Lebenskunst nach Leopardi

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I LEBENSBEGRIFFE

Zwischen anti-pessimistischem Kalkül und latentem Optimismus

Zur «arte del vivere» in Leopardis Pensieri

Tra calcolo anti-pessimistico e latente ottimismo

Sull’«arte del vivere» nei Pensieri di Leopardi

Helmut Meter

Leopardis Pensieri, Erweiterungen und Ausarbeitungen verschiedener Passagen aus dem Zibaldone, setzen sich das Ziel, zur ‹Lebenskunst› anzuleiten. Ausgangspunkt des moralistischen Unterfangens ist das Bild einer selbstzerstörerischen Gesellschaft, das sich von der Annahme einer negativen menschlichen Natur herleitet. Diese deterministische Szenerie, die Leopardi im Kern als nicht veränderbar erachtet, ist ihm jedoch der Anlass, nach Wegen zu suchen, das jeweilige individuelle Leben erträglicher zu machen. Im Darlegen einer solchen «arte del vivere» manifestiert sich ein anti-pessimistisches Kalkül. Diese ‹Kunst› gründet sich auf eine rigorose Selbsterkenntnis und das Erkennen des Charakters der Mitmenschen. Dabei sind zumal die persönlichen Defizite der anderen, die man sich zunutze machen sollte, von Interesse. Aus ihnen können Handlungsanleitungen für geeignete Personen abgeleitet werden, um das eigene Leben weniger bedrückend zu gestalten. Leopardis Programm versteht sich nicht als Glücksversprechen, sondern als Anleitung zu der Fähigkeit, zu einem erträglichen ‹Unglücklichsein› zu finden. Dies ist eine latent optimistische Einstellung im Rahmen einer freilich substantiell negativen Auffassung des Menschen und der Gesellschaft.

Leopardi, nei Pensieri, amplia ed elabora diversi passi dello Zibaldone e si propone di esercitare i lettori all’‹arte del vivere›. Il punto di partenza dell’intento moralistico è dato dall’immagine di una società autodistruttiva, risultante dalla convinzione di una natura umana negativa. Tale assetto deterministico, considerato da Leopardi come immutabile nel suo nucleo, si dimostra, però, il motivo decisivo per cercare delle vie, atte a rendere più sopportabile la vita di ogni singolo individuo idoneo. Nell’esporre tale ‹arte del vivere› si manifesta un calcolo anti-pessimistico. Questo si fonda su una rigorosa autoconoscenza e sulla cognizione caratteriale degli altri uomini. Riguardo a ciò sono di importanza particolare le carenze personali degli altri da cui si potrà trarre vantaggi. Da queste carenze, infatti, possono risultare regole da seguire che permettono di rendere meno desolata la propria vita. Perciò il programma leopardiano non intende essere una promessa di felicità, ma incoraggiare la capacità di giungere a una ‹infelicità› sopportabile. In tale proposta è da scorgere una latente attitudine ottimistica, anche se essa si inserisce comunque nel quadro di una concezione sostanzialmente negativa dell’uomo e della società.

Schlagwörter: Anti-Pessimismus, Optimismus, Lebenskunst, Moralistik, Natur

Parole chiave: anti-pessimismo, ottimismo, arte del vivere, moralistica, natura

I.

Die negative Beurteilung menschlicher Existenz in Leopardis moralistischem Spätwerk der 111 Pensieri – posthum 1845 erstmals veröffentlicht bei Le Monnier – hat geradezu topischen Charakter1. Da ist die soziale Welt etwa bestimmt von «l’ingratitudine, l’ingiustizia, e l’infame accanimento degli uomini contro i loro simili» (XVI, 51 [«der Undankbarkeit, der Ungerechtigkeit und dem niederträchtigen Hass der Menschen gegen ihresgleichen»]), und ebenso entschieden wird die «carneficina che l’uomo fa del suo prossimo» (XX, 57 [«das Gemetzel, das der Mensch unter seinen Nächsten anrichtet»]) bildkräftig ins Blickfeld gerückt2. Mitunter verweist Leopardi dabei auf eine «condizione umana» (LIII, 98 [«conditio humana»]) oder gar auf eine «natura umana» (LXVIII, 114 [«menschliche Natur»]), mithin auf Basisfaktoren unabänderlicher Art, die eine grundsätzliche Determiniertheit menschlichen Verhaltens umschreiben sollen. Um sich auf dem schwierigen Terrain gesellschaftlichen Lebens ohne größeren Schaden zu bewegen, sei der Mensch folglich auf einen Lernprozess angewiesen, auf ein «imparare a vivere» (LII, 97 [«zu leben lernen»]), das seinerseits nur auf dem kognitiven Erfassen der menschlichen Natur und den daraus zu ziehenden Schlüssen aufbauen könne. In dem facettenreich dargelegten Tableau eines bellum omnium contra omnes gilt es für den Einzelnen demzufolge, sich behaupten zu können, ohne indes im eigenen Tun nur einen weiteren Beleg für die Misere des konstitutiven menschlichen Antagonismus bereitzustellen.

