Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht

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Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht
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Identitäten – Dialoge im Deutschunterricht

Schreiben – Lesen – Lernen – Lehren

Jörg Roche / Gesine Schiewer

unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F. A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavariˇc

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0032-8

Inhalt

 I. VORW:ORTE Zur Bedeutung des DialogsDidaktik des Dialogs: Einführung1. Was ist unter ‚Dialog’ zu verstehen? Begriff, Theorien, Konzepte2. Was sind die Grundlagen einer Didaktik des Dialogs? Der Transdifferenzansatz3. Wie wird gearbeitet? Der Ansatz sprach- und dialogdidaktischer Arbeit mit literarischen Autorinnen und Autoren4. Wie verhält sich die Didaktik des Dialogs zu bildungspolitischen Zielsetzungen? Zur Reichweite des Dialogprinzips5. Regieanweisung in eine mögliche Anwendung6. LiteraturFAILURE IS NOT AN OPTIONSchüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine BetrachtungWortbilderLiteratur und Bildende KunstBeispiel 1Beispiel 2Wort-Teppich, Ge:schichten1. Die Vorgeschichte(n)2. Die Schreibübung(en)

 II. Identität(en). AnSätzeEin ungeladener Gast. Text und Identität/Fremde„Identität“1. Gedanken zur Identität. Eine Annäherung2. Didaktik und SchreibaufgabenEinige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an SchulenFamilie: Textintermezzi IMenschenkinderFamilie: Textintermezzi II„Wenn ich einst tot …“ 1 Entwurf. 1 TristologSchreibübungen:Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie„Heimat sind W:orte und verb:leiben f:ort“VorgedankenUnterrichtseinheiten konkretAlltäglichkeitenVisionen Von der Grammatik einer Tagesreise, aus dem Tagwerk eines LiteratenErnst Jandl: zertretener mann bluesPaul Celan: Todesfuge„Ein Freund, ein guter Freund …“1. „Ein Freund, ein guter Freund …“. Freundschaft Einführende Gedanken2. Freundschaft in Literatur und Kultur3. „Er ist uns anvertraut …“ Akos Doma, Die allgemeine TauglichkeitFreundschaftDas Begießen der FreundschaftspflänzchenFreundschaft mit Verwandten oder Wahlverwandtschaften.Die Ware Freundschaft oder ...Der Verlorene FreundFreundschaft – Auf unsichtbaren SchienenFrage:Identität1 Vorgedanken2 Einführender Essay3 Unterrichtseinheit konkretGewaltMit kleinster GewaltSchreibübungen

 III. AnhängeDas Wort im verstörten Fleisch

  Vorstellungsrunde Nachweise


I. VORW:ORTE
Zur Bedeutung des Dialogs
Didaktik des Dialogs: Einführung

Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer

1. Was ist unter ‚Dialog’ zu verstehen? Begriff, Theorien, Konzepte

Diesem Begriff haftet in der alltäglichen Wahrnehmung häufig etwas Abgehobenes an. Denn wer führt schon einen ‚Dialog’ innerhalb der Familie, mit Freunden, Nachbarn, Verkaufspersonal, Behörden oder im Berufsleben? Eher sind in alltäglichen und beruflichen Kommunikationssituationen das ‚Gespräch’, die ‚Besprechung’, das ‚Meeting’, die ‚Diskussion’, der ‚Small Talk’, allenfalls die inzwischen etwas altmodisch anmutende ‚Konversation’ als typische Textsorten anzutreffen.

In politischen Kontexten, in Forschung und Wissenschaft ist ‚Dialog’ ein Begriff, der mit einer Reihe von

 unterschiedlichen, unter Umständen konträren theoretischen Positionen (zum Beispiel als politisches Instrument der Konfliktlösung oder als Mittel in der Wissensvermittlung)

 variablen Auffassungen von universellen Aspekten und von kultureller Vielfalt („Dialog der Kulturen“)

 differierenden praktischen Anwendungsfeldern der Verständigung und Mediation

verbunden sein kann.

Über Jahrhunderte war es die Philosophie, in der der ‚Dialog’ seine grundlegende wissenschaftliche Verortung fand. Dabei verdeutlicht schon ein kursorischer Blick auf die Begriffsgeschichte die Breite seines Spektrums unterschiedlicher Auffassungen.

So ist in der Antike und im Mittelalter ‚Dialog’ in erster Linie eine wichtige Form des mündlichen und schriftlichen Erkenntnisgewinns, das heißt eine dialogisch ausgestaltete Textgattung, in der Erkenntnis im Austausch erzielt wurde. Sie erlaubte es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Der sokratisch-philosophische Dialog etwa kann als „praktizierte Form der Wahrheitssuche und Wissensbildung“ beschrieben werden (Schlaeger 1996: 421ff.).

