Politik ohne Gott

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Nur wenn man Aufklärung als einen materialen gesellschaftlichen Prozess versteht – und nicht als Erziehungsprozess verkürzt, lassen sich Gesellschaften ohne von außen vorgegebene Maßstäbe vergleichen. Der prekäre Stand missglückter Säkularisierung gibt Aufschluss über das Verhältnis von Auto- und Heteronomie in einer Gesellschaft. In der Tat ging die weltgeschichtliche Modernisierung im 19. Jahrhundert von Europa aus – mit seinem Modell der Trennung von Staat und Kirche. Aber die idealtypische Verknüpfung dieses Modells mit Demokratie und Rationalität ist von Anfang an bürgerliche Ideologie gewesen, die im »short century« Lügen gestraft wurde. Das 20. Jahrhundert ist das eigentliche Zeitalter des Nationalismus geworden, am Anfang stand die Auflösung der dynastischen Reiche, in der Mitte die der Kolonialimperien und am Ende die der Blöcke. Religion gewann in diesen Prozessen eine unterschiedliche Funktion; aber religiöse Unterschiede waren nicht die Ursachen von gesellschaftlichen Konflikten, als die sie von pseudoaufklärerischen Massenmedien interpretiert wurden.

Religiöse Unterschiede begründen keine gesellschaftlichen Konflikte: Weder der säkulare irische Kampf ist aus den unterschiedlichen Gottesdienstformen zu erklären noch lässt sich der jugolslawische Zerfallsprozess aus den unterschiedlichen Religionen von Serben, Kosovaren, Bosniern und Kroaten verstehen. Gesellschaftliche Konflikte wurden nur ethnonationalistisch gedeutet. Die differente Religion wurde von neuen Mittelschichten als Vehikel einer Machtergreifung instrumentalisiert. Das Geld für die vergoldete Moschee in Sarajevo kam aus Saudi-Arabien ebenso wie die massive Unterstützung für den antikommunistischen Arbeiterführer Walesa aus Rom kam.

Die Kombination von Ethnonationalität und Religiosität spielte beim Auflösungsprozess des Realsozialismus eine entscheidende Rolle. Im Kampf um Bosnien-Herzegowina mussten die muslimischen Bosniaken erst geschaffen werden, um neben Kroaten und Serben auftreten zu können. Glaubenslehrer wurden hauptsächlich aus Saudi-Arabien geschickt. Auch im dekolonisierten Algerien ist der Vormarsch der islamistischen FIS als massiver Protest gegen einen enttäuschten arabischen Nationalismus zu erklären. In der arabischen Welt ist der Nationalismus Träger der nationalen Befreiung vom Kolonialismus und des Säkularismus gewesen; die Enttäuschungen über die nationale Unabhängigkeit schlagen bei einem Teil der Gesellschaft in salafistische, djihadistische oder andere islamistische Aktivitäten oder zumindest Sympathien für sie um. Der traditionelle Islam ist in den Augen der Islamisten durch seine Kooperation mit den raffgierigen postkolonialen Eliten diskreditiert. Der Islamismus aber gefährdet als Ethnoislamismus die Einheit der Nation, die auch in der arabischen Welt keineswegs homogen ist. Für ethnoreligiöse Minderheiten, wenn sie nicht separatistisch sind, bedeutet der Islamismus einen Alptraum. Die Subjektivierung der Religion bietet auch Muslimen in der Diaspora, die der traditionelle Islam gar nicht kannte, eine neue Orientierung. Oft ist es ein Generationenkonflikt. Die Migranten brachten eine von der Säkularisierung zerschlissene volkstümliche Version des Islams mit in das Land der Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Islamismus bietet mit einer Reislamisierung von unten, die den Kindern der Migranten, die sich weder mit dem Herkunftsland noch mit der säkularen Gesellschaft, in der sie leben, identifizieren, eine puristische Version des Glaubens an, der den korrumpierten Islam der Väter ablehnt. Wie Olivier Roy erkannt hat: »Fundamentalismus ist ein Mittel der Re-Universalisierung einer Religion (…) Die Religion wird zu einer Neo-Ethnizität.«