Leben zu lernen oder gar zu einer erstrebenswerten «Lebenskunst», zu einer «arte del vivere» (LXXIX, 127), zu finden, ist ein komplexer Vorgang, an dem offenbar nur eine begrenzte Zahl von Menschen teilhat. Die weitaus meisten bleiben, wie Leopardi zeigt, in einem unreflektierten Habitus befangen und suchen keine Wege, sich mit den Zwängen ihrer Natur auseinanderzusetzen sowie im Rahmen ihrer existentiellen Festlegung einen modus vivendi zu finden, der das Dasein erleichterte und Seelenfrieden, nämlich «tranquillità dell’animo» ermöglichte sowie ein «poter vivere» (LIV, 99 [«leben können»]) garantieren könnte. Dies aber wäre die notwendige Grundlage einer anti-pessimistischen Einstellung zum Leben.

Nun gibt es zwei Ansatzpunkte der negativen Einschätzung von Gesellschaft und Mensch in den Pensieri: zum einen die zeitgenössische Gesellschaft und ihre immanente Destruktivität; zum anderen die negative Beurteilung der menschlichen Natur in einem panchronischen Sinne. Sozialpsychologisch wie anthropologisch legt sich Leopardi mithin auf eine pessimistisch geprägte Rahmenvorstellung fest. Dies schließt anti-pessimistische Strategien sicherlich nicht aus, doch dies innerhalb eines gesellschaftlichen wie humanen Horizonts, der von unverrückbaren Gewissheiten unabänderlicher Negativität bestimmt ist. Lebenskunst kann sich demzufolge essentiell nur als Palliativ verstehen, als ein nützlicher Modus, die Zumutungen der Existenz erträglicher zu gestalten, als das Bemühen, in ausgewählten Segmenten der Lebensführung eine Entlastung zu finden. Und dies geschieht über eine operative Technik der Nutzbarmachung von Selbsterkenntnis und Erkenntnis der anderen Menschen. Diese Erkenntnisweisen charakterisieren sich durch den Umstand, dass sie sich hauptsächlich auf jeweilige humane Schwächen oder Defizite richten, mithin dadurch, dass aus einem Konzert widerstreitender Formen von Negativität per Kalkül für das nach Erleichterung existentieller Not suchende Subjekt ein spürbarer Mehrwert erwächst. Offenbar nutzt Leopardi hier die Hobbes’sche Auffassung des homo homini lupus antinomisch für ein Konzept der defensiven Selbstertüchtigung3.

Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es entscheidend des Einsatzes der Vernunft. Schließlich ist es diese, die die Unzulänglichkeiten der eigenen Person erkennbar macht sowie die unverrückbaren Persönlichkeitsmerkmale und Defizite der anderen. Nur der kühle, unvoreingenommene Blick auf die strukturellen Charakterschwächen der menschlichen Spezies vermag die Grundlage für eine «arte del vivere» zu schaffen, die einer partiellen Befreiung vom Joch anthropologischer Ausweglosigkeit gleichkommt.

