Literaturwissenschaften in der Krise

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Literaturwissenschaften in der Krise
Font:Smaller АаLarger Aa

Literaturwissenschaften in der Krise



Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten



Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov



Narr Francke Attempto Verlag Tübingen






© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de

 • info@francke.de





Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.





E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen





ePub-ISBN 978-3-8233-0078-6










Inhalt







Danke






Literaturwissenschaften in der Krise. Einleitung

Krise? Welche Krise?

Krise als Chance(?)

Geisteswissenschaften in der Krise

Literatur




I Bestandsaufnahmen

1 »Nach der Krise ist vor der Krise«Literatur

2 Literatur, Wahrheit, Menschsein

3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise

Krise und LiteraturLiteratur und LiteraturwissenschaftLiteratur(-Wissenschaft) und Krise

4 Literaturgeschichte und Konstruktivismus

Wahrheit und WahrheitenLiteraturgeschichte als KulturgeschichteMittelbare Wahrheiten

5 Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen

Literarisches Management an der Grenze von Fakt und Fiktion




II Lektüren

6 Alternative Fakten und postfaktische Politik als NarrativPolitische Tweets und andere ErzählungenDie Menschlichkeit des ErzählensPostfaktische Erzählungen I: Typenmodelle und mediale StrukturenPostfaktische Erzählungen II: Mythos, Linearität, KomplexitätZusammenfassung und Ausblick

7 Erzählungen vom ›wahren‹ Volk

Hinführung: die Worte der PopulistenVoraussetzungen: die drei Akteure in populistischen ErzählungenDas Volk als affektiver ErzähleinsatzDie Rede des FeindesDas Zusammenspiel Erzähler – Volk als lustvolle BefreiungAndere Geschichten erzählenPlädoyer: Narratologische Instrumente zur Analyse gesellschaftlicher Erzählungen

8 Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur

GlobalisierungsangstRoman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen GrauensSimon Strauss: Sieben Nächte

9 Wie wollen wir in Zukunft leben?

Literatur




III Anwendungen

10 Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die KlimawandelforschungIm Anfang war die KriseDie Krise als konstitutives Merkmal der Literatur(-wissenschaft)Der Beitrag der Literaturwissenschaft an die KlimawandelforschungKafka als ›Kommentator‹ der aktuellen FlüchtlingskriseSchluss

11 »Ich konsumiere, also bin ich?!«

Der Diskurs des Ökonomischen im Gegenwartsdrama und -theater – ein ÜberblickLiteratur, Ökonomie, Deutschdidaktik und -unterricht – fachdidaktischer ForschungsstandPlädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im UnterrichtFazit und Ausblick

12 Broadcast Philology

Literatur

13 Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen und innergesellschaftlichen Krisenzeiten am Beispiel von Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015)

Transnationalismus und transnationale Literatur – Produktive Kategorien oder Modebegriffe?Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) – Der Roman zur Flüchtlingskrise?Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaft in Krisenzeiten – Reprise




IV Interventionen

14 Globale Flucht und die LiteraturwissenschaftenFluchtpunkteDie Ästhetik der KriseRepräsentation und die Krise des eingeschränkten BlickesFlucht sehen, Flucht lesenCoda/Yallah

15 Make complexity great again

Das Feste und das FlüssigeDie Wut des Verstehens – das Verstehen der WutEmpört euch!

16 Dem konformistischen Text widerstehen

After Hölderlin’s Pindar Extravaganza When He Was Supposedly Past It: ›Vom Dolphin‹After Hölderlin’s ›Der Sommer‹ – ›Wenn dann vorbei‹After Hölderlin’s ›Der Winkel von Hahrdt‹Literatur

17 Literaturwissenschaften in der Krise

Worin die Krise bestehtLiteraturwissenschaften in der Krise: Was wir tun könnenLiteraturwissenschaften in der Krise: Was wir auch noch tun könnten

Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft

Literatur





Beiträger*innen









Danke



Anya Heise-von der Lippe möchte sich bei ihren krisenfesten Eltern Burghard und Elke Heise bedanken und ihnen dieses Buch widmen.





Russell West-Pavlov möchte sich bei Tatjana Pavlov-West und bei Joshua, Iva und Niklas bedanken.





Unser gemeinsamer Dank gilt den Beiträger*innen dieses Bandes für ihre vielen spannenden Ideen sowie Valeska Lembke und Vanessa Weihgold vom Narr Verlag für ihre Geduld und ihre Unterstützung bei der Manuskripterstellung und –

last but not least

 – Lukas Müsel für seine Übersetzungen und seine unermüdliche Arbeit am Manuskript.





