Identitätskonzepte in der Literatur

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Identitätskonzepte in der Literatur
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Hermann Gätje / Sikander Singh

Identitätskonzepte in der Literatur

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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

ISSN 2512-8841

ISBN 978-3-7720-8722-6 (Print)

ISBN 978-3-7720-0162-8 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

 I.Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als ParadigmaKarl Hans Strobl: Der FenriswolfSchriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er JahreIdentität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der RuhrgebietsliteraturI. AusgangsüberlegungenII. Identität (inter-)diskurstheoretisch denkenIII. Identitäten in der RuhrgebietsliteraturDas Institut „Moderne im Rheinland“ – Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer „Rhetorik der Region“Ein Blick in die Geschichte des Instituts „Moderne im Rheinland“Die Aktualität der RhetorikDie Rhetorik als „Lehre“ zur IdentitätsfindungLiteraturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien – Mit einem Fokus auf die Matrix des An-Instituts „Moderne im Rheinland“

 II.Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von HumanitätAufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774)I. Zur Einführung. Lenz’ Neuer Menoza: Nichts ist, wie es scheint?II. Aufklärerische Identitätsentwürfe als (trans-)nationale GründungsmythenIII. Anti-aufklärerische Identitätsentwürfe und anti-(trans-)nationale Gründungsmythen?IV. Anstelle nationaler Gründungsmythen: Familie und WeltbürgertumV. Deutsche:r – Europäer:in – Weltbürger:in? Lenz’ Neuer Menoza als „Mischmasch“ unterschiedlicher IdentitätsentwürfeDas Faustische Streben als Vermittlung von Identität und DifferenzI. Goethe und FichteII. Methode und ForschungsüberblickIII. Das erkenntnistheoretische Programm der WissenschaftslehreIV. Identität und Differenz in der Wissenschaftslehre und im FaustV. Die Vermittlung von Identität und Differenz innerhalb der limitativen DialektikVI. Mensch-Sein als aussichtslose WetteVII. Fazit und AusblickIdentität und Entität: Zu Annette von Droste–Hülshoffs Novelle Die JudenbucheI.II.III.IV.Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus bei Berthold AuerbachWechselwirkungen zwischen Individuum und DorfgemeinschaftEmanzipation des Individuums, der Dorfgemeinschaft, der religiösen Gemeinschaft, der NationErschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern: Identitätskrisen in Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik) und Stifters Der CondorSelbstkopie und Fremdspiegelung im fremden (Schrift)RaumVerkehrte Selbstporträts durch Perspektivenwechsel„Kehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde“ – Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und ScheffelHeine und die Folgen: Die gebrochene jüdische Identität im magischen Medium der SpracheI. Auftakt: Heines Stellung zwischen Judentum und ModerneII. Engführung: Fliegender Holländer und Kafkas Gracchus als jüdische RevenantsIII. Coda: Von Mauscheln, Musik und MäusenZur Problematik kulturbezogener Identität am Beispiel von Clara Viebigs Roman Die Wacht am RheinIm Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am RheinI. VielheitII. GrenzenIII. SchreibweisenIV. Schluss: Die Vielheit des EinenDeutsche, Französin, Elsässerin, Lothringerin – oder einfach nur Frau? – Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich in Antwort auf die „Kriege der Männer“I. EinleitungII. Literaturbeispiele: Zwischen Nationen/RegionenIII. Abschluss: Michel und Marianne. Ethnopluralismus oder Europäisches Ur-Paar?Identität und Identifizierung national – sozial – global: Ausweise und Pässe in Texten von Anna Seghers – Saul Friedländer – Louis BegleyPolyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘I. EinleitungII. Der Autor als ‚Figur‘III. Der Begriff der PolyphonieIV. Beispiele der sprachlichen Differenzierung des Autors als ‚Figur‘Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm GenazinosI. Individuum? Subjekt? Selbst?II. Zwei Modernen, drei Kränkungen, vier SelbstbehauptungsräumeIII. „Zerbröckelung“, „Zerfaserung“, „Ausfransung“: Depersonalisation und Dissoziation bei GenazinoIV. Kohärenz(bestreben)V. (Problematische) selbstbehauptende Verhaltensstrategien„Ich ist ein Anderer.“ – Identitäre Krisen im Kontext von MigrationsgeschichtenI. Das fremde Ich im Spiegel. Psychologische Identitätsbildungsprozesse im Kontext von MigrationsbewegungenII. Das Motiv der Ich-Spaltung in Migrationsgeschichten der GegenwartEntfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart – Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019)

Vorwort

Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig vereinnahmt und (tages)politisch instrumentalisiert. Die daraus abgeleitete „Identitätspolitik“ gilt vielen mittlerweile als Chiffre für eine gesellschaftliche Polarisierung und argumentative Kompromisslosigkeit. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat sich in zahlreichen Schriften sachlich mit den gegenwärtigen sozialen Phänomenen beschäftigt, die unter dem Zeichen der Identitätsdebatte stehen:

Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY.

Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität.1

Die Beiträge des vorliegenden Bandes perspektivieren vor diesem Hintergrund den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Fokus auf die Literatur ist hierfür in besonderer Weise geeignet, weil dieser seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen ist. Vor allem der Literatur mit regionalem Bezug kommt in diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z.B. im Hinblick auf das Genre Heimatliteratur, entwickelt haben. Die aktuelle Literaturproduktion belegt, dass die politische Debatte nicht ohne Spuren geblieben ist. Unter den Neuerscheinungen finden sich signifikant häufig Texte, die sich thematisch auf identitätsstiftende Faktoren wie Geschlecht, Generation, Ethnie, soziale Schicht oder geographische Herkunft fokussieren.

Indem die Funktion der Konstitution wie der Stiftung von Identität durch die Literatur vergleichend und epochenübergreifend betrachtet wird, werden signifikante Aspekte und Tendenzen aktueller Diskussionen hinterfragt und vertieft: Wie verhalten sich regionale Identitätskonzepte mit geschlechts-, gruppen- oder generationsbezogenen Entwürfen, die sich in der Literatur nachweisen lassen? Im Hinblick auf die regionale Referenz stellt sich weitergehend die Frage, ob sich gleichermaßen antagonische und analoge Identitätsentwürfe wie „Europäer:in“ oder „Weltbürger:in“ mit der zunehmenden Globalisierung und kulturellen Vernetzung herausgebildet haben und sich in ein literarisches Programm fassen lassen?

Weil bereits der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent ist, diskutieren die Beiträge des Bandes darüber hinaus Konzeptualisierungen und Diskursfelder von Identität im Werk einzelner Autorinnen und Autoren.

 

Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im November 2019 nach Saarbrücken eingeladen hat. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank.

Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.

Saarbrücken, im Sommer 2021

Hermann Gätje und Sikander Singh

I.
Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma1

Jörg Krappmann, Olomouc

Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanalytisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück.2 In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart – wie nicht anders zu erwarten – Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümierenden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“.3 Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktionsverhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist ungelesen blieben.4 In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung.

Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt,5 in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturregion ihren Ausgangspunkt nahmen,6 ist zum einen der Dichotomisierung zwischen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgrenzungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft verfügt.7

Zum anderen war diese Region von jeher von (nicht nur) kulturellen Austauschprozessen geprägt. Das liegt zum einen an der interethnischen Konstellation der Bevölkerung, die neben kleineren Minderheiten auf einem Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden beruht. Zum anderen auf einer Mittellage zwischen den lange Zeit preußisch dominierten deutschen Gebieten auf der einen und der Habsburger Monarchie auf der anderen Seite, wobei sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine kulturelle Eigenständigkeit artikulierte. Durch den Aufstieg des Nationalgedankens, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts zum hegemonialen Dispositiv des Nationalismus entwickelt hatte, wurden die soziopolitischen Verhältnisse prekär, da eindeutige nationalkulturelle Positionierungen präferiert und landespatriotische oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu.8

Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf

Karl Hans Strobl (1877–1946) ist heute – wenn überhaupt – noch aus zwei Gründen bekannt. Einerseits als früher Vertreter einer deutschsprachigen literarischen Phantastik (Die Eingebungen des Arphaxat 1904; Eleagabal Kuperus 1910), andererseits wegen seiner späteren Verstrickung in den Nationalsozialismus, dem er als auslandsdeutscher Vorzeigeautor galt.1 Der Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn sah ihn aber – für die österreichische Literatur ungewöhnlich – als engagierten Vertreter einer spezifisch deutschen Moderne unter naturalistischem Vorzeichen. Zu seinen ersten Publikationen zählten Essays über das Kunstprinzip von Arno Holz oder die Integration einer buddhistischen Weltanschauung in die lebensreformerisch geprägte Modernedebatte. Aus dieser Frühzeit stammt auch sein 1903 erschienener autobiographischer Schlüsselroman Der Fenriswolf, in dem Strobl vier Schriftstellerexistenzen skizzierte und damit vier Lebenswege aufzeigte, wie in einer Kleinstadt der böhmisch-mährischen Grenzregion, in der unschwer Strobls Geburtsstadt Iglau/Jihlava zu erkennen ist, ein Leben als moderner Künstler möglich werden konnte. Die einzelnen Schriftsteller konnten inzwischen identifiziert werden, so dass diesen Konzeptionen zu einem gewissen Grad empirische Authentizität zugesprochen werden kann.2

