Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext

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Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext
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Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext

Alenka Koron / Andreas Leben

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8676-2 (Print)

ISBN 978-3-7720-0097-3 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit Literaturverzeichnis

  Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme Literaturverzeichnis

 Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten1 BegriffsübersichtLittératures à rayonnement limité – weniger verbreitete LiteraturenLittérature mineure – minor literature – ‚kleine Literatur‘Interregionale Literaturen / contact literaturesLittératures de l’exiguïté – Literaturen der KleinheitUltraminor literatures2 Deleuze und Guattari revisited3 Typologie kleiner europäischer LiteraturenLiteraturverzeichnis

  Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums (ausgehend von der Literatur der Kärntner Slowen_innen) 1 Zur Problemstellung 2 Der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘ 3 Der literarische Interaktionsraum aus raumtheoretischer Perspektive 4 Der Interaktionsraum und seine Anwendbarkeit Literaturverzeichnis

  Institutionen, Akteure, Modelle: Das Kärntner zweisprachige literarische Feld als Anziehungspunkt für deutschsprachige Autor_innen Verlage Wissenschaftsinstitutionen, Kulturinitiativen, Vereine Literaturwettbewerbe und Preise Theater Erinnungskulturelles Repertoire als Modellfall für literarischen Transfer Formen der literarischen Mehrsprachigkeit auf der Textebene Fazit Literaturverzeichnis

  Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? Zum literarischen Selbstverständnis neuerer Kärntner slowenischer Literatur im Spannungsfeld zwischen Mehrsprachigkeit und Innovation 1 Literarische Praxis 2 Tradition, Innovation und Mehrsprachigkeit 3 Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten? 4 Talking ’bout my generation 5 Literatur in Bewegung 6 Beseitigte Dörfer, brennende Städte 7 Neue Perspektiven Literaturverzeichnis

  Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen Was sind Biographien? Wo sind Biographien Kärntner slowenischer Autor_innen anzutreffen? Biographische Darstellungen zwischen Eigen- und Fremdzuschreibungen Warum ‚biographischer Interaktionsraum‘? Literaturverzeichnis

  Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ Literaturverzeichnis

  „Wahrheit des Klangs“: Die vielen Sprachen und ihre Funktion(en) im dramatischen Werk Peter Handkes 1 Einleitung 2 Theorie: Zum Begriff der Sprachigkeit 3 Methode: Die Datenbank Handke: in Zungen 4 Anfang: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke (1966) 5 Mitte und Wandel: Über die Dörfer (1981) 6 (Vorläufiger) Schluss: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2015) 7 Conclusio Literaturverzeichnis

  Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer aus dem Serbokroatischen seit den 1990er Jahren 1 Vorbemerkungen 2 Spezifikum Österreich 3 Spezifikum Kärnten und die Kärntner Slowen_innen 4 Die Rolle der Kärntner slowenischen Verlage 5 Der Motor Zweisprachigkeit Literaturverzeichnis

  Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in den literarischen Werken von Josip Osti und Goran Vojnović Literaturverzeichnis

  Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur Schluss Literaturverzeichnis

 Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in ItalienEinleitende Absteckung des ThemasDie VorgängerDie ZeitgenossenFazitLiteraturverzeichnisAnhangBibliographie zeitgenössischer zweisprachiger Literatur slowenischer Schriftsteller in Italien

  Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien Einleitung Historische Skizze der italienischsprachigen Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht Schriftsteller und Dichter der italienischen Volksgruppe in Istrien und Rijeka Charakteristika der zeitgenössischen italienischen Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht Thematiken der zeitgenössischen italienischen Schriftsteller in Istrien und der Kvarner Bucht Literarische Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in der italienischsprachigen Literatur Istriens Fazit Literaturverzeichnis

 

  Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 1 Die konkrete Voraussetzung: das biographische Dazwischen 2 Literatur und Sprache als ausgrenzende und als integrierende Faktoren 3 Textkorpus 4 Dialogizität der Region – Polyphonie und Pluralität der Literaturen 5 Die Perspektive: Die Alpen-Adria-Region als Laboratorium der Kulturen Literaturverzeichnis

 Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur – Formen, Funktionen und Rezeption bei Tomer Gardi, Semier Insayif und Vladimir Vertlib1 Literatur und Migration, Migrationsliteratur und literarische Mehrsprachigkeit2 Beispiele für literarische Mehrsprachigkeit in Migrationsliteratur im österreichischen Kontext2.1 Latente Mehrsprachigkeit in Vladimir Vertlibs Erzählung Abschiebung (1995)2.2 Semier Insayifs Faruq (2009), ein mehrschriftlicher Roman2.3 Sprachkreativität eines mehrsprachigen Autors: Tomer Gardi, broken german (2016)ResümeeLiteraturverzeichnis

  Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung in den Jahren des Großen Krieges 1 Einleitung 2 Historische Kontexte 3 Die Marburger Zeitung 4 Identitätskonstruktionen zwischen eigenem, fremdem und kollektivem Gedächtnis 5 Schlussfolgerungen Literaturverzeichnis

  Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 1 Ausgangshypothese 2 Material 3 Transdifferenz 4 Intersektionalität 5 Methode 6 Resümee Literaturverzeichnis

  Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie Schluss Literaturverzeichnis

  Autorinnen und Autoren

  Personenregister

  Register

Vorwort

Der vorliegende Band geht auf die Tagung „Literarische Mehrsprachigkeit in Österreich und Slowenien“ zurück, die im April 2018 vom Institut für Slawistik der Universität Graz in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste (ZRC SAZU) in Graz veranstaltet wurde. Anlass für das Zusammentreffen von in Deutschland, Italien, Luxemburg, Österreich und Slowenien tätigen Forscherinnen und Forschern war das vom Fonds zur Förderung der Wissenschaft finanzierte Projekt „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“, dessen Gegenstand nicht nur die Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten war, sondern Literatur jedweder Provenienz, die in einem rezeptiven, partizipativen oder produktiven Verhältnis zu dieser Literatur und ihren Produktionsweisen steht. Ziel der Tagung war es, den methodischen Zugang und erste Projektergebnisse im erweiterten Kontext aktueller slowenistischer, germanistischer und romanistischer literaturwissenschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung zu erörtern. Den Ausgangspunkt bildeten mit Österreich und Slowenien jene beiden Länder, auf die sich im Wesentlichen auch der im Projekt untersuchte Interaktionsraum erstreckt. Durch diesen Bezug sollte nicht nur ein diskursiver Rahmen für die Diskussion und den Vergleich mehrsprachiger literarischer Praxen bei minoritären und/oder migrierten Autorinnen und Autoren umrissen werden, vielmehr ging es auch darum, die behandelten Themen in ein Spannungsverhältnis zu den in beiden Ländern vorherrschenden monolingualen Paradigmen und den damit verbundenen Problemfeldern zu setzen. Die Engführung zweier konkreter staatlicher bzw. nationaler Zusammenhänge und die Notwendigkeit, diese ständig durchbrechen zu müssen, erwies sich für die Diskussion theoretischer Konzeptionen und Modelle wie auch für die Auseinandersetzung mit Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit als überaus erhellend. Für den gegenständlichen Band konnte das Spektrum der auf der Tagung behandelten Fragestellungen wesentlich erweitert werden: zum einen dank der Kolleginnen und Kollegen, die an der Tagung persönlich nicht teilnehmen konnten, jedoch von Anfang an in das Buchprojekt eingebunden waren; zum anderen dank jener Beiträge, die auf Anfrage eigens für diese Publikation verfasst wurden und vor allem den Blick auf die ‚kakanische‘ Dimension literarischer Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext vertiefen.

Dass gut ein Jahr nach einer Konferenz auch schon die dazugehörige Publikation nachgereicht werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Möglich gemacht haben dies zu allererst die Beitragenden sowie die Übersetzerinnen und Übersetzer, die sich alle an die relativ straffen Zeitvorgaben gehalten haben, wofür wir ihnen als Herausgeberin und Herausgeber herzlich danken möchten. Gedankt sei an dieser Stelle der Università degli Studi di Trieste und den anderen Förderern, die Mittel für die Übersetzung einzelner Beiträge bereitgestellt haben, Claudia Mayr-Veselinović für ihre tatkräftige Mitarbeit bei der Organisation der Tagung und der redaktionellen Betreuung der Texte sowie Rolf Parr und Till Dembeck, die uns die Möglichkeit eröffnet haben, den Band in der Reihe „Literarische Mehrsprachigkeit/Literary Multilingualism“ zu publizieren. Unser besonderer Dank gilt schließlich der Universität Graz und dem Wissenschaftlichen Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste für die großzügige Förderung des Gesamtprojekts, das im Herbst dieses Jahres mit dem Erscheinen der slowenischen Fassung dieses Bandes im Verlag ZRC SAZU seinen vorläufigen Abschluss finden wird.