Diese Option für das rationale Vorgehen hat nun allerdings zwei nicht unproblematische Implikationen. Zunächst könnte sie der Grund dafür sein, dass in der Rezeptionsgeschichte der Pensieri diesen gelegentlich eine substantielle Aridität des Denkens und eine verengte Weltsicht unterstellt werden, wie es bereits im Urteil von Francesco De Sanctis der Fall ist4. Überdies ließe sich im Privilegieren des Vernunftregisters ein unverhüllter Widerspruch zu Leopardis ansonsten häufiger Kritik an der menschlichen Ratio, ja zu deren mitunter klaren Zurückweisung entdecken5. Das Bemühen um eine Eindämmung pessimistischer Gewissheiten bedarf mithin, so scheint es, der partiellen Reorganisation vertrauter Denkmuster und ihrer subjektiv gesicherten epistemologischen Basis. Dies hinterlässt letzten Endes den Eindruck einer Auflehnung gegen das ansonsten Unvermeidliche, gegen ein selbst erstelltes Weltbild ausnahmsloser Negativität.

So hat es den nicht unbegründeten Anschein, Leopardis Bekenntnis zum Einsatz einer strategischen Vernunft, im Hinblick auf ein besseres Leben im Verständnis selbstgewissen Handelns, komme einer Auflehnung gegen sein eigenes besseres Wissen gleich. Folglich nimmt es nicht wunder, dass Walter Benjamin – freilich ohne Bezug auf den verdeckten Widerstreit – auf Karl Voßlers Spuren in den Pensieri «eine Kunst der Weltklugheit für Rebellen» erkennt6. Rebellisches Verhalten aber versteht sich notwendigerweise als ein Tun, das sich dem Ziel einer möglichen Alterität verpflichtet weiß, als eine Reaktion, die zumindest potentielle Veränderbarkeit missliebiger Verhältnisse nicht ausschließt. Unter solchem Gesichtspunkt erwiese sich die «arte del vivere» gleichsam als ein anti-pessimistisches Elixir, dem wenigstens eine kleine Wirkungskraft eignet.

Damit geht indessen folgerichtig eine weitere Erkenntnis einher. Rebellion – und der Terminus ist seitens der leopardiani gerne aufgegriffen worden – ist semantisch nicht abtrennbar von einem Potential an Emotionalität, an Impulsivität. Dies wäre dann konsequenterweise der latente energetische Antrieb für Leopardis konzeptuelle und pragmatische Rationalität in seinen Pensieri.

II.

Nun erfüllt Leopardis Konzept einer «arte del vivere» zunächst einmal den Zweck eines Selbstschutzes. Die intendierte Lebenskunst reiht sich keineswegs in das verbreitete aufklärerische Paradigma der Suche nach Glück ein. In seinem argumentativen Duktus verweilt Leopardi vielmehr innerhalb der Grenzen des «infelicità»-Begriffs: Lebenskunst bedeutet demnach, sich in einem unabänderlichen Unglücklichsein einzurichten, dessen Zwänge bestmöglich ertragen zu können1. Somit handelt es sich, präziser gesagt, um eine «arte di essere infelice» [«Kunst, unglücklich zu sein»], eine Formel, die von Leopardi schon wenige Jahre vor dem Abfassen seines späten Textes geprägt wurde, nämlich 1829 im Projekt eines Manuale di filosofia pratica2, und die neben ihrer Schlüssigkeit im Rahmen des Denk- und Erfahrungsgebäudes ihres Autors einen weiteren Aspekt freilegt: das Bemühen um Originalität.

 

Letzteres meint nicht die Inszenierung gedanklicher Exzentrik, sondern vordringlich den Glauben, abseits oft beschrittener Wege sowohl zu neuen Einsichten als auch zu einer veränderten Lebensform zu gelangen. Leopardi schreibt sich mithin nicht ein in die longue durée eines moralistischen Schreibens, das den Fundus menschenbezogenen Wissens in organischem Sinne zu erweitern trachtete. Seine Haltung ist eher die des cavalier seul, der sich im Prinzip nicht als Teil eines kollektiv getragenen Erkenntnisprozesses versteht3. Darin ist am Ende der Anspruch der Pensieri zu sehen, aber auch ihre eigentümliche Signatur eines Lebensentwurfs, dessen antipessimistische Qualität weder in den herkömmlichen Bahnen optimistisch angelegter Moralistik verläuft noch antinomisch auf den Merkmalen eines tradierten Pessimismus aufbaut. In geistesgeschichtlicher Betrachtung und bewusst plakativ gesagt, ist Leopardi in diesem Punkt ebenso wenig dem illuminismo zuzurechnen wie dem romanticismo, wenn man die wirkungsmächtigen zeitgeschichtlichen Kategorien bemühen will.4 Indem die als anti-pessimistisch aufzufassende Lebenskunst im Bereich einer kompromisslos dekretierten gesellschaftlichen Negativität angesiedelt ist, sind ihre Grenzen unverkennbar und scheinen letztlich auch nicht erweiterbar.