Ein aus Wien zugezogener Autor fungiert zu Beginn der Handlung als Katalysator für die beiden ortsansässigen Schriftsteller. Zu dritt gründen sie den titelgebenden Dichterbund Fenriswolf – der Name entstammt der nordischen Mythologie – auf dessen Zusammenkünften sie thematische Versatzstücke der Moderne um 1900 in die städtische Gesellschaft tragen. Die Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Jens Peter Jacobsen werden diskutiert, die zeitgenössische Kunst und Musik sowie die Problematik des Eros, aber auch die Frauenemanzipation und die sozialen Konsequenzen des neuen darwinistischen Weltbildes. Dadurch geraten sie rasch in Konflikt mit dem Pragmatismus der Stadtbürger, die noch den Werten und Regeln der vormodernen Gesellschaftsformation verpflichtet sind. Alle drei Autoren werden als Außenseiter behandelt, da sie Identitätskonstruktionen anstreben, die zunächst nicht mit der bürgerlichen Norm korrelieren. Im Verlaufe der Romanhandlung ergeben sich daraus wiederum zunächst drei differente Identitätsstrategien, die ich, um von der allzu kleinteiligen Figurenebene des Regionalromans zu abstrahieren, als Modellautoren anspreche:

Modellfall 1 beharrt auf der Höherwertigkeit seiner Künstlerexistenz. Er setzt seine moderne Weltanschauung absolut und versteht seinen Weg als Exempel, dem die Bürger folgen sollen. Er wird dadurch vom Außenseiter zum Ausgegrenzten. Trotz eines (einmaligen) Erfolgs in der Fremde bleibt ihm die lokale Anerkennung versagt. Die Romanfigur stirbt schließlich vereinsamt und zeigt so überdeutlich das Scheitern dieses Weges an.

Modellfall 2 ist die autobiographische Referenzfigur von Strobl. Er tritt nicht offensiv als „Herold einer neuen Zeit“ auf wie Modellfall 1, verkriecht sich aber auch nicht in den Elfenbeinturm, sondern erreicht in individuellen Austauschbeziehungen und kulturellen Verhandlungen eine Koexistenz mit dem Bürgertum. Da er die bürgerlichen Lebensentwürfe akzeptiert, wird ihm zugestanden, seine abweichende Identität als Künstler zu verteidigen, falls er sie in Frage gestellt sieht. Dagegen vertritt Modellautor 1 ein emphatisches Künstlerverständnis, das bereits auf die Avantgarde vorausdeutet. Zwar sind die avantgardistischen Bewegungen – noch dazu in der Frühphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht heterogen, aber doch in dem Ziel verbunden, gegen das traditionelle Kunstverständnis des Bildungsbürgertums aufzubegehren.3 Diese soziale Schicht fällt aber in Strobls Modellkleinstadt aus, womit der Romantext die realen Verhältnisse regionaler Gesellschaften in den Böhmischen Ländern hyperbolisiert. In Bezug auf Karoline von Günderrode, also in gänzlich anderem Zusammenhang prägte Christa Wolf die Formel von einer „Avantgarde im Hinterland“,4 deren Bildlichkeit aber auch auf die hier beschriebene Situation angewendet werden kann. Während Modellautor 1 sich im ursprünglichen Wortsinn von Avant-garde als Vorhut der Moderne in der Provinz sieht, akzeptiert Modellautor 2 die mangelhaften Voraussetzungen für eine offene Propagierung moderner Ideen und schafft sich neben seiner Künstleridentität auch eine stabile bürgerliche Identität, wodurch er in der Lage ist, die eigenen Ansprüche der Zusammensetzung unterschiedlicher Rezipientengruppen anzupassen.