Graz und Ljubljana, Mai 2019 Andreas Leben und Alenka Koron

Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit

Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana)

Mit seiner Themensetzung, der literarischen Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext, positioniert sich der vorliegende Band an einer Schnittstelle slawistischer, germanistischer, romanistischer und komparatistischer Forschung. Länder-, regionen- und sprachenübergreifende Vergleiche sind im literaturwissenschaftlichen Feld gewiss keine Seltenheit, sie zielen in der Regel jedoch auf Fragestellungen ab, die eine eingehendere Befassung mit den dahinterstehenden nationalen literarischen Systemen nicht unbedingt erforderlich machen. Eben diese Absicht liegt den hier versammelten Beiträgen zugrunde, die ausgehend von den heutigen literarischen Verhältnissen die Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit, aber auch das Neben- und Miteinander mehrsprachiger Literaturen anhand zweier nationaler bzw. staatlicher Gebilde, nämlich Österreich und Slowenien, aufeinander beziehen. Die beiden Nachbarländer scheinen für einen solchen Zugang nicht nur aufgrund zahlreicher historischer, politischer und kultureller Gemeinsamkeiten und Verwerfungen besonders geeignet, sondern auch weil sie trotz ihrer gewachsenen sprachlichen Vielfalt auch ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit homogenisierender nationaler Ideen sind. Monolinguale Nationalliteraturen mögen in der Tat „eine allenfalls pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion“ (Schmitz-Emans 2004: 11) sein, nichtsdestoweniger ist hier die Hegemonie des Deutschen, dort die Hegemonie des Slowenischen nicht zu übersehen, weshalb der Blick auf Minderheiten-, Migrations- anderssprachige oder mehrsprachige Literaturen in beiden Ländern lange Zeit verdeckt blieb. Einleitend sei daher zumindest skizzenhaft auf die Entstehung und die Auswirkungen dieser hegemonialen Verhältnisse eingegangen, die sowohl für die mehrsprachige literarische Produktion als auch für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen von maßgeblicher Bedeutung sind, die aber signifikante Unterschiede aufweisen.

Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass der Literatur im slowenischen Zusammenhang eine ungleich höhere identitätsstiftende nationale Funktion zugeschrieben wird, als dies in Österreich der Fall ist, dennoch darf die Bedeutung von Literatur für die Herausbildung und Entwicklung des heutigen Österreich-Bewusstseins nicht unterschätzt werden. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als sich das politische Österreich in Anlehnung an die Moskauer Deklaration als ‚erstes‘ Opfer der nationalsozialistischen Aggression zu verstehen begann (vgl. Uhl 2001), löste man sich von der Idee der Zugehörigkeit zur ‚deutschen Sprachnation‘, bis sich schließlich in den 1970er Jahren die Vorstellung von Österreich als einer souveränen Staatsnation mit eigener Identität mehrheitlich etablierte (vgl. Bruckmüller 1998). In fortschreitender Abgrenzung von Deutschland kam es auch zu einer „Nationalisierung des literarischen Feldes“ (Sievers 2016: 23–30), die insbesondere die literarischen Strukturen betraf, von denen viele in den 1970er und 1980er Jahren neu geschaffen wurden. Auch die österreichische Germanistik begann den Staat nun als eigenen Literaturraum zu begreifen (vgl. Zeyringer 1995: 42–53), wobei der Fokus ganz auf der deutschsprachigen Literatur zu liegen kam, obwohl eingeräumt wurde, „daß es hier auch Literatur in mehreren Sprachen zu betrachten gilt“ (Schmidt-Dengler/Zeyringer 1995: 16). Auch der durchschlagende Erfolg des von Peter HandkeHandke, Peter und Helga MračnikarMračnikar, Helga ins Deutsche übertragenen Romans Der Zögling Tjaž (1981) von Florjan LipušLipuš, Florjan vermochte zunächst nur wenig an der Randposition nichtdeutschsprachiger Literatur zu verändern. Noch 1986 stellte der Lyriker Jani OswaldOswald, Jani ironisch fest, dass durch das Gerede um eine Literatur, die im Original fast niemand kenne und die nur zum Teil über gute Übersetzungen zugänglich sei, die Rolle der Kärntner slowenischen Autor_innen als „Exoten“ auf dem Schauplatz der österreichischen Literatur lediglich einzementiert werde (Oswald 1986: 16). Erst mit dem Ende des realen Sozialismus und der politischen Neuordnung Europas begann sich das österreichische literarische Feld für die Literatur der sogenannten Volksgruppen oder autochthonen Sprachminderheiten, vor allem der Kärntner Slowen_innen, später auch für die Literatur von zugewanderten Autor_innen (vgl. Sievers 2017: 30–35) zu öffnen. Ein erstes Zeichen der Sichtbarmachung nichtdeutschsprachiger Autor_innen war Gerald Nitsches Anthologie Österreichische Lyrik … und kein Wort Deutsch (1990) mit Texten von knapp 40 Migrant_innen und Minderheitenangehörigen,1 der noch weitere Anthologien dieser Art folgten, allerdings blieb das wissenschaftliche Interesse an Migrant_innenliteratur wie auch am Thema Migration bis in die frühen 2000er Jahre verhalten.2 Zur bereits früher einsetzenden und zunächst breiteren Wahrnehmung der Literatur der Kärntner Slowen_innen trugen neben der regen literarischen Produktion auch die slowenischen bzw. zweisprachigen Kärntner Verlage, die aufkommende Übersetzungstätigkeit und nicht zuletzt die im Bereich literarischer Mehrsprachigkeit anzusiedelnden komparatistischen und literaturpädagogischen Forschungen an der Universität Klagenfurt wesentlich bei.3 Diese sind auch deshalb von Bedeutung, weil dadurch Texte Kärntner slowenischer Autor_innen Aufnahme in den sich herausbildenden literarischen Mehrsprachigkeitsdiskurs fanden (vgl. Strutz/Zima 1996).Oswald, JaniHaderlap, Maja4 Vor allem die Literaturpädagogik war bestrebt, die Literaturen von Minderheiten und Migrant_innen gleichwertig zu vermitteln (vgl. Wintersteiner 2006: 115, 146–148; Mitterer/Wintersteiner 2009) und räumte ihnen aufgrund ihrer interkulturellen und interlingualen Eigenschaften auch einen Platz innerhalb des Konzepts kulturvermittelnder Weltliteratur ein (Wintersteiner 2006: 240–242, 269–272). Folgerichtig stellte die neuere Literaturgeschichtsschreibung schließlich fest, dass „Mehrsprachigkeit und Multikulturalität am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zu einem wichtigen Element der österreichischen Literatur“ geworden sind (Kriegleder 2011: 571), und nahm daher auch Literatur migrierter oder einer ethnischen Minderheit zuordenbarer Autor_innen in die Gesamtdarstellung österreichischer Literatur auf (vgl. Kriegleder 2011; Zeyringer/Gollner 2012). Nicht alle Institutionen im österreichischen literarischen Feld halten mit dieser Entwicklung Schritt, weshalb sich immer wieder die Notwendigkeit ergibt, Anpassungen vorzunehmen, beispielsweise um auch nicht Deutsch schreibende Autor_innen mit wichtigen nationalen Auszeichnungen und Preisen würdigen zu können.Lipuš, Florjan5

 