Literaturwissenschaften in der Krise



Einleitung



Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov





Krise? Welche Krise?



Krisen sind allgegenwärtig. Zwischen Eurokrise, Griechenlandkrise, Bildungskrise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise und Klimakrise stellt sich leicht der Eindruck einer begrifflichen Überstrapazierung ein. Rainer Leschke attestiert der Krise in diesem Sinne eine »hohe Affinität zu narrativen Formen« (Leschke 2013: 10). Selbst wenn Ereignisse als problematisch, gefährlich oder tragisch wahrgenommen werden, ist die Bezeichnung »Krise« eine Art narrative Zuspitzung, die häufig erst durch ihre Medialisierung erfolgt. Durch die Verwandlung in ein Narrativ rückt die Krise damit paradoxerweise in einen Interpretationszusammenhang, der es minder betroffenen Zuschauer*innen oder Leser*innen ermöglicht, die Krise komplett zu ignorieren. Diese Distanz ist jedoch, mehr noch als die Krise selbst, ein Narrativ, das lediglich von bestimmten privilegierten Positionen aus aufrechterhalten werden kann. Nur wer nicht unmittelbar von ihren Auswirkungen betroffen ist, kann die Krise ignorieren. Dies ist jedoch ein rückwärtsgewandtes Spiel auf Zeit. Längst schon leben wir in einem von menschlichem Handeln beeinflussten Erdzeitalter, dem Anthropozän, dessen Auswirkungen und Anzeichen immer deutlicher werden.



Während wir diese Einleitung schreiben, hat Hurrikan Harvey, allen US-amerikanischen Klimawandelleugnern zum Trotz, gerade die Großstadt Houston, Texas, mit noch nie dagewesenen Wassermengen überflutet (und damit die Auswirkungen des katastrophalen Hurrikan Katrina bereits um ein Vielfaches übertroffen), während eine ähnlich gravierende Flutkatastrophe auf dem indischen Subkontinent bereits über 1000 Todesopfer gefordert hat und in Ostafrika weiterhin die schlimmste Dürrekatastrophe seit 50 Jahren wütet. Die mediale Aufmerksamkeit für diese krisenhaften Ereignisse könnte unterschiedlicher nicht sein, bleibt unsere Aufmerksamkeit doch weitgehend auf den globalen Norden konzentriert. Die Stärke und Häufung dieser Klimaereignisse verdeutlichen jedoch eines: Die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts ist die Klimakrise, deren Anzeichen (extreme Wetterphänomene, Dürreperioden, Wasserknappheit, Hungersnöte und der aufgrund des Abschmelzens der Polkappen steigende Meeresspiegel) in den letzten Jahren so massiv zugenommen haben, dass sie nun auch für Laien erkennbar sind (Friedrich et al. 2016; Lenton et al. 2008; Scheffers et al. 2016). Zum Teil mag dies am gewachsenen Medieninteresse zu diesem Thema liegen. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die erhöhte Wahrnehmbarkeit dieser Phänomene auch mit der rasanten Entwicklung des Klimawandels zusammenhängt, die durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren noch beschleunigt wird (Friedman 2016). Während Klimaforscherinnen die Wechselwirkungen und Reversibilität klimatischer ›Kipp-Punkte‹ (›Tipping Points‹) in verschiedenen Bereichen des Klimawandels (CO2-Ausstoß, Abschmelzen von Gletschern und Eiskappen, Ansteigen der Meeresspiegel, Rückgang borealer Wälder und Absterben von Korallenriffen etc.) durchaus kontrovers diskutieren, besteht dennoch ein weitgehender Konsens, dass wir es, wenn wir nicht schnell etwas ändern, sehr bald mit nicht-reversiblen Veränderungen zu tun haben werden.