Modellfall 3 ist ein aus der Metropole, in diesem Fall Wien, aufgrund einer Versetzung gleichsam von Amtswegen in die Kleinstadt geratener Dichter. Die Genese zum Künstler erfolgte hier vor der regionalen Fixierung und wird als solche nicht angezweifelt. Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung kommen somit zur Deckung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen zur Modellierung einer künstlerischen Identität zeigt folgender Gesprächsausschnitt, in dem bereits die Anrede eine vorab vorgenommenen Höherwertung des Wiener Autors impliziert: „Bei Ihnen, Herr Doktor, da is was andres … Sie sind ein Dichter … Aber der Klappenbach [d. i. der gescheiterte Modelfall 1], den haben wir doch all Tag g’sehn … und wissen, was er macht. Woher soll er’s denn haben.“5

Auf den Wert von interurbanen Migrationsbewegungen für die Literatur und Kultur der Habsburger Monarchie hat zuletzt Alexandra Millner in ihren Studien zu Transdifferenz und Transkulturalität hingewiesen und man könnte auch hinsichtlich Modellfall 3 von einer positiven Integration durch Migration sprechen.6 Allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens macht der Wiener Dichter, der eine Avantgarde im Hinterland grundsätzlich für ein unsinniges Unterfangen hält, keinen Hehl daraus, dass er die Stadt bald möglichst wieder verlassen wird. Sein manchmal exzentrisches Verhalten wird deswegen als vorübergehender Unterhaltungseffekt für die städtische Gesellschaft verbucht, da eine dauerhafte und dann möglicherweise problematische Integration in das ortsansässige Bürgertum von beiden Seiten nicht angestrebt wird. Zweitens liefert die Romanhandlung auch einen Modellfall für eine gescheiterte Migration. Der Finanzkonzipist Neumann entpuppt sich nämlich im Laufe der Handlung ebenfalls als Schriftsteller, der versuchte, in Wien Fuß zu fassen, aber sich zwischen Literatencafés und Salonkultur in der Kulturtopographie der Habsburgermetropole nicht etablieren konnte. Nach der Rückkehr des Erfolglosen in seine Heimatstadt erlauben ihm die Schranken des bürgerlichen Wertekanons nicht einmal mehr den Anschluss an den Fenriswolf, sondern lediglich noch das Verfassen von anzüglichen Sketchen für den als Laientheater getarnten Männerverein, der an der künstlerischen Betätigung vor allem die sich anschließenden Saufgelage schätzt. Im Gegensatz zum tödlichen Ende von Modellautor 1 stirbt er zwar nur den geistigen Tod als verhinderter Schriftsteller, aber die daraus hervorgehende individuelle Tragik wird in zwei längeren monologischen Passagen eindringlich aufgezeigt.

An dieser Stelle muss die Abstraktionsebene kurz in Richtung regionalliterarischer Kleinteiligkeit verlassen werden. Während Modellautor 1 in Josef Trübswasser (1867–1902), Modellautor 3 in Egid Filek von Wittinghausen (1874–1949) und Modellautor 2 in Strobl selbst ihre kaum verschlüsselten Vorbilder klar erkennen lassen, scheint Modellautor 4 keine reale Grundlage zu besitzen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Finanzkonzipisten Neumann im Text und Karl Hans Strobl, der kurz vor Abfassung des Romans in derselben Rangstufe in die Gebührenbemessungsstelle der Finanzverwaltung in der Mährischen Landeshauptstadt Brünn eingetreten war. In gewisser Weise deutet Strobl also aus rückschauender Perspektive und räumlicher Trennung vom Handlungsgeschehen die Instabilität seines Identitätskonstruktes an, das durchaus die Gefahr zum Scheitern in sich getragen hätte.7

 

Aus Argumentationsgründen kann die narrative Struktur des Romans hier nicht näher dargestellt werden. Ebenfalls nur angedeutet werden kann das erhebliche Potential an Selbstreferentialität des Textes, das u.a. dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Modellautor 1 sich auch durch das Abfassen eines investigativ-polemischen Stadtromans endgültig mit der Bevölkerung vor Ort überwirft. Er schreibt also als Figur des Romans von Strobl genau den Schlüsselroman selbst, in dem er als Figur auftritt. Festzuhalten bleibt aber, dass die in Strobls Roman vorgeschlagene Lösungsstrategie für konkurrierende Identitätsentwürfe nicht in einer Verschmelzung zu einer homogenen Identität besteht, sondern in einer akkumulativen Aneignung und Aufrechterhaltung mehrerer Identitäten.