«Arte del vivere» lautet folglich das Angebot eines bescheidenen Refugiums. Für sich genommen, unter momentanem Ausblenden seiner bedrückenden Umrahmung, mag dieses als Kernbereich aufkeimender Hoffnung erfahren und aufgefasst werden. Doch solche Diskontinuitäten im deterministischen Grundgefüge von Gesellschaft und menschlicher Natur müssten sich schließlich und endlich als trügerisch erweisen. Das benimmt den anti-pessimistischen Fingerzeigen Leopardis allerdings nicht ihre genuine Qualität einer Suche nach Auswegen, einer Suche, die nicht allein zwangsläufig vergeblich zu sein scheint, sondern auch als probater Selbstzweck zu verstehen ist, aus dem eine größere Leichtigkeit des Seins hervorgehen könnte.

Die Pensieri sind bekanntlich Erweiterungen und Ausarbeitungen bestimmter Passagen aus dem Zibaldone5. Verschiedentlich wurde in der Forschungsliteratur hervorgehoben, dass der markante Unterschied beider Werke texttypologisch in einer Reduktion der autobiographischen und narrativen Ausrichtung im Spätwerk bestehe und somit auch die Anteile eines textimmanenten ‹Ich› entschieden geringer seien. Dies kommt denn auch einer dialogisch intendierten Mitteilungsform entgegen, denn das durchaus noch in Restbeständen vorhandene «io» [«Ich»] sieht sich flankiert von den weiteren Personalpronomina «tu» [«du»] und «noi» [«wir»] sowie dem indefiniten Pronomen «uno» [«jemand»] in einem generalisierenden, überindividuellen Verständnis von Menschsein. War der Zibaldone in seinem monologischen und der Selbstvergewisserung dienenden Charakter ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen, so verhält es sich ganz anders mit den Pensieri. Verstehen sie sich, Leopardis bekanntem Brief vom 2. März 1837 an Louis De Sinner zufolge, als «un volume inédit de Pensées sur les caractères des hommes et sur leur conduite dans la société»6, so verweist das dialogische Substrat des Textes unschwer auf eine kommunikative Absicht. Schließlich stehen ja nicht nur die Beobachtung und Beurteilung der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Verhalten im Fokus, sondern zugleich auch die Folgen, die daraus für die je eigene Lebensführung abzuleiten sind. Mündet diese idealerweise in eine «arte del vivere», so impliziert dies eo ipso ein mitteilsames Werben für die so verstandene Lebensweise.

Die Pensieri sind mithin evidenterweise ein moralistischer Text, und es fehlt nicht an Schnittmengen mit anderen Texten des gleichen Genres. Montaignes Ausgangspunkt vom eigenen Ich7 und La Rochefoucaulds Thema des amour-propre finden hier ebenso einen Nachhall wie die Aufwertung der Argumente des Herzens gegenüber der Vernunft in Pascals Pensées8. Sind die Pensieri mit diesen – so wie mit Rousseaus, freilich von anderen kompilierten Pensées – vom Titel her identisch, so fehlt ihnen indessen die Leitfunktion der christlichen Religion. Dem methodischen Zweifel Montaignes korrespondiert hingegen kontrapunktisch Leopardis analytische Gewissheit. Und La Rochefoucaulds negativ konnotierte Eigenliebe nimmt in den Pensieri die Gestalt einer unverzichtbaren Selbstliebe, des amor sui an9.

