf die Position des Menschen, auf Geschlecht, Schicht, Alter und Bildung. Die Hochschullehrerin abonniert andere Zeitungen als der Fernfahrer (oder würde es zumindest gern, wenn sie denn Zeit zum Lesen hätte), und ein 17-Jähriger, der auf ganz verschiedenen Gebieten noch auf der Suche ist, hat andere Bedürfnisse als eine 80-Jährige, die kein Wissen mehr akkumulieren muss und die niemand mehr fragt, welche Bücher sie gerade liest.

Als Lebensstile bezeichnete Rosengren dagegen die Handlungsmuster, die individuell bestimmt sind und nicht von der gesellschaftlichen Struktur und von der Position, die der Mensch gerade besetzt – Handlungsmuster, die der Einzelne mehr oder weniger bewusst selbst gestaltet und bei denen er seinen Werten und Überzeugungen folgt.

Natürlich gibt es weder Lebensformen noch Lebensweisen oder Lebensstile in Reinkultur. Alltagshandeln ist vielmehr immer eine Mischung aus allen drei Arten von Handlungsmustern. Rosengren hat deshalb davor gewarnt, den hier definierten »Lebensstil« mit Lebensmustern einzelner Menschen zu verwechseln. Der persönliche Lebensstil sei etwas ganz anderes. Mit Rosengrens Modell lässt sich vor allem der Einfluss individueller Merkmale bestimmen und die Frage beantworten, welchen Spielraum der Mensch bei der Gestaltung seines Lebens hat. Wie wirkt sich beispielsweise der Wert »Sicherheit in der Familie« auf den Musikgeschmack aus – wie stark im Vergleich mit positionellen Merkmalen (Geschlecht, Schicht, Bildung), wie stark im Vergleich mit strukturellen Merkmalen (Leben in der Großstadt etwa)?

 

In der qualitativen Medienforschung eignet sich das Modell nicht nur für die Erklärung unterschiedlicher Muster im Umgang mit Medienangeboten, sondern auch für die Auswahl von Untersuchungsteilnehmern. Mit seinen Begriffen »Lebensform« und »Lebensweise« liefert Rosengren Hinweise auf Determinanten der Mediennutzung und damit mögliche Kriterien für Studien, die mit dem Verfahren der theoretischen Auswahl arbeiten (vgl. Meyen u.a. 2011, S. 67–73). Das Wort »Hinweise« ist dabei mit Bedacht gewählt. Es ist zwar einleuchtend, dass strukturelle und positionelle Merkmale und Bedingungen alle Handlungen mitbestimmen, die Skala der möglichen Faktoren aber scheint nach oben offen zu sein. Rosengren selbst hat die positionellen Merkmale Alter, Geschlecht, Bildung und Stellung im Beruf genannt. Wie sieht es mit dem Einkommen aus, wie mit Zahl und Alter der Kinder sowie mit der Familiengröße? Ist nicht der Begriff »Lebensphase« viel besser als »Alter«? In einem Vierpersonenhaushalt mit zwei Kleinkindern läuft der Alltag ganz anders als bei einem Single. Bei den strukturellen Determinanten ist Rosengren noch allgemeiner geblieben und hat nur drei Bereiche aufgezählt: den Grad der Industrialisierung, die Urbanisierung und die Religion. Deckt dies die gesamte Bandbreite ab? Welche Rolle spielen Traditionen (beim Thema Mediennutzung auch überlieferte Rezeptionsmuster), welche das politische System und das Medienangebot und welche das Klima, die Geografie und die Bevölkerungsdichte? Diese Fragen sollen zeigen, dass hinter dem Lebensstil-Modell von Rosengren ein ähnliches Problem steht wie hinter vielen Arbeiten aus der Uses-and-Gratifications-Tradition (vgl. Meyen 2004, S. 15–48): Es fehlt eine Sozialtheorie, die das Verhältnis von Handeln und Struktur konzeptualisiert und damit erlaubt, Untersuchungsdesign und Ergebnisse nachzuvollziehen.