Wie es eine Dialektik der Aufklärung gibt, so lässt sich auch eine Dialektik der Säkularisierung erkennen, die Fortschritt von Freiheit und Unterdrückung in gleichem Masse hervorbringt. Das »short century« hat eine Wüste voller Desillusionierungen hinterlassen: An Nationalismus, Rationalismus und Marxismus mag niemand mehr so recht glauben. In dieser Wüste erscheinen immer mehr Prediger, Gurus und Propheten, die mit Charisma Massen orientierungsloser Vereinzelter zu Gefolgschaften formieren. Autodidakten haben unter diesen Neureligösen große Chancen; denn die alten Hierarchien, die auf Macht und Gelehrsamkeit fußten, werden abgelehnt. Erweckungserlebnisse kann jeder haben; deswegen finden demagogische Propheten bei den Erniedrigten und Beleidigten viel Hoffnung. Dem hat das normale Alltagsbewusstsein wenig entgegenzusetzen.

EVELYN FINGER

Das elfte Gebot

Über Religion lässt sich in der Demokratie gut streiten

Manchmal passen Religion und Politik perfekt zusammen. Manchmal sind Kirche und Staat ein schönes Paar. Im Herbst 2012 zum Beispiel, als der deutsche Bundespräsident den deutschen Papst in Rom besuchte und die Oberhäupter zweier gegensätzlicher Welten in derselben Sprache miteinander redeten, konnte es den Deutschen vorkommen, als sei nie etwas Trennendes zwischen diesen Welten gewesen. Der Katholik Joseph Ratzinger hatte zuletzt ein Buch über Jesus geschrieben. Der Protestant Joachim Gauck hatte zuletzt ein Buch über die Freiheit geschrieben. Aber in beider Heimat gehört das ja zusammen. Da sind Gott und Freiheit kein Gegensatz. Da haben Pastoren wie Gauck eine Diktatur gestürzt. Man könnte wirklich denken, Glauben und Demokratie – das passt.

Doch weit gefehlt. Der Glaube fügt sich nicht so ohne Weiteres in die moderne Welt. Unter Benedikt XVI. hat der Vatikan eine Doktrin verabschiedet, die besagt: Demokratie muss auf den Zehn Geboten fußen. Das heißt, der demokratische Staat soll sich zum Gott der Christen bekennen. Erst kommt Gott, dann der Staat. Nicht umgekehrt.

Meinte der deutsche Papst das ernst? Dann trennt ihn von dem Pastor und Freiheitsprediger Gauck ein Abgrund. Es ist der Abgrund zwischen einem Glauben, der sich in den Rechtsstaat einfügt, und einem Glauben, der Sonderrechte beansprucht und Staat machen will. Jetzt werden die politischen Ansprüche von Religion wieder lauter – und wir streiten ständig über Gott. Erstaunlich! Da stehen viele Kirchen leer, und viele Kirchenmitglieder glauben auch nicht mehr so recht an Gott. Doch in der Öffentlichkeit ist Gott das große Thema.

Warum regen uns immer noch Glaubensfragen auf: Ist das Ritual der Beschneidung eine Körperverletzung? Müssen wir die religiösen Gefühle unserer sensibleren Mitbürger gegen Karikaturen schützen? Brauchen wir vielleicht ein Gesetz gegen Blasphemie? Wer darf Kopftuch tragen in der Schule? Wohin hängen wir das Kruzifix? Und ist es nun in Ordnung, dass die Kirchensteuer vom Staat eingezogen wird und steuerlich abgesetzt werden darf, was den Staat jährlich drei Milliarden Euro kostet? – Spannende Debatte, aber man kann sie bald nicht mehr hören. Denn es geht ja jedes Mal um die im Grundgesetz längst beantwortete Frage: Wie viel Glauben verträgt die Demokratie?

An der Spitze der Bundesrepublik wissen sie das genau. Dort steht nicht nur als Präsident ein ehemaliger Pastor, sondern auch als Kanzlerin eine Pfarrerstochter, und bei den Grünen spielt die Kirchentagspräsidentin a. D. Katrin Göring-Eckardt eine entscheidende Rolle. Christliche Politiker genießen in unserer zunehmend entkirchlichten Gesellschaft hohes Ansehen. Und das ist kein Wunder, denn sie verkörpern einen aufgeklärten Glauben, der religiöse Gewissheit und staatsbürgerliche Freiheit versöhnt.

