Peterchens Mondfahrt - Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie

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From the series: Fragen der Zeit #12
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Diogenes

Horkheimer und Adorno hatten die Detonationen ihrer Epoche im Ohr, die Gaskammern von Auschwitz ahndend vor Augen, als sie ihre Meditation über den Satz ‚Wissen ist Macht‘ verfassten und die Dialektik dieses Wissens zeigten. Peter Sloterdijk beschreibt sie in seiner „Meditation über den Satz: ‚Wissen ist Macht‘“60, der Kritik der zynischen Vernunft, so:

„Wenn einst Aufklärung – in jedem Wortsinn – der Angstminderung durch Mehrung von Wissen diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Angstmehrung.“61 „Unter den ‚Erkenntnissen‘ sind allzu viele angsterregende“62; „[e]s gibt kein Wissen mehr, dessen Freund (philos) man sein könnte. Bei dem, was wir wissen, kommen wir nicht auf den Gedanken es zu lieben, sondern fragen uns, wie wir es fertigbringen, mit ihm zu leben, ohne zu versteinern.“63

Sloterdijks ‚dissidente Variante‘64 der Kritischen Theorie handelt wie die Dialektik der Aufklärung „von nichts anderem als von dieser Selbsterhaltung zum Tode.“65 Zu dieser trägt schließlich auch die Resignation erzeugende Aufklärung über die Aufklärung bei, wo sie deren Aporien vollends ins Auge fasst. „Was wir als Kritik produziert hatten, war auch nur die Fortsetzung der Selbstzerstörung mit anderen Mitteln.“66 Nicht zuletzt deshalb möchte Sloterdijk das von Adorno übernommene Motiv der Selbsterhaltung zum Tode „aus der Tonart der traurigen Wissenschaft in die der fröhlichen oder tragikomischen Wissenschaft“67 übersetzen – und damit die Erstarrung der Kritischen Theorie lösen. Doch deren Erstarrung folgte aus der Aporie der Sache – und diese vermag auch Sloterdijk nicht loszuwerden. Aber wieder der Reihe nach.

Wie leben und handeln angesichts dessen, was wir über unser Leben und Handeln wissen? Angesichts dessen, was die Dialektik der Aufklärung und die Geschichte des 20. Jahrhunderts über uns ans Licht gebracht hat? Wir können nicht nicht-handeln. Doch die Wege zu einer gelingenden Praxis scheinen versperrt und „[k]ein Denkvermögen hält mit dem Problematischen Schritt. […] Weil alles problematisch wurde, ist auch alles irgendwo egal. Dieser Spur gilt es zu folgen. Sie führt dorthin, wo von Zynismus und ‚zynischer Vernunft‘ die Rede sein kann.“68 Wir wissen, was wir getan haben, wir wissen, was wir tun – und tun wissentlich weiter, was wir taten. Wer aber „die Wahrheit über sich weiß, und trotzdem weitermacht wie bisher, verhält sich zynisch.“69 Die Aporien, die die Selbstbesinnung der Aufklärung zu Tage förderte, führen zu einem allgemeinen Zynismus, und der Zynismus führt zur

„Diffusion des Wissenssubjekts […], so daß der heutige Systemdiener durchaus mit der rechten Hand tun kann, was die linke Hand niemals erlaubte. Des Tags Kolonialisator, des Abends Kolonialisierter; von Beruf Verwerter und Verwalter, als Freizeitperson Verwerteter und Verwalteter; offiziell Funktionszyniker, privat Sensibilist; […] objektiv Zerstörungsträger, subjektiv Pazifist; an sich Katastrophenentfeßler, für sich die Harmlosigkeit selbst. Bei Schizoiden ist alles möglich, und Aufklärung und Reaktion machen nicht mehr viel Unterschied. Beim aufgeklärten Integrierten – in dieser Welt cleverer instinktiver Konformisten – sagt der Körper nein zu den Zwängen des Kopfes, und der Kopf sagt nein zu der Art und Weise, wie sich der Körper seine komfortable Selbsterhaltung erkauft. Diese Gemischtheit ist unser moralischer Status quo.“70