In der Grundtendenz ähnlich und doch wesentlich verschieden sind die Verhältnisse in Bezug auf nichtslowenische Literatur und literarische Mehrsprachigkeit in Slowenien. Die im 19. Jahrhundert postulierte Existenz einer slowenischen Sprach- und Kulturnation, die sich unter anderem gerade durch die Berufung auf die Literatur legitimierte und emanzipierte, fand gewissermaßen ihre Erfüllung in der 1991 ausgerufenen staatlichen Souveränität Sloweniens.6 Die Literatur und ihre Repräsentanten und Institutionen verloren danach rasch an ‚nationaler‘ Bedeutung, jedoch etablierte sich das Slowenische als die gesellschaftlich und literarisch dominante Sprache. Die autochthonen ethnischen Minderheiten erhielten umfassende Rechte, wurden aber genauso wie die zahlenmäßig zum Teil weitaus stärkeren, als Minderheit jedoch nicht anerkannten Ethnien aus den anderen ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens im neu entstandenen slowenischen literarischen Feld marginalisiert.7 Folglich gab es kaum Anlass, unter ‚slowenischer Literatur‘ etwas anderes zu verstehen als in slowenischer Sprache geschriebene Literatur, und zwar unabhängig davon, wo sie entsteht und veröffentlicht wird. Nicht zuletzt wird dieses Bild durch die slowenische Literaturgeschichte verfestigt, die seit ihren Anfängen auf in slowenischer Sprache geschriebene Literatur abgestellt ist.8 Eine neue, konzeptuell die Gesamtheit der Sprachen und Literaturen Sloweniens berücksichtigende Literaturgeschichte liegt zwar nicht vor, jedoch hat Miran HladnikHladnik, Miran bereits nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚slowenische Literatur‘ wesentlich breiter gefasst werden muss, als dies in den bisher erschienenen Literaturgeschichten der Fall ist. Seiner Ansicht nach ist Slowenisch als Sprache des Originals für die Einordnung eines Textes unter diesen Begriff kein Schlüsselkriterium mehr, vielmehr seien auch Übersetzungen ins oder aus dem Slowenischen und anderssprachige Literatur slowenischer oder anderer Autor_innen, die in Slowenien gelesen werden, ebenfalls zu berücksichtigen (Hladnik 2013: 323). Um überhaupt eine „emanzipierte Diskussion“ über die verschiedenen Literaturformen im slowenischen Zusammenhang zu ermöglichen, schlug er des Weiteren vor, statt des üblichen Terminus ‚slowenische Literatur‘ den Begriff „literatura na Slovenskem“ (‚Literatur im slowenischen Raum‘) zu verwenden (Hladnik 2016: 49).9 Die Bestrebungen, die interkulturelle Verfasstheit der slowenischen Gesellschaft und Literatur stärker ins Bewusstsein zu heben, nehmen ihren Ausgang Mitte der 2000er Jahre, als die Anglistin und Literaturhistorikerin Meta GrosmanGrosman, Meta 2004 einen vielbeachteten Band zum Thema Literatur in der interkulturellen Kommunikation veröffentlichte. Schon im darauffolgenden Jahr war das traditionelle Sommerseminar an der Universität Ljubljana der Multikulturalität in der slowenischen Sprache, Literatur und Kultur gewidmet (vgl. Stabej 2005), und in den Jahren 2004 bis 2007 beschäftigten sich Janja Žitnik SerafinŽitnik Serafin, Janja, Lidija DimkovskaDimkovska, Lidija und Maruša Mugerli LavrenčičMugerli Lavrenčič, Maruša in einem Forschungsprojekt mit dem literarischen und kulturellen Bild der Einwanderer in Slowenien, aus dem unter anderem eine bis heute zentrale Monographie zur Lage der Migrantenliteratur und -kultur im slowenischen Raum hervorging (vgl. Žitnik Serafin 2008). Ebenfalls 2008, im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs unter slowenischer EU-Ratspräsidentschaft, wurde anlässlich des Slowenischen Slawistenkongresses in Klagenfurt, der zugleich dem 500. Geburtstag des Reformators und Begründers der slowenischen Schriftsprache Primož TrubarTrubar, Primož gewidmet war, der Versuch unternommen, die interkulturelle Slowenistik in Fachvorträgen (vgl. Košuta 2008) und durch einen Runden Tisch zum Thema10 stärker zu profilieren. Mittlerweile haben die Themen Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Eingang in zahlreiche gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Forschungsbereiche gefunden, zumal es in Slowenien eine lange Tradition in der Ethnizitäts- und Minderheitenforschung gibt, wohingegen sie in der slowenistischen Literaturwissenschaft, aber auch im slowenischen literarischen Feld insgesamt noch immer eher ein Randthema sind. Neben Miran HladnikHladnik, Miran, der in seinen Forschungen in erster Linie die Literaturbeziehungen in der älteren slowenischen Literatur in den Blick nimmt, und Silvija BorovnikBorovnik, Silvija, die sich seit den 1990er Jahren mit interkulturellen Aspekten und Mehrfachzugehörigkeiten in der zeitgenössischen slowenischen Literatur auseinandersetzt (vgl. Borovnik 2017), widmen sich zwar auch zahlreiche andere Forscher_innen mitunter diesem Themenkomplex, trotzdem hat sich weder in der slowenischen noch in der slawistischen noch in der vergleichenden Literaturwissenschaft ein Forschungszweig herausgebildet, der sich speziell mit literarischer Mehrsprachigkeit beschäftigen würde. Sogar der Begriff ‚literarische Mehrsprachigkeit‘, dem im Slowenischen die Bezeichnungen ‚literarna večjezičnost‘ oder ‚literarno večjezičje‘ entsprechen, scheint, gemessen an der Häufigkeit seiner Verwendung, fast noch ein Neologismus zu sein.

