Qualitative Medienforschung

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Anmerkungen

1 Durchaus vergleichbar mit dieser wichtigen Unterscheidung ist der Vorschlag Bohnsacks, bei der Interpretation von Bildern zu unterscheiden zwischen dem, was dargestellt wird, und der Art und Weise, wie etwas dargestellt wird (vgl. Bohnsack 2003a, S. 155–172 und 2003b).

2 Aktuell, also Anfang 2016, findet sich kein Gruppenbild mehr auf der Homepage der Firma, sondern die Personen werden einzelnen mit einem klassischen Passbild visualisiert.

Literatur

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Kommunikative Gattungen
ANGELA KEPPLER

Die ursprünglich in einem soziologischen Rahmen entwickelte Theorie kommunikativer Gattungen hat sich als tragfähig auch für eine qualitative Untersuchung der medialen Kommunikation erwiesen. Mit dieser Theorie ist zugleich ein methodisches Programm verbunden, das es ermöglicht, Kontexte, Strukturelemente und Muster kommunikativer Vorgänge systematisch zu beschreiben. Kommunikative Gattungen werden hierbei als für eine gewisse Dauer feststehende Prozeduren der Rede verstanden, für die bestimmte Arten der Ausbildung und des Austauschs von Informationen und Orientierungen aktualisiert werden. Überträgt man diesen Zugang auf eine Analyse medialer Kommunikation, so muss die spezifische Verbindung aus verbalen und nonverbalen, aus inszenatorischen und dramaturgischen Elementen der entsprechenden Produkte berücksichtigt werden. Eine derart erweiterte Theorie kommunikativer Gattungen ermöglicht zugleich eine umfassende empirische Untersuchung des kommunikativen Haushalts gegenwärtiger Gesellschaften.

Gattungstheorien

Mit dem Gattungs- bzw. Genrebegriff, der in einer Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen – von der Biologie über die Sprachwissenschaften bis hin zur bildenden Kunst und Literaturwissenschaft – Verwendung findet, sind in den jeweiligen Wissenschaften recht unterschiedliche Vorstellungen verbunden. Gemeinsam ist den insgesamt höchst heterogenen Gattungskonzepten, dass sie sich in erster Linie als Klassifikationssysteme verstehen. Im Bereich der Medienwissenschaften zielen Gattungskonzepte dementsprechend darauf ab, Formen technisch vermittelter Kommunikation zu differenzieren und zu charakterisieren.

Die Gattungsforschung im Bereich der Kommunikation blickt auf eine lange Tradition zurück. Untersuchungen von »genera dicendi« in der Rhetorik und Forschungen zur biblischen Formengeschichte in der Theologie sind erste Anfänge. Im 20. Jahrhundert bildeten sich dann recht unterschiedliche Strömungen heraus. Die bekannteste und umfangreichste ist die literaturwissenschaftliche Gattungsforschung, die sich vorwiegend auf schriftsprachlich konstituierte Texte der Hochkultur konzentriert. Die medienwissenschaftliche Gattungsforschung lehnt sich in einem hohen Maß an literaturwissenschaftliche Gattungs- und Genrekonzeptionen an. So sieht etwa David Duff (2000) einen engen Zusammenhang zwischen literarischen und filmischen Gattungen, wenn er den Begriff des Genres wie folgt erläutert:

 

»A recurring type or category of text, as defined by structural, thematic and/or functional criteria. A term increasingly used in the classification of non-literary (and non-written) as well as literary texts; notably films and media programmes.« (ebd., S. xiii)