Der moderne Zyniker macht weiter, wo im emphatischen Sinne gar nichts mehr zu machen ist. Es scheint keine Alternative in Sicht.71 „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein – das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form.“72 Es weiß um den „tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint.“73 „Handeln wider besseres Wissen ist das globale Überbauverhältnis heute; es weiß sich illusionslos und doch von der ‚Macht der Dinge‘ herabgezogen.“74

In Bezug auf die einstmals großen Hoffnungen und Weltgeschichtsphilosophien sind wir pessimistisch, ja: „Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch.“75 „Unsere schwunglose Modernität weiß zwar durchaus ‚historisch zu denken‘, zweifelt aber längst daran, in einer sinnvollen Geschichte zu leben. ‚Kein Bedarf an Weltgeschichte.‘“76 Die Aufgeklärten, das sind die „vom Gegebenen Erzogenen“77. Sie verbitten sich, „von geschichtlicher Erfahrung belehrt, billige Optimismen“78. Der Zyniker richtet sich ein im ‚wunschlosen Unglück‘ (P. Handke)79; ihm gehört die Welt: „Nach den trotzigen Hoffnungen macht sich die Schwunglosigkeit der Egoismen breit.“80 Im vollen Bewusstsein arbeitet der moderne Zyniker subjektiv an seiner Selbsterhaltung, objektiv an seinem Untergang. Er ist nicht mehr der ‚einzelgängerische Kauz‘, der ‚provozierende eigensinnige Moralist‘, der ‚bissige und böse Individualist‘ der Antike, sondern tritt „als Massentypus auf; ein durchschnittlicher Sozialcharakter im gehobenen Überbau“81; ein „Grenzfall-Melancholiker, der seine depressiven Symptome unter Kontrolle halten und einigermaßen arbeitstüchtig bleiben kann. Ja, hierauf kommt es beim modernen Zynismus wesentlich an: auf die Arbeitsfähigkeit seiner Träger – trotz allem, nach allem, erst recht. Dem diffusen Zynismus gehören längst die Schlüsselstellungen der Gesellschaft“82. Im umfassenden Sinne bedeutet der ‚universale diffuse Zynismus‘83 als Daseinsweise: „Teilhabe an einer kollektiven realistisch herabgestimmten Sehweise.“84

Diese zu beschreiben, dazu dient die Kritik der zynischen Vernunft. Aber es soll auch nicht bei bloßer Beschreibung bleiben. Es mag nicht beim Eindruck bleiben, es handle sich bei ihr „um einen Rettungsversuch für ‚Aufklärung‘ und Kritische Theorie“85. Und doch: die bisher geschilderte Art des Zynismus soll auch nicht das letzte Wort sein. „Scheint es anfangs, als münde die Aufklärung notwendig in zynische Enttäuschung, so wendet sich bald das Blatt, und die Untersuchung des Zynismus wird zur Grundlegung guter Illusionslosigkeit.“86 Sloterdijk möchte eine Bejahung versuchen, um – durchaus den Impulsen Kritischer Theorie verhaftet – „die Klammer des Negativismus zu sprengen.“87 Es bedarf dazu einer anderen Wissenschaft, einer Fortsetzung von Aufklärung und Kritik mit anderen Mitteln, eines anderen Helden. Gerade die Selbstbesinnung der Aufklärung hatte den „Ausblick auf ein Leben in totaler Unaufklärbarkeit“ gegeben; gerade die großen Blicke der Theorie zeigten eine grundlegende Unübersichtlichkeit, ja mehr noch, mit einem Zitat aus späterer Zeit:

„Die Gegenwart hat uns Denkenden eine böse Entdeckung eingebracht; uns machen die großen Blicke überhaupt nicht froh, sie sind niederschmetternd. Unsere Aussicht aufs Ganze ergibt keinen Postkartengruß. Denken im 20. Jahrhundert heißt nicht, ein Kosmos-Ganzes anschauen, sondern eine Explosion mitdenken. […] Von Explosionen gibt es keine Theorie. Man kann Spurensicherung treiben“.88