Leider ist die Selbstaufklärung der Religion noch am Anfang. Nicht nur die gewalttätigen Islamisten und die verbotswütigen Evangelikalen führen uns das vor. Wenn der Vatikan sich durchsetzen könnte und die Zehn Gebote würden wirklich für alle Bürger gelten, dann wäre die Demokratie nicht mehr weltanschaulich neutral, und Religionsfreiheit gäbe es auch nicht. Dann hätten wir einen Gottesstaat. Wer aber im Gottesstaat Gott leugnet, ist ein Staatsfeind. So war das im christlichen Absolutismus Europas, so ist das heute im Iran.

Hat der Vatikan das übersehen? Natürlich nicht. Er überträgt einfach den Wahrheitsanspruch der Religion auf die Politik. So gerät er aus dem respektvollen Verhältnis zum Rechtsstaat unversehens in das anmaßende Gebaren einer Glaubensdiktatur. Um das zu verhindern, gibt es im Westen heute eine mehr oder minder strikte Trennung zwischen Kirche und Staat. Diese Trennung erlaubt es den deutschen Katholiken, in ihrer Eigenschaft als Bürger religiöse Weisungen aus Rom zu ignorieren. Trotzdem bleibt da ein Konflikt.

Es ist der Konflikt zwischen den religiösen Geboten und den weltlichen Gesetzen, zwischen der einen Wahrheit und den vielen Meinungen, zwischen der Unanfechtbarkeit einer Heiligen Schrift und der Diskutierbarkeit unserer freiheitlichen Prinzipien. Dieser Konflikt betrifft keineswegs nur die Katholiken. Denn alle großen Religionen vertrauen darauf, dass Gott existiert. Das ist eine absolute Setzung. Und daraus folgen absolute Geltungsansprüche. Sie sind nicht die persönliche Marotte eines Papstes, sondern unausweichlich.

Wer wirklich an Gott glaubt, der muss auch wollen, dass seine Wahrheit gilt. Deshalb ruft der Vatikan katholische Apotheker auf, keine empfängnisverhütenden Mittel zu verkaufen, wo Empfängnisverhütung gesetzlich erlaubt ist. Deshalb will die Evangelische Kirche Deutschlands die Präimplantationsdiagnostik verbieten und beruft sich dabei auf das christliche Menschenbild, obwohl die von einem Verbot betroffenen Bürger gar nicht alle Christen wären.

Der demokratische Staat hat sich von Gott distanziert, um verschiedene Geltungsansprüche unter seinem Dach zu vereinen. Er garantiert eine Friedensordnung, in der konkurrierende Wahrheiten nebeneinander existieren können. Er ist überhaupt erst entstanden, weil die Religionen sich einst als friedensunfähig erwiesen haben, als sie noch im Besitz der politischen Macht waren. Weil sie jedoch auch heute Politik machen, entstehen an der Schnittstelle zwischen Glauben und Demokratie zunehmend heftigere Debatten, sodass selbst fromme Bürger rufen möchten: Lasst mich in Ruhe mit eurem Gott!

 

Ob Beschneidung oder Blasphemie, Kopftuch oder Kruzifix: Es ist immer derselbe Konflikt. Religion zielt auf Letztes und Unbedingtes. Demokratie zielt auf Offenheit und Pluralismus. Da knirscht es im Gebälk der freien, aber religiös geprägten Gesellschaft. Darum streiten wir, ob die Beschneidung gegen das Recht auf Unverletzlichkeit der Person verstoße. Und wenn nicht, ob das Selbstbestimmungsrecht hier missachtet werde. Und wenn ja, ob dann nicht nur die Beschneidung, sondern demnächst auch die Taufe zu verbieten sei.

Die Debatte nervt. Aber sie ist nötig. Sie betrifft weniger das Verhältnis der Bürger zur Religion als das Verhältnis der Religion zur Politik. Letzteres ist auch in Deutschland an vielen Stellen prekär. So steht in der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz, alle Kinder seien »zur Gottesfurcht« zu erziehen. So beharren beide großen Kirchen auf einem eigenen eingeschränkten Streikrecht, denn sie finden, wo alle im Namen des Herrn zusammenarbeiten, könne es harsche Interessenkonflikte nicht geben. Obwohl der Staat die Meinungsfreiheit garantiert, gibt es Lehrzuchtverfahren gegen Theologen mit abweichender Meinung. Und in kirchlichen Betrieben herrscht immer noch eine strukturelle Heuchelei, weil die Angestellten bekenntnishafte Arbeitsverträge unterschreiben, die ehrlicherweise kein freier Bürger einhalten kann.