Einigkeit herrscht in der Medienwissenschaft vor allem darin, dass Klassifizierungen für kommunikative Formen auf gemeinsamen Merkmalen beruhen, die sich vor dem Hintergrund typischer Stoffgruppen, Themen, Motive und Erzählmuster ergeben (vgl. Schweinitz 1994). Die zahlreichen filmwissenschaftlichen Genreanalysen haben sich entsprechend mit den klassischen Genres des Kinos und ihren Transformationen beschäftigt. Auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung entwickelten sich diverse Richtungen, die sich mit Textgattungen befassen. Insbesondere Ansätze innerhalb der angewandten Linguistik beziehen sich – ähnlich wie die der literaturwissenschaftlichen Tradition – auf schriftsprachlich konstituierte Texte. Texte werden in aller Regel daraufhin untersucht, inwieweit sie einer prototypischen Gattung entsprechen. Erst im Rahmen der Textlinguistik wurden auch mündliche Textgattungen in die Analysen miteinbezogen. Anders hingegen verfahren Forschungsrichtungen, die ihren Forschungsgegenstand vor allem – aber nicht ausschließlich – in mündlichen Formen der Kommunikation sehen, wie etwa die folkloristische bzw. volkskundliche Gattungsforschung. Besonders zu erwähnen ist hier die Untersuchung von André Jolles (1974) zu »einfachen Formen« der Rede, die für das Konzept der Theorie kommunikativer Gattungen eine wichtige Inspirationsquelle darstellte. Aus der Tradition der linguistischen Anthropologie ist darüber hinaus die von Dell Hymes geprägte Forschungsrichtung der Ethnographie der Kommunikation zu nennen, deren zentrales Anliegen eine Beschreibung des Sprechens in sozialen Situationen ist. Dell Hymes (1979) ging es vor allem darum, dass sprachliche Strukturen und sozialer Kontext immer in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander begriffen werden müssen (vgl. dazu auch Gumperz/Hymes 1964). Auch von diesen Studien gingen entscheidende Impulse für das soziologische Konzept der kommunikativen Gattungen aus.

»Kommunikative Gattungen«

Angeregt von Jolles, Hymes, aber auch z. B. von Überlegungen Valentin N. Volosinovs (1975) bzw. Mikhail M. Bachtins (1986), die Gattungen als interaktive Handlungsmuster und vor allem als Bindeglieder zwischen Gesellschaft und Sprache betrachten, entwickelten Thomas Luckmann und Jörg Bergmann innerhalb der Soziologie das Konzept der kommunikativen Gattungen. Es verbindet Überlegungen der oben genannten Traditionen und stellt sie in einen wissenssoziologischen und handlungstheoretischen Rahmen. Diese Forschungen zur Theorie kommunikativer Gattungen nahmen ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der allgemeinen Struktur kommunikativer Vorgänge, in denen gesellschaftliche Wissensbestände verschiedener Explizitheitsgrade vermittelt werden (Luckmann 1986). In jeder Gesellschaft stellt sich das elementare Problem, wie Ereignisse, Sachverhalte, Wissensinhalte und Erfahrungen in intersubjektiv verbindlicher Weise unter verschiedenen Sinnkriterien thematisiert, vermittelt, bewältigt und tradiert werden können (vgl. Schütz/Luckmann 1984, S. 11 ff.). Für diese Probleme muss es organisierte, d. h. nicht zufällige Lösungen geben. Als kommunikative Gattungen werden solche mehr oder minder wirksamen und verbindlichen »Lösungen« von spezifisch kommunikativen »Problemen« bezeichnet. Sie stellen vorbereitete Arten der interaktiven Bezugnahme dar. In allen Gesellschaften gibt es kommunikative Handlungen, in denen sich der Handelnde schon im Entwurf seines Redebeitrags an einem Gesamtmuster orientiert. Diese kommunikativen Vorgänge weisen in ihrem Ablauf ein hohes Maß an Gleichförmigkeit auf.

»Diese Gleichförmigkeit kann daraus resultieren, dass die Handelnden selbst ein Routinewissen haben über die Form des kommunikativen Geschehens, in dem sie sich gerade befinden, und das sie mit ihrem Tun verwirklichen, indem sie sich an diesen Formvorgaben orientieren.« (Bergmann 1987, S. 35)

Kommunikative Gattungen sind aber selbst »keine Institutionen des Tuns, sondern festgelegte Gesamtmuster des Redens (und allgemeiner: der Kommunikation)« (Luckmann 1986, S. 203).