Leopardis Text kommt also durchaus eine Sonderstellung zu. Darüber kann auch nicht ein ausgeprägtes Stilmittel moralistischer Literatur hinwegtäuschen: die durchgängig aphoristische Zurichtung der Gedankenführung. Nicht zuletzt diese erlaubt es im Grunde, die eigene deterministische Weltsicht durch anti-pessimistische Akzente kurzfristig, doch immer wieder zu überspielen. Es gibt indes eine weitere Besonderheit der Pensieri: ihre grundlegende Kürze bzw. Kompaktheit, die – wieder einmal – Walter Benjamin bewogen hat, die Sammlung der suggestiven Reflexionen mit dem Begriff des «Handorakels» zu versehen10. Dabei steht wohl trotz der erwähnten Nähe zu Gracián weniger dessen konzeptistische Dunkelheit im Oráculo manual vergleichsweise zur Debatte – in der lichten Semantik der Pensieri findet sie keine Entsprechung – als vielmehr die Handlichkeit und leichte Verfügbarkeit eines überschaubaren Buches11. Vorstellbar sind die Pensieri demzufolge durchaus als eine Art Vademecum orientierenden Wissens im Hinblick auf ein erleichtertes Leben. Kulturgeschichtlich scheint dies begreiflich zu sein. Ob der Verfasser es allerdings intendiert hatte, bleibt ungewiss, zumal angesichts des – allerdings alleinstehenden – Zeugnisses von Pietro Giordani, dem Vertrauten aus alten Zeiten, ursprünglich hätten 600 Pensieri vorgelegen12. Die sozialerzieherische Seite des Textes rückt damit jedenfalls unverkennbar ins Licht.

Leopardis Ziel, den Charakter der Menschen und ihr Verhalten in der Gesellschaft zu erfassen, ist zweifellos seiner schon länger gehegten Absicht verschwistert, den «uomo in sé» [«Menschen in sich selbst»] zu begreifen, menschliche Charakteristika an sich aus der Betrachtung des eigenen Ich zu gewinnen, wie es in dem bekannten Brief vom 4. März 1826 an Giampietro Vieusseux heißt13. Mit zunehmender Lebenserfahrung aber offenbart dieses Pars-pro-toto-Modell sein Ungenügen und weicht einer Dialektik von Selbst- und Fremdbeobachtung, aus der dann allerdings keine plane Anthropologie mehr hervorgeht. Die Entität Mensch spaltet sich für Leopardi nunmehr auf in eine Mehrzahl der negativen Personen und eine kleine Gruppe der «buoni» [«Guten»] und «magnanimi» (I, 32 [«Großmütigen»]). Diese manichäische Bipolarität14 lässt schlüssigerweise nur zu, dass die «arte del vivere» den eher wenigen Ausnahmegestalten vorbehalten ist bzw. dem Typus des «uomo coraggioso e da bene» (I, 31 [«mutigen und ehrbaren Menschen»]). Die Hinwendung zu den solcherart markierten happy few ist jedoch im Einklang mit der philantropischen Grundhaltung Leopardis zu sehen: «la mia inclinazione non è mai stata d’odiare gli uomini, ma di amarli» (I, 31 [«ich habe nie dazu geneigt, die Menschen zu hassen, wohl aber, sie zu lieben»]).

III.

Nur einmal in der Gesamtheit der Pensieri, in Pensiero LXXIX (127), benennt und thematisiert Leopardi die «arte del vivere» explizit. Deren Essenz gilt ihm als das Geschick «a trattare gli uomini e se stesso» [«die Menschen und sich selbst handzuhaben»], und dieses Geschick muss erworben werden. Ungeeignet hierfür sei der «giovane», der junge Mensch, denn die «veemenza dei desideri», seine heftigen Begierden verwehrten ihm dies. Erst mit seiner progressiven ‹Abkühlung› erweise er sich als geeignet für die Annehmlichkeiten der Lebenskunst. Darin aber tritt für Leopardi zugleich ein grundlegendes Dilemma menschlicher Existenz zutage: Die stets ‹gütige› Natur – wie er ironisch festhält – habe es so eingerichtet, dass der Mensch nur in dem Maße fähig sei, zu leben zu lernen, wie der Anreiz zu leben – «le cause di vivere» – ihm bereits davoneile und sich für ihn nur noch eine bescheidene «allegrezza» [«Freude»] abzeichne. Allein solchen «giovani», die von nur schwachen «Begierden» geprägt seien, da so das Erwachsenenalter, «l’età virile», im Zuge des notwendigen «concorso di esperienza e d’ingegno» [«Zusammenwirkens von Erfahrung und Veranlagung»] früher einsetzen könne, sei großer Erfolg beschieden, eine Lebenskunst zu entwickeln. Andere junge Menschen wiederum, mit außergewöhnlicher «forza dei sentimenti» [«Kraft der Gefühle»] ausgestattet, hätten das Vermögen, in diesem Status der Jugendlichkeit sehr lange zu verharren; im Grunde könnten sie mithin das Leben weitaus mehr genießen als alle übrigen. Das gelte jedoch nur unter der fälschlichen Annahme, die ‹Natur› habe das Leben für den ‹Genuss› bestimmt. Deshalb seien die Personen dieser Kategorie am Ende – ganz im Gegenteil – «infelicissimi» [«höchst unglücklich»] und verblieben ihr Leben lang in der Verfassung von «Kindern», denen der «uso del mondo», die Fähigkeit, sich die Welt dienlich zu machen, versagt bleibe.