Um das zu kritisieren, muss man kein Religionsfeind sein. Warum tobt der Streit trotzdem so heftig? Warum fühlen Glaubende sich angegriffen? Weil die Kritik manchmal höhnisch und fundamental-atheistisch ist? Das könnte sein. Vor allem aber, weil wir in einer historischen Übergangszeit leben. »Die Gewässer der Religion fließen ab, und zurück bleiben Sümpfe und Weiher«, prophezeite Friedrich Nietzsche. Das sollte bedeuten, die Religionen würden schwächer und zerfielen in ihre Restbestände. Tatsächlich wächst in Deutschland die Zahl der Konfessionslosen, und immer mehr Christen machen sich den amtskirchlichen Standpunkt nicht mehr zu eigen. Trotzdem beharren die Kirchen auf ihrem Anspruch, für die Mehrheit der Gesellschaft zu sprechen. Sie tun, als würden ihre religiösen Prämissen noch immer von fast allen geteilt.

Gleichzeitig erstarken weltweit fundamentalistische Strömungen. Sie wollen den Gottesstaat und formulieren ihre Prämissen bewusst im Widerspruch zur Demokratie. Das heißt: Die Religion wird sowohl schwächer als auch stärker. Und aus dieser Schwäche wie aus dieser Stärke heraus verursacht sie Streit.

Ist unser aller Freiheit nun durch politisch-religiöse Ansprüche gefährdet? Manche Forderungen klingen in deutschen Ohren lächerlich. Das liegt auch daran, dass hierzulande viele Gläubige nicht mitmachen, wenn im Namen der Religionsfreiheit die Freiheit untergraben werden soll. Katholische Apotheker verkaufen die Pille, und evangelische Pfarrer segnen schwule Paare. Caritas-Mitarbeiter streiken, und Muslime machen Witze über Mohammed. Die meisten Gläubigen fühlen sich als mündige Bürger. Sie handeln den Weisungen ihrer Kirchenfunktionäre zuwider, und vielleicht hofft sogar der Papst in Rom manchmal heimlich, dass seine Dekrete nicht befolgt werden.

Aber mal angenommen, es wäre anders. Mal angenommen, mehr Christen fühlten sich verpflichtet, ihrer Kirche zu gehorchen. Dann müssten katholische Politiker die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen verhindern, denn auch das fordert der Vatikan. Dass viele Katholiken solche amtskirchlichen Ansprüche nicht geltend machen, bringt die Ansprüche ja nicht zum Verschwinden. Liberale Kirchenrechtler fürchten, dass christliche Politiker und Bischöfe aus bloßem Opportunismus gegenüber dem Zeitgeist ihren Glauben im Zaum halten. Die Zeiten aber können sich ändern.

Deshalb müssen Kirchen und Religionsgemeinschaften sich die öffentliche Infragestellung ihrer Überzeugungen (und ihrer Steuerprivilegien) gefallen lassen. Sie müssen akzeptieren, dass ihre Gebote nicht für alle Bürger gelten. Dass Gott nicht bestimmt, was in der Welt geschieht.

In Norddeutschland wollte die evangelische Kirche neulich noch einmal bestimmen. Sie forderte ein Tanzverbot an »stillen Tagen« wie dem Buß- und Bettag. Aber wieso sollen Nichtchristen an christlichen Feiertagen nicht tanzen? Wenn die Kirche vergisst, was Demokratie heißt, macht sie sich lächerlich. Wenn sie im Namen Gottes weltfremde Verbote fordert, wird sie zu einem peinlichen Verein, in dem wirklich keiner mehr Mitglied sein will.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Papst Benedikt gelegentlich den Rückzug der Religion aus der Welt predigte. Lieber ein bisschen bescheiden bleiben als zum Gespött werden. Lieber keine Politik machen mit Gott. Denn jede Wahrheit muss anfechtbar sein in der Demokratie. Das erste Gebot, dass es nur einen Gott gibt, muss übertreten werden dürfen, wenn Bürger verschiedenen Glaubens zivilisiert zusammenleben wollen – und Bürger ohne Glauben auch.