Das Vorhandensein eines sprach- und handlungsbezogenen Wissens macht es aber keineswegs nötig, dass die Handelnden selbst über eine ausformulierte Gattungstheorie verfügen. So bezeichnet beispielsweise der Terminus »Belehrung« auch ganz alltäglich einen kommunikativen Vorgang, der im analytischen Sinn gattungsnahe Strukturen aufweist. Das heißt aber nicht, dass wir als Alltagsmenschen die Regeln angeben können, nach denen wir verfahren, wenn wir andere belehren, oder dass wir den Grund dafür wüssten, warum wir uns in seltenen Fällen gern, in aller Regel aber sehr ungern belehren lassen. Man muss nicht über die Form und Funktion von Belehrungen Bescheid wissen, um zu wissen, was eine Belehrung ist (Keppler 1989; Keppler/Luckmann 1992). »Dieses Wissen und seine unter Umständen recht elementaren Begrifflichkeiten genügen als erstinstanzliche, empirische Basis für die systematische Anwendung des analytischen Begriffs.« (Luckmann 1986, S. 203)

Das Konzept der kommunikativen Gattungen bezieht sich zwar auf Typisierungsprozesse im Alltagsverstand; der Begriff »kommunikative Gattung« jedoch ist ein Begriff zweiter Ordnung, ein wissenschaftlicher Begriff, der sich in der beschriebenen Weise auf Begriffe erster Ordnung, also solche des Alltagsverstandes, bezieht. Diese »Konstrukte erster Ordnung« (Schütz 1971a, S. 70) müssen bei der typologischen Analyse von kommunikativen Gattungen (»Konstrukten zweiter Ordnung«) berücksichtigt werden, da sie für die Handlungsentwürfe wie für die Handlungsvollzüge der Interagierenden von entscheidender Bedeutung sind. Handelnde orientieren sich in ihrem Handeln an einem solchen vortheoretischen und »ethno«-theoretischen Wissen. Sie sind sich etwa dessen bewusst, dass sich bestimmte kommunikative Gattungen für bestimmte soziale Situationen eignen und für andere nicht. Indem sie als Orientierungsmuster benutzt werden, werden kommunikative Gattungen von den jeweils an der Interaktion Beteiligten auch immer wieder neu reproduziert. In diesem Sinne sind sie »reale kulturelle Objekte«, die einer wissenschaftlichen Deutung zugänglich sind. Wie Hans-Georg Soeffner schreibt, ist »Wissenschaft – und damit sind nicht nur die Sozial- und Geisteswissenschaften gemeint – die organisierte und reflektierte Bearbeitung von Alltagserfahrung, Alltagswissen und Alltagshandeln. Diese – soweit sie dokumentiert, fixiert oder rekonstruierbar sind – stellen für die Wissenschaft ein System von Texten, von Protokollen alltäglichen Handelns dar, die in der wissenschaftlichen Analyse interpretiert, das heißt in den Möglichkeiten ihrer Entfaltung und in ihrer spezifischen historischen Ausformung verstanden werden können.« (Soeffner 1989, S. 23) Die sozialwissenschaftliche Interpretation mehr oder weniger standardisierter Kommunikationsformen ist zu verstehen als distanzierende, systematisierende und begründende Aufdeckung und Erläuterung von Orientierungen, über die die Handelnden, deren Handeln Gegenstand dieser Wissenschaft ist, in einer weit weniger durchsichtigen Form verfügen.