‚Theorie‘ scheint heute allenfalls zu bedeuten: Wissen, was sich nicht ändern lässt.89 Wo die Spannung „zwischen dem, was ‚kritisieren‘ will, und dem, was zu ‚kritisieren‘ wäre, […] so überzogen [ist], daß unser Denken hundertmal eher mürrisch als präzise wird“90, wo Aufklärung als ‚traurige Wissenschaft‘ „wider Willen die melancholische Erstarrung [fördert]“91, wo „der Ernst des falschen Lebens im falschen Ernst der Philosophie“92 wiederkehre, da gelte es, „die kritische Sucht des Besserns auf[zu]lösen, dem Guten zuliebe“93. Das Ziel könne keine neue Theorie sein, die noch einmal besser wissen möchte, was sich besser machen ließe. Und ist es für Sloterdijk auch nicht. Dies hieße doch nur, auf einen Schelm anderthalb zu setzen. „Die Kritik der zynischen Vernunft verspricht sich darum mehr von einer Erheiterungsarbeit, bei welcher von Anfang an feststeht, daß sie nicht so sehr Arbeit ist als Entspannung von ihr. […] Ironischerweise ist das Ziel der kritischsten Anstrengung das unbefangenste Sichgehenlassen.“94 Und nach dem Ende der großen Blicke vom Feldherrenhügel herab, wenn im Gewühl des Schlachtfelds „die Dinge uns brennend auf den Leib rücken, muß eine Kritik entstehen, die das Brennen zum Ausdruck bringt. Sie ist keine Sache richtiger Distanz, sondern richtiger Nähe.“95 Diogenes von Sinope ist ihr Held.

Mit Diogenes begibt sich Sloterdijk auf die „Spur einer leibnahen untheoretischen Geistigkeit von dionysischem, jedoch nicht-tragischem Charakter.“96 Der antike kynische Philosoph ist für ihn „der eigentliche Begründer der Fröhlichen Wissenschaft“97 als der „höflichste[n] Art und Weise, öffentlich von den Unerträglichkeiten des Seins zu sprechen.“98 Diogenes ist im Wortsinne die Verkörperung eines atheoretischen, frechfröhlichen Widerstands. Mit ihm bringt Sloterdijk in der Spur Heinrich Niehues-Pröbstings99 die Unterscheidung zwischen Zynismus und Kynismus ins Spiel, „die Differenz zwischen dem Zynismus als der Infamie des Mächtigen und dem Kynismus als der Noblesse des Machtlosen“100.

Diogenes’ „theoretische Hauptleistung besteht darin, die Wirklichkeit zu verteidigen gegen den Wahn der Theoretiker, sie hätten sie begriffen. […] Der Kyniker besitzt untrüglichen Instinkt für die Tatsachen, die nicht in die Großtheorien (Systeme) passen.“101 Seine ‚Methode‘ ist das satirische Verfahren102, die ironische „Aufhebung der aufgezwungenen ‚Ordnungen‘“, das „Spiel mit dem, was sich als ‚Gesetz‘ ausgibt“103. Die Satire offenbart „das von Adorno beschworene ‚Nicht-Identische‘; jenes Dies-da, an dem die bloße begriffliche Benennung schon Unrecht tut, indem sie Begreifen vortäuscht“104. Diogenes verkörpert, was nicht in die Theorie passt: nackte Wahrheiten, unbekleidet mit theoretischem Überhang.105 Er tritt für es ein, mit beißendem Spott, der das Brennen zum Ausdruck bringt, und mit Gesten, mit dem Körper als Argument, mit dem Körper als Waffe.106 Bissig, aber nicht verbissen ist dieser Diogenes. „Bei all seinen Kraßheiten ist Diogenes nicht oppositionell verkrampft und im Widerspruch fixiert“107. Denn Sloterdijks asiatisch-orientalisch imprägnierter108 Diogenes ist eben auch das Vorbild für ein heiteres Sichgehenlassen, das Sloterdijk gegen „die Neuzeit mit ihrem aktivistischen Selbstbehauptungsethos“109 setzt, gegen deren „aktivistischen Sturmlauf des Selbermachens, Selberplanens und Selberdenkens“110. Diogenes’ vitaler, dionysisch-materialistischer, „kritische[r] Existentialismus des satirischen Bewußtseins“111 steht für ein unambitioniertes Glück.