Dass die Konzeption und Anwendung inter- und transkultureller Forschungszugänge, aber auch die Verhältnisse und Regelungen im slowenischen literarischen Feld in Bezug auf literarische Mehrsprachigkeit auf verschiedene Hindernisse stoßen, wie sie auch in den Beiträgen dieses Bandes zur Sprache kommen werden, mögen folgende Beispiele illustrieren: 2012 änderte der Slowenische Schriftstellerverband seine Statuten dahingehend, dass auch nicht Slowenisch schreibende Autor_innen dem Verband beitreten können. Dieser ermöglichte auch das Erscheinen einer mehrsprachigen Literaturanthologie (Dimkovska 2014), in der 34 Migrant_innen und Angehörige der autochthonen Minderheiten in Slowenien vertreten sind, die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen zur Förderung und Verbreitung anderssprachiger oder mehrsprachiger Literatur haben sich ansonsten aber kaum verändert. So gibt es in Slowenien bis heute keine Institution, die etwa mit dem Verein Exil, der Initiative Minderheiten oder Initiativen wie dem Hohenemser Literaturpreis vergleichbar wäre.11 Nach wie vor virulent ist die von der in Slowenien lebenden US-amerikanischen Schriftstellerin Erica Johnson DebeljakJohnson Debeljak, Erica (2013) aufgeworfene Frage, wer eigentlich ein slowenischer Schriftsteller sein darf, und ob es nicht möglich sein sollte, den renommierten Kresnik-Preis auch an Autor_innen wie die Deutsch schreibende Kärntner Slowenin Maja HaderlapHaderlap, Maja zu vergeben. In gewisser Weise hat das slowenische Schulwesen diese Frage jüngst beantwortet, denn als Thema für den Essay bei der Zentralmatura 2019 aus dem Fach Slowenisch hat die zuständige Kommission Maja HaderlapsHaderlap, Maja Roman Engel des Vergessens in der Übersetzung von Štefan VevarVevar, Štefan ausgewählt (Božič/Špacapan/Adam 2018).

Die hier skizzierten Entwicklungslinien im österreichischen und slowenischen Diskurs rund um Mehrsprachigkeit und Literatur machen auch deutlich, dass der Grad individueller, kollektiver, gesellschaftlicher, territorialer und institutioneller Mehrsprachigkeit für sich genommen für deren Präsenz und Akzeptanz nur wenig Aussagekraft hat. So zählt Slowenien in Bezug auf die Zwei- und Mehrsprachigkeit seiner Bewohner_innen zu den Spitzenreitern in der Europäischen Union (European Commission 2012: 15), trotzdem scheinen gegenwärtig die Voraussetzungen für die Produktion, Verbreitung und Rezeption mehrsprachiger Literatur in Österreich, das sich statistisch gesehen lediglich im europäischen Mittelfeld befindet (ebd.), wenn auch nicht ideal, so doch ungleich besser zu sein.12 Dabei nimmt die Mehrsprachigkeit der EU-Bevölkerung im Vergleich zu 2005, wie aus den von der Europäischen Union in Auftrag gegebenen Umfragen hervorgeht, grosso modo ab (ebd.: 5, 142). Die „Polygamie der Sprachen“, von der Beck und Grande in ihrem Appell für eine „innere Kosmopolitisierung“ Europas sprechen, womit sie das Erlernen von Englisch als Drittsprache und einer weiteren europäischen oder nichteuropäischen Sprache als Zweitsprache meinen, scheint demnach auf der Stelle zu treten. Mehr noch: Die Feststellung, dass manche europäischen Länder eine zugleich protektionistische und imperialistische Sprachenpolitik betreiben und die nationale Kultur und Identität ihrer Sprache „schützen“ und in ihrem Geltungsbereich „ausdehnen“ wollen, während andere um das Überleben ihrer Sprache „kämpfen“ und wiederum andere sich auf der globalen Geltung ihrer Sprache „ausruhen“ können (Beck/Grande 2004: 158), hat nichts an Gültigkeit verloren, wobei die Wortwahl wohl nicht von ungefähr daran erinnert, dass Sprachenpolitik als ein umkämpftes Feld widerstreitender Interessen aufgefasst werden muss. Von daher scheint es geboten, den Mehrsprachigkeitsdiskurs – ob in den Erziehungswissenschaften, der Fremdsprachendidaktik, der Linguistik oder den Literaturwissenschaften – immer auch im Kontext der jeweiligen politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und Kräfteverhältnisse zu denken, zumal die enge gesellschaftliche Bindung auch dafür ausschlaggebend sein dürfte, dass dieser Forschungszweig seit Jahrzehnten einen beachtlichen Boom verzeichnet, der längst auch die Literaturwissenschaften erreicht hat. Aus der Forschungsgeschichte geht überdies hervor, dass das Phänomen literarischer Mehrsprachigkeit zumeist innerhalb von Einzelphilologien untersucht wird, die im Normalfall nur wenig Notiz voneinander nehmen.13 Als „ruhmreiche Ausnahme von der Blindheit der Nationalphilologien für Sprachwechsel und -mischung“ (Dembeck 2017: 153) kann die Romanistik genannt werden, die „immer schon mehrere Sprachgebiete und Nationen abdeckt“. Ähnliche Voraussetzungen böte an sich die Slawistik, vor allem jene außerhalb der slawischen Länder,14 allerdings kann das weitgehende Fehlen aussagekräftiger Bestandsaufnahmen zu diesem Thema als Hinweis darauf gelten, dass in der Slawistik wie auch in den Nationalphilologien vieler slawischer Länder, so in Slowenien, die literarische Mehrsprachigkeit ein relativ junges und wenig etabliertes Forschungsfeld ist.15