Die dialogischen Auseinandersetzungen im Fenriswolf sind vergleichbar mit den prozessualen Strukturen der Identitätstheorie von Habermas, der in kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Rollentheorie das von Erik Erikson erstellte psychoanalytische Modell in Hinsicht auf eine Theorie der Sozialisation und der Moralentwicklung präzisierte.8 Nach Habermas gründet die Kompetenz zur Identitätsbildung darin, „auch unter Belastungssituationen Krisen der Ich-Struktur durch Umstrukturierung zu lösen und die Ichorganisation auf einer höheren Ebene wieder zu stabilisieren“.9 Das Ziel ist für Habermas der Aufbau einer konsistenten und kontinuierlichen Identität, so dass eine situative Segmentierung bzw. eine „Abschnürung der unvereinbaren Lebensbereiche“ lediglich als letzter Ausweg akzeptiert werden kann.10 In Strobls regionaler Sichtweise erscheint aber gerade die Segmentierung als erfolgversprechendste Strategie, weil sie auf die Zielvorstellung einer konzisen Identität verzichtet und die Segmentierung als Akkumulation begreift, die nicht Einschränkung auferlegt, sondern Variabilität verspricht. Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass in Strobls Modell die Künstleridentitäten zwar als krisenhaft wahrgenommen werden können (Modellautor 1, teilweise Modellautor 4), es aber die Krise und deren Überwindung nicht voraussetzt. Das – hier freilich nur angedeutete – Modell einer Identitäts-Akkumulierung schwächt sogar die Gefahr identitätskritischer Kollisionen mit Normsystemen anderer sozialer Gruppen ab, indem Mehrfachidentitäten angehäuft werden können, die zu einer Kontrolle der identitätsbezogenen Selbst- und Fremdbilder durch variable Steuerung der eingesetzten Identitätskonstruktion befähigen. Letzteres ist notwendig, da anhand regionaler Kontexte sichtbar wird, dass die Identitätszuschreibungen durch Andere maßgeblich den individuellen Identitätsbildungsprozess beeinflussen, wenn nicht sogar bestimmen.

Das kann noch verdeutlicht werden anhand der Schriftstellerin Marie Knitschke, die im Gegensatz zu den angeführten vier männlichen Modellautoren Strobls in realiter noch die Vorbehalte gegenüber weiblichen Akteuren im Kulturbetrieb Ende des 19. Jahrhunderts überwinden musste. In Erlebtes und Erdachtes (1892) publizierte sie Skizzen und Aphorismen, die in ihrer Modernität weit über das Maß an Exaltiertheit hinausgingen, welches die Einwohner in der Kleinstadt Mährisch-Schönberg, in der sie als Musiklehrerin arbeitete, zu akzeptieren bereit waren. Sie erschrieb sich ihre schriftstellerische Freiheit, indem sie – ähnlich dem vierten Modellautor Strobls – Salonstücke für den örtlichen Damenverein und kleine Dramen sowie Zeitungsartikel zur Heimatgeschichte der Stadt verfasste. Ihrer lokalen Gebundenheit entfloh sie in umfangreichen Briefwechseln mit Persönlichkeiten der modernen Kulturszene: u.a. Gerhart Hauptmann, Anton Bruckner und Edvard Grieg, dem auch ihre Aphorismenbände gewidmet sind.

Knitschkes Biographie und Strobls autobiographischer Roman belegen, dass sich künstlerische Ambitionen außerhalb der wenigen anerkannten modernen Metropolen wie Paris, London, Berlin und bereits mit Abstrichen Wien, zunächst kompensatorisch mit den konkreten Erwartungen des soziokulturellen Umfelds auseinandersetzen mussten. In den Böhmischen Ländern war diese „Anpassungsleistung“ für deutschsprachige Autoren umso drängender, da auch die Hauptstadt Prag um 1900 keineswegs großstädtische Bedingungen aufwies. Zum Vergleich: Um 1900 lebten in Prag ca. 10.000 nichtjüdische Deutsche und damit etwas weniger als in Mährisch-Schönberg, dem Wohnort Knitschkes. Dazu kamen noch 11.000 Juden, die sich in den amtlichen Zählungen zur deutschen Umgangssprache bekannten, aber auch dadurch werden nicht die 25.000 Einwohner der Kreisstadt Iglau erreicht, in der Strobls Roman spielt. Obwohl der Kulturbetrieb in Prag stärker institutionalisiert und freilich auch vielfältiger war, lassen sich deshalb innerhalb der Prager Literatur dieselben Mechanismen nachweisen, wie sie Strobl paradigmatisch für die Region Mähren beschreibt und selbstverständlich treten auch die vier Modellautoren in Erscheinung. Natürlich fehlen in der Literatur aus Prag auch nicht die heimatgeschichtlichen Referenzen, mit denen Marie Knitschke ihr modernes Schreiben rechtfertigte: von Rainer Maria Rilkes urbane Landschaft und Bevölkerung gleichsam verklärenden Larenopfern und Franz Kafkas Erzählung Das Stadtwappen über Oskar Wieners Alt-Prager Guckkasten und die fiktionalen Stadtreportagen Egon Erwin Kischs bis zu den Romanen Der Stadtpark von Hermann Grab oder Der Golem von Gustav Meyrink.