Kann Kirche trotzdem Politik machen, nicht nur jenseits, sondern innerhalb der Demokratie? In Rom zeigt jetzt ein neuer Papst, dass das möglich ist. Allerdings pflegt er ein neues Verhältnis zur Welt. Hatte sein deutscher Amtsvorgänger noch die Entweltlichung gepredigt, und zwar so, dass die meisten Katholiken dachten, sie sollten sich gefälligst in die Kirche zurückziehen, kehrt nun der Papst persönlich in die Welt zurück. Wo Benedikt es beim letzten Weltjugendtag 2011 in Madrid noch peinlich vermied, sich zur Wirtschaftsmisere zu äußern, da nutzte Franziskus den Weltjugendtag 2013 in Rio für eine Botschaft an alle: Wir haben einen Glauben, der von dieser Welt ist. Wir wollen die Welt verändern. Wir machen Politik.

Seit seinem Amtsantritt hat Franziskus keine Gelegenheit ausgelassen, sich mit den Notleidenden zu solidarisieren und zugleich die klerikale Macht zu kritisieren. Sein Motto: Wer die Welt ändern will, muss sich selbst ändern. Also versucht er zuallererst seinen eigenen Laden zu bekehren, frei nach dem Vorbild des Franz von Assisi: »Selig, wer sich vor Untergebenen so demütig benimmt, wie wenn er vor seinem Obern und Herrn stünde.«

Aber geht das: Demut an der Spitze der Kirche? Revolution von ganz oben? Antiautoritäre Autokratie? Der Papst ist noch immer Papst. Er herrscht über eine streng hierarchisch gegliederte Institution. Nicht der Mann selbst, aber sein Amt ist unfehlbar. Er verkündet die eine Wahrheit, und was er in der Glaubenslehre sagt, ist irrtumsimmun. Er ist Oberhaupt der weltgrößten Religionsgemeinschaft. Und trotzdem ließ der Argentinier Franziskus sich auf seinem Heimatkontinent Südamerika nicht einfach feiern, sondern lenkte die Aufmerksamkeit der Medien gezielt auf die Schwachen. So funktioniert das Prinzip Franziskus: Hingehen. Zuhören. Einmischen.

Man könnte sagen: Politisch im positiven Sinne waren Päpste auch früher. Es gab die Friedensinitiativen von Benedikt XV. während des Ersten Weltkriegs, den Einspruch von Johannes XXIII. gegen den Kalten Krieg, die Warnung von Paul VI. vor einem Atomkonflikt und den Einsatz von Johannes Paul II. für die Reformbewegung in Osteuropa. Doch die Politik des Wandels ist bei Franziskus radikaler. Sie erstreckt sich auch auf Glaubensfragen. In den Fragen der Sexualmoral hat Franziskus bereits gezeigt, dass es auch demokratischer geht als bisher. Er beschämte diejenigen, die sich nach einer grundstürzenden Lex Franziskus zur Sexualmoral sehnten, indem er die heiklen Fragen einfach an sein Kirchenvolk zurück gab.

Achtunddreißig knifflige Einzelfragen, unterteilt in neun Kapitel wie Ehe, Familie, Homosexualität, Verhütung verschickte die Bischofskongregation in Rom an die Katholiken der Welt. Tatsächlich hatte der Papst die Fragen zusammen mit der Bischofskongregation formuliert, er nahm selber an mehreren Treffen teil, um zu klären, was die Katholiken heute tun und denken. Die erste Frage auf dem Fragebogen lautete: Wie steht es um die wirkliche Kenntnis der Lehren der Bibel und des Lehramtes der Kirche? Mit anderen Worten: Wisst ihr eigentlich, was ihr glauben sollt? Der Vatikan setzt nicht länger voraus, dass jeder Katholik auch weiß, was Katholischsein heißt. Das ist beinahe schon antiautoritär, antidoktrinär, revolutionär. Ob es eine Revolution auch des monarchisch strukturierten Papsttums werden kann, wird sich am Verhältnis des neuen Papstes zur eigenen Macht entscheiden.