 



Als unmittelbare Auswirkung der Klimakrise wird sich in den nächsten Jahren die aktuelle Flüchtlingskrise noch verschlimmern. Bereits jetzt sind auf der ganzen Welt 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 40 Millionen im eigenen Land und 3 Millionen als Asylsuchende (UNHCR 2016). Dabei liegen die größten Migrationskorridore im globalen Süden (UNDESA 2013: 7) und Migrationsbewegungen vom Süden in den Süden kommen etwa gleich häufig vor wie Süd-Nord Bewegungen. Sie machen etwa ein Drittel des globalen Migrationsvolumens aus. Tatsächlich fand im Zeitraum von 1990 bis 2013 der größte Teil der weltweiten Migrationsbewegungen vom Süden in den Süden statt (Wickramasekera 2011: 79; UNDESA 2013: 2). Bei diesen Werten handelt es sich um eher konservative Schätzungen, die eine Dunkelziffer an nicht dokumentierten Migrationsbewegungen außer Acht lassen und die Dramatik der Situation wahrscheinlich unterschätzen. Dies wird umso deutlicher, zieht man in Betracht, dass der Klimawandel und seine Folgen (Landverluste durch steigende Meeresspiegel, Ernteausfälle aufgrund steigender Temperaturen, Wasserknappheit und Dürren) bis zum Ende des 21. Jahrhunderts nach aller Voraussicht ein Viertel der Weltbevölkerung aus ihren jetzigen Gebieten vertreiben wird (Nealon 2016: 121; Wennersten und Robinson 2017).



Ein zusätzlicher Grund für weltweit zunehmende Migrationsbewegungen ist die weiter aufklaffende Schere zwischen arm und reich – und zwar immer weniger zwischen reichen und armen Ländern, sondern zunehmend zwischen Reichen und Armen in allen Ländern (Piketty 2014; Milanovic 2016). Der wachsende Abstand zwischen reich und arm erzeugt eine weltweit zunehmende Verdrängung, die sich in reicheren Ländern im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008 entwickelte und sich in ärmeren Gegenden in Form von (illegaler) Landnahme (›Land Grabbing‹) und Zwangsräumungen fortgesetzt hat (Sassen 2014). Diese führen zu einem Zusammenbruch sozialstaatlicher Unterstützungssysteme und einer Zunahme des Prekariats (Streeck 2017). Globale Veränderungen von Arbeitsmärkten und ‑Bedingungen beschleunigen diese Veränderungen (Avent 2017; Cameron 2017; Frey und Osborne 2013); viele Menschen werden nie eine formale Anstellung finden, sondern dauerhaft in äußerst prekären Situationen leben (Mbembe 2012b). Schon jetzt arbeiten mehr Menschen unter Sklavenbedingungen als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Weltgeschichte (Bales 2012). Der Abstand zwischen Reichen und Armen wird sich aller Voraussicht nach in der nächsten weltweiten Finanzkrise, die zahlreiche Experten für die nähere Zukunft voraussagen, nur noch vergrößern (Richards 2017).



Unter diesen Bedingungen steigt weltweit die Bedrohung durch Kriege. Die Website »Wars in the World« (

http://www.warsintheworld.com

) listet zum gegenwärtigen Zeitpunkt 230 Kriegsparteien in 29 afrikanischen Ländern, 170 Kriegsparteien in 16 Ländern Asiens und 81 Kriegsparteien in 10 europäischen Ländern sowie 253 Kriegsparteien in 7 Ländern des Mittleren Ostens und 27 Kriegsparteien in 6 Ländern auf dem amerikanischen Kontinent. Ein ato­marer Konflikt zwischen Nordkorea und den USA oder Indien und Pakistan würde signifikante Klimakonsequenzen für den gesamten Planeten nach sich ziehen (Toon, Robock und Turco 2008). Hunger wird schon jetzt zunehmend als Waffe eingesetzt (Waal 2017) und es ist generell wahrscheinlich, dass Kriege um Ressourcen – vor allem Wasser – in den nächsten Jahren weiter zunehmen werden.



Global ist ein dramatischer Rückgang demokratischer Strukturen festzustellen (Kurlantzick 2013). Selbst im demokratischen Kerngebiet des alten Westens wird die Demokratie zunehmend durch finanzielle Institutionen ausgehöhlt (Streeck 2014); autoritäre Politik und politisch rechtsstehende Bewegungen nehmen zu. In einer wachsenden Anzahl an Ländern ist die ›Rule of Law‹ (das angelsächsische Äquivalent zur Rechtsstaatlichkeit) z.B. durch Notfallgesetzgebung außer Kraft gesetzt, darunter auch traditionell demokratische Staaten wie die USA und Frankreich (Alford 2017; Fassin 2016). Diese Mittel werden häufig, wenn auch häufig grundlos, als Antwort auf Terrorismus gerechtfertigt; sehr zum Nutzen von Terroristen, da sie den Terror weiter schüren und verstärken. Folter und Missachtung von Menschenrechten haben Hochkonjunktur rund um den Globus (Amnesty 2017).