 

„Er ist der dionysische Retter vor dem Allzudionysischen. Weil er mit den Extremen seine Erfahrungen gemacht hat, ist er wachgeworden für das Abenteuer der Mittellagen. [… D]ort sitzt Diogenes in seiner Sonne, faul und tief, vorsichtig und glücklich, die leibhaftige Verweigerung der Explosion, die erleuchtete Vorbeugung gegen die tödliche Verstrahlung, der Schirmherr des Gewöhnlichen und der Denker der dionysischen Erträglichkeit. [… E]r demonstriert sein glückliches Nichts-zu-sagen-haben und lebt ein Dasein, das sich spielerisch allen Missionen entzieht; er übt sich darin, mit größter Geistesgegenwart den Machtworten einen Sinn abzugewinnen, der von den Mächten so nicht gemeint war; er ist der Meister der humoristischen Subversion.“112

Mit Diogenes möchte Sloterdijk wieder anknüpfen an die „mächtigen Lachtraditionen des satirischen Wissens, die philosophisch im antiken Kynismus wurzeln“113, von denen sich, so seine These, die moderne Ideologiekritik verhängnisvoll losgelöst hatte. Im Lachen artikuliert sich der Widerstand gegen die Macht des Bestehenden wie die Macht des Begreifens – „ein Lachen, das dem ernsthaften Denken den Respekt aufkündigte“ und doch „im Kynismus des Diogenes von Sinope […] selbst philosophisch geworden ist.“114 Anknüpfen könnte Sloterdijk durchaus auch an den folgenden Passus der Dialektik der Aufklärung, der sich just am Ende des ersten Exkurses über Odysseus oder Mythos und Aufklärung findet. Er wirft jedoch zugleich ein bezeichnendes Licht auf Sloterdijks Ausführungen:

„Ist Lachen bis heute das Zeichen der Gewalt, der Ausbruch blinder, verstockter Natur, so hat es doch das entgegengesetzte Element in sich, daß mit Lachen die blinde Natur ihrer selbst als solcher gerade innewerde und damit der zerstörenden Gewalt sich begebe. […] Lachen ist der Schuld der Subjektivität verschworen, aber in der Suspension des Rechts, die es anmeldet, deutet es auch über die Verstricktheit hinaus. Es verspricht den Weg in die Heimat“115

aber bleibt doch nach Horkheimer und Adorno der Schuld verschworen, ist doch dem falschen Leben nicht enthoben, weshalb die Dialektik der Aufklärung traurige Wissenschaft blieb. Auch Sloterdijks Diogenes vermag sich nicht über diese Aporie und den von Horkheimer und Adorno diagnostizierten „Schuldzusammenhang“ zu erheben, mag er auch beides verlachen. Deshalb kann (und will?) Sloterdijk nicht klar und deutlich zwischen Zynismus und Kynismus unterscheiden.116 Auf welcher Seite man steht, ist nie klar; ja, jeder kynische Akt lebensbejahender Verneinung erweist sich – aufs Ganze gesehen – in seiner heiteren Enthaltsamkeit als zugleich zynische lebensverneinende Bejahung bestehender Macht. Aufs Ganze gesehen verpufft Diogenes’ Widerstand wie ein kurzweiliger Witz. Anders formuliert, auch für den Kyniker gilt: „Wer zuletzt lacht, lacht wie im Pleura-Schock.“117