Es zeigt sich mithin, dass das Konzept der Lebenskunst der Rahmenvorstellung einer, phänomenologisch gesehen, desolaten menschlichen Existenz entspringt1. Es ist ein Ergebnis kühler Rationalität und repräsentiert zugleich den minimalen Spielraum an Freiheit, den ein umfassender Determinismus noch zu konzedieren scheint. Der «arte del vivere» eignet folglich zumindest auch ein Gran Melancholie.

Wenn Leopardis entscheidendes Anliegen erst im letzten Viertel seiner Pensieri grundsätzlich expliziert wird, so ist der Gesamttext aber durchaus von dem zentralen Ansinnen durchwoben. In dieser Hinsicht lassen sich drei Textebenen unterscheiden.

Auf der ersten Ebene wird das Bild einer ausnahmslos selbstzerstörerischen Gesellschaft entworfen, als deren wichtigste Facetten «la bassezza dell’animo, la freddezza, l’egoismo, l’avarizia, la falsità e la perfidia mercantile» [«die charakterliche Niedertracht, die Kälte, der Egoismus, der Geiz, die Falschheit und die Heimtücke in geschäftlichen Dingen»] zu gelten haben, somit «tutte le qualità e le passioni più depravatrici e più indegne dell’uomo incivilito» (XLIV, 87 [«die für den zivilisierten Menschen verruchtesten und schändlichsten Eigenschaften und Leidenschaften»]). Diese des Öfteren in variierenden Abwandlungen aufscheinende Situation lässt neben ihrem desillusionistischen Zuschnitt aber auch vage Anzeichen ohnmächtigen Widerspruchs erkennen. Das Bemühen um ein Einwirken auf die Leserschaft ist spürbar.

Die zweite Textebene markiert demgegenüber schon deutlicher eine edukative Intention Leopardis. Diese manifestiert sich implizit, indem soziale Interaktionen vorgestellt werden, die sich auf nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten eines jeweils involvierten Subjekts verengen. Dies entspricht dann einer indirekten Verhaltensanweisung. So etwa in dem sentenziösen Pensiero LXXXVI (134), wenn es heißt: «Il più certo modo di celare agli altri i confini del proprio sapere, è di non trapassarli»2 [«Die sicherste Art, den anderen die Grenzen des eigenen Wissens zu verbergen, besteht darin, sie nicht zu überschreiten»]. Ein ähnlich unausgesprochener Imperativ des Verhaltens liegt vor in Pensiero XCIV (143), wo ausgeführt ist, der «uomo savio e prudente» [«weise und besonnene Mensch»] dürfe einen guten Freund um sehr vieles, doch niemals um materielle Unterstützung, um das Gewähren von «roba» bitten. Eine jede Person setze im Allgemeinen eher ihr Leben für einen Fremden aufs Spiel, als dass sie einem Freund auch nur einen «scudo» zubillige. Der erfahrungsgeprägte Anspruch des dargelegten Wissens scheint auf Seiten des Lesers nur Zustimmung und damit auch ein entsprechendes Handeln als möglicherweise Betroffener zu erlauben. Leopardis moralistische Lenkung des Publikums erfolgt unter der Annahme mentaler Gleichförmigkeit aller sozialen Akteure.