Wenn die lebensweltliche Mehrsprachigkeit einer Gesellschaft oder eines Landes nicht zwangsläufig zu einer größeren Sichtbarkeit literarischer Mehrsprachigkeit führt, unterstreicht dies die Bedeutung der Verhältnisse im literarischen Feld und der Intensität der Bindung der jeweils dominanten (Literatur-)Sprache an essenzialistische Kategorien und Konstruktionen wie Ethnizität, Nation, Identität. Im slowenischen Kontext sind diese Kategorien in deutlich größerem Maß wirksam, was sich auch am literaturwissenschaftlichen Diskurs ablesen lässt. Dies gilt auch für den Umgang mit der slowenischen Literatur in Kärnten bzw. der Literatur der Kärntner Slowen_innen, die ein zentrales Bindeglied zwischen Österreich und Slowenien bzw. zwischen der Germanistik, Slawistik und Komparatistik der beiden Länder darstellt. Denn während die österreichische Literaturwissenschaft seit mehreren Jahrzehnten zumeist die interkulturellen, zwei- oder mehrsprachigen Aspekte dieser Literatur in den Mittelpunkt rückt, wurde insbesondere das deutschsprachige literarische Schaffen der Kärntner Slowen_innen seitens der slowenischen Literaturwissenschaft bis vor wenigen Jahren mit wenigen Ausnahmen außer Acht gelassen. Später wurde diese Praxis mitunter als mögliches Anzeichen von Assimilation (vgl. Bandelj 2008: 175) oder schlicht als trauriges Faktum gedeutet (vgl. Borovnik 2008: 53–54), während sie heute – zusammen mit der Literatur von Slowenien nach Österreich migrierter Autor_innen – wiederum als „Musterfall“ literarischer Interkulturalität erachtet wird (Borovnik 2017: 71).

Die zwei- und mehrsprachige literarische Praxis der Kärntner Slowen_innen diente auch als Angelpunkt für die hier versammelten Beiträge. Denn was sie über den österreichischen und slowenischen Kontext hinaus interessant macht, ist nicht nur ihre heterogene Entwicklung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten, sondern auch die Tatsache, dass sie Gegenstand einer breit gefächerten, nicht nur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, wie sie für eine kleine Literatur keine Selbstverständlichkeit darstellt. So bietet diese Literatur mit ihren vielfältigen Formen, Funktionen und Paradoxen, ihren Institutionen und ihrer Einbindung in Diskurse, die von traditioneller Heimatliteratur bis hin zur Weltliteratur reichen, ideale Voraussetzungen für die Anbindung an Fragen nach der Funktionsweise literarischer Felder und Systeme wie auch für die Diskussion minoritärer, überregionaler, polyphoner, migrantischer und transkultureller Literaturen, deren gemeinsames Merkmal Mehrsprachigkeit ist.