Auch die Autoren Prags unterliegen also den regionalen Identitätsmodellen, aber sie werden – und das ist die Crux, mit der regionalorientierte Ansätze immer noch zu kämpfen haben – von der Literaturwissenschaft nicht ebenso behandelt. Einerseits wird die regionale Verortung bei den Exponenten der sogenannten Prager deutschen Literatur gerne verschwiegen. So bietet das bei Metzler erschienene Rilke-Handbuch als kulturräumliche Kontakte zwar Beiträge zu u.a. Ägypten, Italien, Skandinavien und Spanien an, aber keinen zu den Böhmischen Ländern.11 Das mag vordergründig damit zu rechtfertigen sein, dass Rilke selbst die frühen Prager Arbeiten aus den entstehenden Werkausgaben redigierte, weil sie nicht den Blick auf die späteren Leistungen trüben sollten. Allerdings bezieht Rilke diese kritische Haltung nur auf die Texte, nicht auf die eigene Stellung im soziokulturellen Kontext der Böhmischen Länder. Seine Unterstützungsanträge bei der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen zwischen 1899 und 1913 erweisen ihn als ebenso interessierten wie kundigen Teilnehmer an den regionalen Debatten.12 Wird bei Autoren wie Rilke also der Anteil regionaler Phänomene am Prozess der Künstlerwerdung ausgeblendet, so wird bei denjenigen, die es nicht in den rezenten Kanon der deutschen Literatur geschafft haben, gerade der Teil der literarischen Arbeit überbetont, mit dem sie sich innerhalb eines regionalen Gefüges in ihrer Künstleridentität legitimierten. So führte beispielsweise der im gleichen Maße erfolgreiche wie belanglose Dorfroman Der Glockenkrieg dazu, dass sein Verfasser Ernst Wolfgang Freissler als provinzieller Heimatliterat eingestuft wurde. Wegen dieser minderen Qualifizierung wird dann erst gar nicht in Erwägung gezogen, dass Freissler in anderen Texten einen komplexen Umgang mit fremdkulturellen Sichtweisen hätte entwickeln können, wie sie kulturwissenschaftliche und postkoloniale Lesarten privilegieren. Während Joseph Conrad, dessen Texte durch die Übersetzungen Freisslers erstmals in den deutschen Sprachraum vermittelt wurden, mit der Erzählung Herz der Finsternis zum Paradeautor kulturwissenschaftlicher Forschung aufstieg, fristen die in manchem vergleichbaren Erzählungen und Romane Freisslers ihr Dasein bis auf weiteres in den Tiefen regionaler Literaturbetrachtung.13

In beiden Richtungen, die Beispiele könnten unschwer vermehrt werden, wird die akkumulative Identitätszuschreibung missachtet, die ich hier thesenhaft und vorerst nur als heuristisches Element vorgestellt habe. Die Fälle sollen zeigen, dass die akkumulative Identitätszuschreibung, die in kulturell eigenständigen Regionen üblich ist, bisher in den gängigen Forschungsparadigmen nur unzureichend anerkannt wird. Aber sowohl in den literarischen Texten als auch in den Lebenswegen der regionalen Akteure ist eine Reflexion über Identitätsstrategien gegeben. Während also divergierende, ambivalente und nicht valide Überzeugungen und Haltungen in der Forschung nachgerade zur Moderne längst anerkannt sind, besteht noch ein Defizit darin, diese als multiple Identitätsvarianten den jeweiligen literarischen Akteuren auch zuzugestehen.