Für die Identifizierung und morphologische Beschreibung kommunikativer Gattungen können nun ganz unterschiedliche Bestimmungsmerkmale relevant sein. Diese reichen von der Phonologie und Prosodie bis hin zu Semantik, Syntax und Stil. Mechanismen der Redezugorganisation und der Sequenzformate spielen dabei ebenso eine Rolle wie spezifische Formen der Wissensautorisierung oder bestimmte Kontextualisierungsprinzipien (wie etwa die Verpflichtung zu einem rezipientenspezifischen Zuschnitt der Äußerungen). Generell unterscheiden sich einzelne kommunikative Gattungen auch durch den Verfestigungsgrad des sequenziellen Ablaufs voneinander, d. h. durch den Grad und das Ausmaß, mit dem sie die Handelnden auf die genaue Befolgung eines vorgezeichneten Kommunikationsmusters verpflichten. Diese Verpflichtung kann sehr starr und rigide sein und den Handelnden wenig Interpretations- und Gestaltungsfreiheit lassen; sie kann aber auch relativ schwach und unverbindlich sein; sie liegt aber immer über der relativen Beliebigkeit gattungsmäßig nicht fixierten (»spontanen«) kommunikativen Handelns. Dabei beeinflusst der Grad der Reglementierung der sozialen Situation im Ganzen auch den Grad der Striktheit der Befolgung gattungsinterner Vorgaben. Welche spezifischen Funktionen kommunikative Gattungen erfüllen und unter welchen Bedingungen es z. B. zu einer gattungsmäßigen Verfestigung kommt – dies sind Fragen, wie sie in der an die Theorie kommunikativer Gattungen anschließenden empirischen Forschung gestellt werden. Deren Ziel ist es, diese kommunikativen Vorgänge in ihrer Formenvielfalt und konkreten Ausprägung im Detail zu beschreiben und theoretisch zu erfassen.

Grundsätzlich gilt aber, dass der Begriff dieser Gattungen immer bezogen ist auf kommunikative Handlungsformen, die auf spezifischem Wissen derer, die sie hervorbringen, beruhen und die als »Muster zur Lösung kommunikativer Probleme gesellschaftlichen Handelns« (Luckmann 1986, S. 200) betrachtet werden müssen. Gattungen sind in diesem Sinn für eine gewisse Dauer feststehende Prozeduren der Kommunikation, für die bestimmte Arten der Ausbildung und des Austauschs von Informationen und Orientierungen aktualisiert werden. Das Repertoire dieser Gattungen und die Formen ihrer Aktualisierung sind zusammen, wie Luckmann auch sagt, konstitutiv für den »kommunikativen Haushalt« einer Gesellschaft, d. h. für die Praktiken, die ihr für die soziale Gewinnung, Aushandlung und Transformation handlungsleitenden Wissens zur Verfügung stehen. Eine qualitative Untersuchung des Bestandes und der jeweiligen Veränderungen dieser Praktiken, so die methodische Folgerung, erlaubt es nicht zuletzt, Prozesse des sozialen Wandels detailliert zu beschreiben.