Abraham

Betonung des Nichtidentischen, Singulären, Anderen, Heterogenen; Kritik an (idealistischer) Identitäts- und Bewusstseinsphilosophie u. v. m.: Emmanuel Lévinas teilt viele Intentionen mit den Autoren der Dialektik der Aufklärung, vor allem mit Adorno. Getrieben von dem „Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen von einer unüberwindbaren Allergie“, fällt auch für Lévinas die abendländische Philosophie „mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere […] seine Andersheit“118 – zumindest vordergründig, in unseren Augen, so wäre zu ergänzen. Philosophie möchte das Andere auf den Begriff und in den Griff kriegen; sie wird übergriffig im Versuch, „alles Andere in das Selbe hinein aufzuheben und die Anderheit zu neutralisieren.“119 „Es ist vielleicht die eigentliche Definition der Philosophie, ein Tun zu sein, das sich schon im voraus eingeholt hat in dem Licht, das es leiten sollte.“120 Ihr Sinnbild ist bei Lévinas wieder die Irrfahrt des Odysseus – allerdings unter anderer Ausdeutung seiner Bewegungsmuster als bei Horkheimer und Adorno: „Der Weg der Philosophie bleibt der des Odysseus, dessen Abenteuer in der Welt nichts anderes als die Rückkehr zu seiner Geburtsinsel war – ein Sich-Gefallen im Selben, ein Verkennen des Anderen.“121 Dem so verstandenen Mythos von Odysseus möchte Lévinas „die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.“122 Abraham ist für Lévinas der Heros einer „Bewegung ohne Wiederkehr“123, einer „Bewegung des Selben auf das Andere hin, die niemals zum Selben zurückkehrt.“124 Eine solche „Orientierung, die frei vom Selben zum Anderen geht, ist Werk.“125 Unter diesem und anderen Stichworten sucht Lévinas seinen Zugang zum Anderen, zu einer Philosophie uneinholbarer Alterität und Transzendenz. Und er sucht nach der paradoxen Möglichkeit einer „heteronomen Erfahrung“, bei der sich

„das Selbe weder ekstatisch im Anderen verliert, sondern dem Gesang der Sirenen widersteht, noch sich auflöst in dem Brausen eines anonymen Ereignisses. Erfahrung, die noch Bewegung des Selben bleibt, Bewegung eines Ich; Erfahrung, die sich folglich dem Transzendenten in einer Bedeutung nähert, die sie ihm nicht verliehen hat“126

Erfahrung, die aber doch die Erfahrung eines Subjekts, meine Erfahrung eines Anderen sein soll. Die ist ein Akzent, der in Lévinas’ Texten fast verloren geht unter dem Eindruck all der Metaphern der Passivität und Überwältigung durch das Andere!

In Bezug auf Abraham und Odysseus zeigt sich auch bei Lévinas: „Typologische Schemata funktionieren immer nur um den Preis grober Vereinfachungen, die dann als Sprungbrett für eigenständige Spekulationen dienen.“127 Texte mögen nicht unendlich interpretierbar sein, aber sind doch unendlich benutzbar128 – als Projektionsfläche der eigenen Ideen. Dabei kommt es auf die Bezugspunkte an – bei Lévinas, grob vereinfacht und auf Schlagworte gebracht: griechisches vs. jüdisches Denken, Athen vs. Jerusalem, Identitäts- vs. Alteritätsphilosophie. Zur schärferen Profilierung seiner alternativen Philosophie reduziert Lévinas „die Odyssee auf den Gedanken der Heimkehr“, „muß die Odyssee […] zu einer glücklichen Heimkehrer-Geschichte verkürzt werden.“129 Schon Homers Odyssee ist im Grunde alles andere als das. Dies haben auch Horkheimer und Adorno so gesehen130, auch dass die Irrfahrt bei Homer nicht in Ithaka endet131. Für Lévinas’ „nomadisches Denken“132 dagegen dient die Kontrastierung ‚Odysseus vs. Abraham‘ einer vielleicht allzu planen Illustration der Gegenüberstellung zweier philosophischer Paradigmen. Die Ambivalenzen beider Figuren blendet er aus. Wie Walter Lesch treffend bemerkt, beispielsweise im Falle Abrahams, „dessen Problematik Kierkegaard in ‚Furcht und Zittern‘ (1843) so scharfsinnig herausgearbeitet hat, wenn er fiktiv darlegt, wie Abrahams (blinder?) Gehorsam bei Isaak zum Verlust des Glaubens führt.“133

Zur Charakterisierung der geistigen Situation der Zeit, nicht der Philosophie, scheint Abraham denn auch weniger geeignet. Der biblische Abraham jedenfalls hat Gott und den Glauben im Rücken, das verheißene Ziel nicht vor Augen, aber doch im Sinn. Wir dagegen „sind ‚heimatlose Seelen‘, die im ewigen ‚Wintertag‘ der Moderne übers Lebensmeer irren, wie Georg Heym in einem lyrischen Fragment übers Odysseus-Thema schreibt.“134 Dantes Odysseus ist so wohl das geeignetere Sinnbild für die Entbildung des Sinns, für diese „Bewegung ohne Wiederkehr“, die uns seit dem nominalistischen Zeitenbruch, dem Zerbrechen des alten ordo und dem neuzeitlichen Aufbruch umtreibt. Noch Homers Odysseus