Zu diesen Kernpunkten der Krise(n) ließen sich weitere hinzufügen: die zunehmende Digitalisierung der Menschheit, die wachsende Kontrolle über biologische Ressourcen (einschließlich der bio- oder nekropolitischen Instrumentalisierung menschlicher Ressourcen in Kriegen, z.B. in Palästina, oder der biopolitischen Ausbeutung von Körpern im internationalen Organhandel), die sowohl aus ökonomischen wie aus militärisch-industriellen Gründen zunehmend engmaschiger werdende weltweite Überwachung, die florierende Militär- und Waffenindustrie und so weiter und so fort (Mbembe 2012a; Mbembe 2016).



Unser notorisches kollektives Nichthandeln im Angesicht dieser Zusammenhänge, so argumentiert Claire Colebrook, liegt in unserer Akzeptanz der »catastrophe of human existence as natural and irredeemable« begründet (Colebrook 2014: 11). Im Angesicht komplexer Krisenszenarien wie des globalen Klimawandels fühlen wir uns, so Colebrook, überfordert und reagieren mit Trägheit und Nichtstun – und zwar so regelmäßig, dass unser Leugnen einen wesentlichen Bestandteil der Krise ausmacht, wie z.B. auch Jeffrey Mantz im Zusammenhang der katastrophalen Produktions- und entfremdenden Konsumprozesse digitaler Kommunikationsgeräte argumentiert (Mantz 2013). Im medien-überschwemmten 21. Jahrhundert steht unser Nichtstun, so scheint es, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu unserer Überinformation. Mehr noch, die Angst vor radikalen Umwälzungen scheint vielerorts zu panikartigen Klammerreaktionen und einem Wiedererstarken autoritärer politischer Strukturen zu führen.





Krise als Chance(?)



Was tun wir also, in Zeiten der Krise? Nichts, argumentiert Jonas Lüscher in seiner als »Abrechnung mit dem Neoliberalismus« gefeierten Novelle

Frühling der Barbaren

 (2013). Lüschers Protagonist, der Schweizer Fabrikerbe Preising, ist ein Mensch, der keine Entscheidungen trifft, und sein Nichthandeln hat im Laufe der Zeit eine Reihe problematischer Konsequenzen – für andere. Dies zeigt sich vor allem in seiner Haltung gegenüber Hilfsbedürftigen und Abhängigen, die im Kontext der Novelle nicht ohne argumentativen Grund alle im Globalen Süden angesiedelt sind. So deutet der Titel der Novelle zwar auf den »arabischen Frühling« hin, die titelgebenden »Barbaren« sind jedoch die von einer imaginären Finanzkrise überraschten Europäer in einem Ferienresort in der tunesischen Wüste. Die Hotelanlage fungiert dabei als eine Art Foucault’sche Heterotopie der Krise – ein Ort außerhalb der normalen Raum-Zeit, an dem Handlungen scheinbar ohne Konsequenzen für das ›reale‹ Leben der Charaktere in Europa bleiben. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt der Text anhand der wirtschaftlichen Verbindungen und Verstrickungen von Europa und Nordafrika. Preising reist zum Ausbau seiner Geschäftsbeziehungen mit nordafrikanischen Zulieferbetrieben nach Tunesien, fürchtet jedoch jegliches Handeln seinerseits könnte dort als »unangemessene Einmischung« (Lüscher 2015: 27) empfunden werden. Die moralische Schieflage dieser Ansicht wird nicht nur durch Preisings Reichtum unterstrichen – sein Tagesverdienst an den Firmenanteilen entspricht der »Existenz einer ganzen Familie« (Lüscher 2015: 26) –, sondern wird vor allem durch die Weigerung seines Prokuristen deutlich, »auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen«, mit der Begründung, »ieser Kontinent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhacken aus dem Sumpf ziehen.« (Lüscher 2015: 27) Dass diese Weigerung und Preisings Untätigkeit keine neutrale Haltung, sondern ganz im Gegenteil ein grundlegender Faktor der Krise sind, wird im Zusammenhang der Kinderarbeit in einer Zulieferfabrik seines Unternehmens deutlich. Preising begründet seine Nichteinmischung mit der mehrfach wiederholten Überlegung, »wie schwierig das mit der Kinderarbeit sei« (Lüscher 2015: 12–13). Die Aussage bleibt jedoch unbegründet und wird nicht nur durch ihre Wiederholung, sondern auch durch Preisings Quelle in ihrer Aussagekraft in Frage gestellt, handelt es sich doch um ein Mitglied eines »liberale Unternehmerclub« (Lüscher 2015:12), einen »Jungunternehmer, der einstmals bei Zürcher Geschnetzeltem und Rösti wortreich erklärt hatte, dass, mit etwas gesundem Abstand betrachtet, die Sache mit der Kinderarbeit nicht so einfach sei.« (Lüscher 2015: 123) Direkt mit den gebeugten Kinderrücken und »blutverkrusteten Fingernägeln« (Lüscher 2015: 122) der afrikanischen Kinder konfrontiert, die unverkennbar seine Produkte fertigen, zieht Preising sich auf diese geografisch im globalen Norden verortbare Position des »Abstands« zurück, die vom Fabrikleiter, der Preising aufgrund seines Schweigens für »einen ganz harten Hund« (Lüscher 2015: 124) hält, als Aufforderung zu neuen Preisverhandlungen interpretiert wird. Preisings Untätigkeit hält somit nicht nur der sprichwörtlich neutralen Schweiz, sondern gleich einer ganzen neoliberal-finanzkräftigen Schicht des globalen Nordens den Spiegel vor:



Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, die damit verbundene Verantwortung auf sich zu nehmen und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürgers führte, mit Ausnahme der Haushälterin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm. (Lüscher 2015: 66)



Den Reichtum Preisings, seines Prokuristen und der »Masse seiner Mitleistungsträger, Großentscheider und Vielverdiener« (Lüscher 2015: 67) identifiziert der Erzähler als wesentlichen Faktor der Krise, indem er ihre Argumente in einem moralisierenden Kommentar als fadenscheinige Ausreden entlarvt:



Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder bestenfalls im Zukauf noch einer BH-Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld abwarf, mit dem man ›Dinge in Bewegung setzen konnte‹, wie sie sich gerne ausdrückten. Dass Geld nicht für sich selbst steht, lag in der Natur der Sache, das war die Idee dahinter. Warum nur versuchen sie, uns das als ihre eigene Entdeckung zu verkaufen, und warum glaubten sie, würde das irgendetwas besser machen? (Lüscher 2015: 67)



In diesen Überlegungen zeigt sich die Funktion des namenlosen extradiegetischen Erzählers, der sowohl als Adressat für Preisings Narrativ als auch als moralischer Kommentator der von Preising beschriebenen Ereignisse fungiert. Dabei stellt der Erzähler nicht nur Preisings Untätigkeit an den Pranger, sondern hinterfragt exemplarisch gleich das gesamt globale kapitalistische Wirtschaftssystem. Dies wird vor allem durch Preisings die Novelle gleichsam umrahmende Kritik deutlich: Der Erzähler, so argumentiert der Fabrikerbe, »stell die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).



Preisings Unglaubwürdigkeit wird dabei durch die meta-narrativen Überlegungen des Erzählers unterstrichen, der sich der narrativen Qualitäten von Preisings Erzählung durchaus bewusst ist: »Was mir Preising hier also präsentierte, war eine Variante der Erzählung ›Wo ich gerade war, als England den Staatsbankrott erklärte‹, ein Genre, welches die Erzählung ›Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war‹ abgelöst hatte « (Lüscher 2015: 96). Diese Kontextualisierung der Krise im Alltäglichen mag auf den ersten Blick wie ein Versuch ihrer Verarbeitung erscheinen, ersetzt die notwendige Auseinandersetzung mit dem Schrecklichen und Unfassbaren aber meist nur durch die Erzählung persönlicher Banalitäten. Im Text steht hierfür bildhaft die minutiöse Kritik der »babyblauen Seidenkrawatte« des britischen Premierministers, die dem Erzähler »auch heute noch als unangemessen optimistisch und frivol in Erinnerung ist.« (Lüscher 2015: 96) Darüber hinaus wird diese Lesart der Krise als Sensationsnarrativ durch Preisings Beschreibung der medialen Reaktionen auf die Krise getragen, die sich einer für Krisensituationen typischen Sprache bedienen: »Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sondermeldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kommentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede.« (Lüscher 2015: 97) Die verwendete Metaphorik (Flächenbrand / Epidemie) unterstreicht die unvorhersehbaren Auswirkungen und wahrscheinliche Ausweitung der Katastrophe und ist so dazu angetan, zusätzliche Ängste im Zuschauer zu schüren. Diese sprachliche Hysterie wird in Preisings Erzählung direkt als solche entlarvt: »Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maße eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fernsehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.« (Lüscher 2015: 97)

 



Was wäre aber nun der rich