Methodisches Programm

Mit der Theorie kommunikativer Gattungen ist von ihrer Anlage her ein methodisches Programm verbunden: Dieses fordert dazu auf, Kontexte, Strukturelemente und Muster kommunikativer Vorgänge systematisch zu beschreiben, um auf der Grundlage struktureller Gemeinsamkeiten Typen zu bilden. Hierfür werden grundsätzlich zwei Analyseebenen unterschieden, die Binnenstruktur und die Außenstruktur. Auf der Ebene der Außenstruktur werden allgemeine gesellschaftliche Kontextbedingungen in den Blick genommen, die sich auf die Kommunikation niederschlagen können (z. B. soziale Milieus, Geschlecht, Alter, Status). Auf der Ebene der Binnenstruktur wird die interne Struktur kommunikativer Vorgänge mit ihren typischen Elementen und Mustern untersucht; dazu zählen die nonverbalen wie die verbalen Bestandteile des kommunikativen Geschehens (z. B. Mimik, Gestik, Prosodie oder die Wahl bestimmter Ausdrucksmittel). Mit der »situativen Realisierungsebene«, die im Konzept der kommunikativen Gattungen quasi als eine Zwischenebene eingeführt wurde, wird der besonderen Bedeutung der Phänomene des interaktiven Austauschs und des engeren sozialen Kontextes, in dem die Kommunikation stattfindet, Rechnung getragen (z. B. Zuteilung des Rederechts, Sprecherwechsel, Beziehungsstatus der Interagierenden, Themenentwicklung etc.) (vgl. Bergmann 1987; Keppler 1994; Günthner/Knoblauch 1994; Knoblauch/ Luckmann 2000). Insbesondere hier zeigt sich, dass das Konzept der kommunikativen Gattungen nicht ohne den Einfluss der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Bergmann 1988; 1991) denkbar ist. Die Methode der Konversationsanalyse hat sich in den 1960er-Jahren zunächst vor allem in den USA und England als eigene soziologische Forschungsrichtung aus der Ethnomethodologie heraus entwickelt. Diese wurde entscheidend von den Arbeiten Harold Garfinkels geprägt, aber auch von den Interaktionsanalysen Erving Goffmans. Die Konversationsanalyse konzentrierte sich zunächst hauptsächlich auf die Analyse sogenannter »ordinary conversations«, also auf Alltagsgespräche im weitesten Sinn. Gegenstand der Konversationsanalyse waren hier vor allem Aufzeichnungen von real abgelaufenen »natürlichen« kommunikativen Interaktionssituationen. Die Konversationsanalyse befasst sich dabei nicht mit der Formulierung und dem Testen vorgängiger Hypothesen. Vielmehr ist es ihr Ziel, über induktive Forschungsstrategien die Merkmale und wiederkehrenden Regelmäßigkeiten verbaler und nonverbaler Kommunikation zu identifizieren. Mittlerweile haben sich hier u. a. zahlreiche Forschungsrichtungen etabliert, die sich vor allem der Analyse von Kommunikationen in institutionellen Zusammenhängen widmen. Hier geht es um Kommunikationsformen, in denen mehr oder weniger offizielle oder formalisierte aufgaben- bzw. rollenbezogene Aktivitäten im Mittelpunkt stehen: z. B. um Interaktionen zwischen Arzt und Patient, um Gesprächsstrategien in Gerichtsverhandlungen, um Vorstellungsgespräche, um Unterrichtsstunden in der Schule und in der Universität und schließlich auch um medienspezifische Kommunikationsformen, hier insbesondere im Rahmen von Radio und Fernsehen (Keppler 2011; Ayaß 2004).

 

Ganz ähnlich gilt für das Konzept und die Theorie der kommunikativen Gattungen, dass hier die Untersuchungen von kommunikativen Vorgängen der interpersonalen Face-to-Face-Kommunikation im Mittelpunkt der Betrachtungen standen. Dennoch gab und gibt es von Anfang an Arbeiten, die sich in diesem Kontext auch mit technisch vermittelter Kommunikation auseinandergesetzt haben (vgl. Keppler 1985; Ulmer/Bergmann 1993; Keppler 1994; Ayaß 1997; Schmidt 2000). Diese Analysen verweisen darauf, dass bei einer Analyse von Kommunikationsformen, die im Unterschied zur Face-to-Face-Kommunikation durch technische Medien vermittelt sind, vielfältige Inszenierungsmöglichkeiten über Kameraoperationen oder auch über Einblendungen von Musik und Geräuschen hinzutreten. Diese mediale Mischung aus verbalen und nonverbalen, aus inszenatorischen und dramaturgischen Elementen muss berücksichtigt werden, will man die Theorie kommunikativer Gattungen für die Analyse medial vermittelter Kommunikation adäquat weiterentwickeln. Trotz gravierender Unterschiede lässt sich der Grundgedanke dieses Vorschlags auch auf die Untersuchung medial vermittelter Kommunikation übertragen.1 Denn auch hier haben wir es mit Kommunikationsformen zu tun, die auf ihre Weise Antworten auf kommunikative Probleme oder Bedürfnisse anbieten.