„stahl der Gott nur den Tag der Heimkehr, nicht das Ziel selbst. […] Der Aufschub […] durch die nicht endende Liste der Verhinderungen und Verführungen […] wird […] bewußt als Aufschub des Ziels. Schließlich darf man […] nicht übersehen, daß diese ganze Irrfahrt und Heimfahrt im axiologischen Rahmen einer eben noch intakten Mythologie sich abspielt. Die irdischen Konflikte haben ihre Präfiguration, ja ihren Beweggrund in den Rankünen und Streitigkeiten der Götter. Die wählen sich ihren Helden, lenken, strafen ihn unversehens, machen ihn jedoch in jedem Fall zum Werkzeug ihres Willens: alle seine Taten sind letztlich durch eine Ökonomie des Heils gerechtfertigt. […] Die unheldischen Heroen der modernen Odyssee hingegen […] erreichen ihr Ziel nicht mehr: der Ocean spaltet ihre Identität. Sie sind […] Irrende, d. h. sie haben aufgehört, Bewohner eines Kosmos, eines geordneten Weltganzen, zu sein. Ihre Geschichte geht darum auch in keiner Ökonomie des Eigenen mehr auf: die Entfremdung ist ihr Erbteil. […] Man ist nicht mehr heimisch in der Welt-als-Ganzem, und der neue Odysseus ist […] ein Bruder des Ewigen Juden und des Alten Seefahrers geworden“135.

Heimatflucht wurde zum Heimatfluch: Die Neugier trieb uns hinaus, trieb fort die Heimat, die keine war, die Sehnsucht nach ihr treibt uns um. In der Sensibilität dafür mag ein bedeutsamer Unterschied von Horkheimer und Adorno zu Lévinas liegen. Jene waren sich stets bewusst: „Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet, durch welches Subjektivität, deren Urgeschichte die Odyssee gibt, der Vorwelt entrinnt.“136 Insbesondere Adorno hat vom Gedanken der Heimat, von der Wahrheit des Ganzen und der Ganzheit der Wahrheit nie gelassen, so sehr er für das Nichtidentische stritt. Ja, die Widersprüche falscher Totalität waren ihm der Motor für die Würdigung des bleibend Nicht-Identischen, Anderen. So verwandt die Motive bei Lévinas und Adorno, so unterschiedlich scheint mir die Sensibilität für die Dialektik der Kräfte, die die Sehnsucht, das Heimweh, entbindet. Lévinas scheint hier eher auf Abgrenzung bedacht – und begibt sich dann phänomenologisch auf die Spur des Anderen. So dürfe man z. B. das Werk „vor allem nicht ähnlich wie die Technik denken, die, durch die berühmte Negativität hindurch, eine fremde Welt in eine Welt umformt, deren Anderheit sich in meine Idee verwandelt.“137 Adorno dagegen, der Dialektiker, zeigt, wie ein Wissen, dessen Wesen Technik ist, eben das Subjekt formt, das in seiner gleichzeitigen Deformierung erst zu wahrhaftigem Heimweh fähig ist. Er lotet Naturwissenschaft und Philosophie als Projekte der Wiederverzauberung aus, die in der entzaubernden Ent-fremdung des Anderen der Entfremdung Vorschub leisten, die zugleich Bedingung echter Nähe ist.138 Heimat wäre das Entronnensein, u. a. dort, wo wir ohne Furcht in der „schönen Fremde“ (Eichendorff) Wohnung nehmen dürften und unser „Glück daran [hätten], daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“139 Doch auch für Adorno scheint Nietzsches Diktum zu gelten: „es gibt kein ‚Land‘ mehr!“ – ob als prinzipiell-theoretische oder historisch-gesellschaftliche Möglichkeit nicht, darüber wäre zu reden.