Die dritte Textebene schließlich offenbart ein deutlicheres, ein eher direktes Werben für das Sich-Einlassen auf einen Lernprozess zum Zwecke einer besseren und dem jeweiligen Selbst nützlicheren Lebensgestaltung. Zwar wird hierbei keine personalisierte Aufforderung ausgesprochen, etwa unter Rekurs auf die Pronomina tu oder voi, doch die textlich zum Vorschein kommenden Instanzen legen ihre Substitution durch jedweden Leser nahe. Leopardi bedient sich hier letzten Endes einer kaum verdeckten Deixis des argumentativen Herantretens an jeden vernunftbegabten Menschen. Dies wird exemplarisch fassbar in Pensiero LXXXII (130), dessen initiale Aussage die unhintergehbare Notwendigkeit der Selbsterkenntnis dekretiert, sofern man der Kategorie «uomo» [«Mensch»] angehören möchte:

 

Nessuno diventa uomo innanzi di aver fatto una grande esperienza di sé, la quale rivelando lui a lui medesimo, e determinando l’opinione sua intorno a sé stesso, determina in qualche modo la fortuna e lo stato suo nella vita.

[Niemand wird zum Menschen, bevor er nicht eine bedeutende Selbsterfahrung gemacht hat, die – indem sie ihn ihm selbst offenbart und die Anschauung seiner selbst bestimmt – in gewisser Hinsicht seinen Erfolg und seine Stellung im Leben bestimmt.]

Nur auf diese Weise sei es möglich, «la natura e il temperamento proprio» [«die eigene Natur und Wesensart»] zu erkennen sowie das «Maß der eigenen Fähigkeiten und Kräfte» einzuschätzen. Dies mündet denn auch in das abschließend genannte Ziel, «mächtiger», «più potente» zu sein als «vorher», nämlich «più atto a far uso di se e degli altri» [«geeigneter, sich seiner selbst und der anderen zu bedienen»].

Indem Leopardi für ein instrumentelles Agieren im sozialen Kontext plädiert, verlässt er im Grunde nicht die Ebene des allgegenwärtigen Antagonismus der Menschen, den er ja kontinuierlich beklagt. Der individuelle Vorteil des Lebenskünstlers resultiert nicht unerheblich aus der analytischen Überlegenheit gegenüber den ‹anderen›. Doch die Distanz zum eigenen Ich ist ebenfalls gegeben, insofern dessen erkennendes Verfügbarmachen seiner selbst nicht ohne Selbstobjektivierung auskommt. Um dem eigenen Leben eine optimistische Basis zu vermitteln, kann sich der Einzelne der gesellschaftlich und human vorherrschenden Normen nur besser bedienen, nicht aber diese außer Kraft setzen. Spricht dies für Leopardis psychologischen Realismus, so liegt es nahe, dass sich dieser textlich nicht in Formen planer Aufforderung zu existentieller Neuorientierung niederschlagen kann, sondern strukturell vermittelter Persuasionstechniken bedarf.

Hinter diesen verbirgt sich indes ein geradezu «wissenschaftlicher» Anspruch, wie aus Pensiero LI erhellt, der nicht zuletzt dem Lob Guicciardinis gewidmet ist, dem einzigen modernen «Historiker», der die «cognizione della natura umana» (95), die «Erkenntnis der menschlichen Natur», zum Maßstab seines Denkens genommen habe und damit die «scienza dell’uomo» [«Wissenschaft vom Menschen»] im Unterschied zu einer meist ‹chimärischen› «scienza politica» (953 [«politischen Wissenschaft»]). Für Leopardi existieren demzufolge anthropologische Faktoren, deren anschauliche Demonstration die unausgesprochene Überzeugung umschreibt, dass kluge Menschen sich dem nicht verschließen und ihr Leben entsprechend ausrichten.

Die Lebenskunst bzw. die potentielle Realisierung eines anti-pessimistischen Lebensmusters ist folglich der «scienza dell’uomo» bereits eingeschrieben. Leopardis Menschenbild beruht deshalb auch auf seiner Ansicht nach natürlich angelegten Elementen menschlicher Selbstentfaltung zum je persönlichen Nutzen hin. Freilich gilt dies, so ist erneut zu betonen, innerhalb der nur begrenzten Handlungsmarge, die eine wenig menschenfreundliche Natur vorsieht.4