Bergoglio hatte die Wahl zum Papst mit einer Reformrede gewonnen, die den Zustand der Kirche betraf, aber dann machte er klar, dass es ihm um mehr als innerkirchliche Renovierung geht: »Die Kraft der Kirche liegt nicht in ihr selbst und ihrer organisatorischen Fähigkeit. Ein authentischer Glaube schließt den Wunsch ein, die Welt zu verändern. Haben wir große Visionen? Haben wir Träume? Sind wir mutig?«

Das macht sein Pontifikat zum Politikum: Der neue Papst spricht als Christ auch für die Nichtchristen. Er versteht sich als Pastor der Welt, wobei er keine ideologische Herrschaft, sondern einen Dienst an den Menschen anstrebt. Das legt er dem katholischen Klerus immer wieder ans Herz: Seid Diener! Und den Politikern sagt er: Baut Brücken!

Der neue Papst will also die Kirche ändern, um die Welt zu ändern. Dass er nicht bei der Welt, sondern bei der Kirche anfängt, macht ihn sympathisch. Anders als seine Vorgänger sorgt er sich weniger um den schlechten Einfluss der Welt auf seine Kirche als um den mangelnden Einfluss der Kirche auf die Welt.

Seit dem Amtsantritt von Franziskus sind Wörter wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe immer öfter zu hören in Rom. Das kann einem nach den innerkirchlichen Kämpfen der letzten Jahre, nach all dem Reformstreit und den spitzen Argumenten fast sentimental vorkommen. Nächstenliebe! Ist das überhaupt etwas für Theologen? Ist das nicht einfach nur ein Lockmittel für die Massen, die sonntags beim Angelusgebet kaum noch auf den Petersplatz passen? Die Feinde des neuen Papstes in der Kurie behaupten gern, er sei kein großer Theologe. Und unter katholischen Konservativen ist es ein Diskursklischee, zu bezweifeln, dass Franziskus ernsthaft, also »in der Glaubenslehre« etwas ändern werde. Als sage der Papst nicht dauernd Sätze wie: Das Christentum sei keine Ideologie, sondern ein Weg. Man erlerne ihn, indem man ihn beschreite. Die Aufgabe der Kleriker sei es, die Menschen auf diesem Weg zu begleiten, und nicht die Einhaltung der Lehre zu überwachen.

Deutlicher kann man eine antidoktrinäre Theologie nicht ausdrücken. Dazu passt auch das zweihundert Seiten dicke Apostolische Schreiben von Franziskus, das dieser im Herbst 2013 vorlegte. Darin breitete er seine Gerechtigkeitstheologie aus und kritisierte in scharfen Worten unsere Wirtschaftsweise: »Diese Wirtschaft tötet!« Es war das lebhafteste Papier eines Papstes seit langem. Die internationale Presse hat es denn auch ausführlich debattiert. Es trug dazu bei, dass Franziskus vom »Time Magazine« zum Mann des Jahres gekürt wurde und als Weltpolitiker gilt.

Im Syrienkonflikt hatte er sich bereits erfolgreich als Vermittler eingemischt. Während des G-20-Treffens in Sankt Petersburg hielt er erst ein großes öffentliches Friedensgebet ab und bat Tausende Pilger in Rom, zu beten und zu fasten. Danach schrieb er einen Brief an Wladimir Putin, der möge eine militärische Intervention in Damaskus verhindern. In Syrien glauben viele, der Brief des Papstes habe einen potenziellen Krieg verhindert. Mag sein oder auch nicht. Der Papst macht Friedenspolitik. Mehrfach bemühte er sich um ein Treffen mit dem Patriarchen der Moskauer Orthodoxie. Im Mai 2014 reiste er nach Nahost, eine Friedensmission.

Ist das Christentum wieder Weltmacht? Sollte es eine sein? Sagen wir so: Im besten Fall kann Religion sich dazu eignen, politische Probleme mit einer Klarheit zu benennen, zu der die Politik nicht fähig scheint: etwa die europäischen Flüchtlingsgesetze infrage zu stellen und eine weltweite Debatte über soziale Gerechtigkeit auszulösen – wie es der neue Papst getan hat. Die allgemeine Papstbegeisterung macht eine politische Hoffnung sichtbar. Nicht nur Christen hoffen ja, dass sich am Horizont der Zukunft etwas findet, was größer ist als ihre Alltagswünsche. Nicht nur religiöse Menschen wünschen sich, dass es außer Erfolg und Besitz noch etwas Haltbareres gibt. Früher nannte man es Erlösung. Heute würde man sagen: ein anderes Leben. Eine bessere Welt. Warum nicht.

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