Ganz anders wird demgegenüber im 17. Jahrhundert mit René Descartes’ prinzipieller Unterscheidung zwischen der ‚denkenden’ und der ‚ausgedehnten’ Substanz (oder auch zwischen ‚Geist’ und ‚Körper’) und mit seiner Auffassung des ‚cogito ergo sum’ (‚ich denke, also bin ich’) das Denken im für sich raisonnierenden Subjekt begründet. Damit wird der andere Mensch „als Redepartner allenfalls in rhetorischer, für die Wahrheitssuche subsidiären Form“ benötigt (Schlaeger 1996: 421ff.). Ja, sogar die Erkenntnis eines anderen Menschen überhaupt – im äußerlich wahrnehmbaren Körper – als „ein anderes denkendes Ich“ wird auf einen Analogieschluss gegründet, also der Annahme des Bestehens von Ähnlichkeiten von eigenem und fremdem Ich (vgl. Heinrichs 1972: 226). Nur aufgrund der hypothetischen Unterstellung, der Andere denke wie man selbst, kann man ihn Descartes zufolge überhaupt erkennen und sich mit ihm verständigen. Der Dialog tritt hier in seiner Bedeutung also in den Hintergrund beziehungsweise wird als „ein stiller Dialog der Seele mit sich selbst“ verstanden. Dies ist eine Auffassung, die aber auch schon in der Antike bei Platon anzutreffen war (vgl. Meyer 2006: 8).

Für die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts geht es in Anlehnung an Martin Buber um

„ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung zu einem interpersonalen ‚Zwischen’, das heißt zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“ (Heinrichs 1972: 226). Hier wird von einer Form gesprochen, „die das Miteinander der Wahrheitssuche vor die Vernunft des Einzel-Ichs stellt, für die Wissensbildung ein unabschließbarer kommunikativer Vollzug und nicht die Entfaltung eines Denksystems nach ehernen logischen Gesetzen“ ist. (Schlaeger 1996: 421ff.)

In der Tradition von Bubers Grundausrichtung der Dialogphilosophie steht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die dialogische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit der besonderen Berücksichtigung von Prozessen des Verstehens und angemessenen Deutens. Später nimmt sich, vor allem in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation, die Interkulturelle Literaturwissenschaft und die Interkulturelle Sprachdidaktik, auch die Interkulturelle Hermeneutik, dieser Problematik an, indem sie das „Fremdverstehen“ als einen dialektischen Prozess zwischen Kulturen zu fassen versucht, statt ihn als historischen Prozess wie in der Hermeneutik zu betrachten. Es geht dabei, wie Charles Taylor (1992) es im Anschluss an Gadamer nennt, um eine Horizontverschmelzung („fusion of horizons“) aus eigenen und fremden Horizontkomponenten. In diesem Prozess bilden sich modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und der Wahrnehmung des Fremden durch das Eigene. Die daraus entstehenden Positionen sind gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet. Begriffe wie „Perspektivenwechsel“, „das Eigene und das Fremde“, „interkulturell“ oder auch „der dritte Raum“ (Bhabha 1994) sind diesem Ansatz verpflichtet.

In den letzten Jahrzehnten wurden insbesondere zwei Positionen prominent: eine „opti-mistische“ mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und der dialogischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, und eine entgegengesetzte von Samuel P. Huntington mit der Auffassung eines zu erwartenden „Kampfes der Kulturen“.

Die Diskursethik hat die Orientierung auf den so genannten „Dialog der Kulturen“ maßgeblich beeinflusst. Auf Initiative des damaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami wurde für das Jahr 2001 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Jahr des Dialogs der Kulturen“ beschlossen. Unter anderem erschien daraufhin im Oktober 2001 der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan initiierte Band: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations. In deutscher Übersetzung wurde er unter dem Titel Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen noch im selben Jahr publiziert. Vorgestellt wird in dem prominent präsentierten Band ein Rahmenkonzept, das für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf sämtlichen politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen geeignet sein soll (vgl. Schiewer 2010).

 

Auch vom Auswärtigen Amt in Deutschland wurde der Ansatz aufgegriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass z.B. Probleme des Schutzes der natürlichen Umwelt und ihrer Erhaltung für zukünftige Generationen nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden können. Daher werden die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame internationale Bemühungen als unabdingbar erachtet. Es geht somit um Dialog zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften, das heißt zwischen staatlichen Akteuren und nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen.

Der zentrale Ansatzpunkt ist darauf fokussiert, eine Gegenposition zu Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ einzunehmen und im Dialog der Kulturen – als kultureller Idee der globalen Verständigung – die Chance für eine friedliche Zukunft zu sehen. Grundlegend soll dabei die Auseinandersetzung mit einer neuen Auffassung von Vielfalt sein. Anlässlich eines Runden Tisches am Sitz der Vereinten Nationen im September 2000 erklärten der Generalsekretär, zwölf Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister verschiedener Länder übereinstimmend, dass mit Hilfe eines solchen Dialogs zwischen den Kulturen alle Nationen in der Lage seien, Feindschaft und Konfrontation durch Gespräch und Verständnis zu ersetzen. Es knüpfen sich also sehr weit reichende Hoffnungen an das Projekt.

Worauf aber gründet sich die Hoffnung, dass das vorgestellte Konzept diese umfassenden Erwartungen erfüllen kann? Wie also wird hier der ‚Dialog’-Begriff bestimmt?

Im Vorwort erklärt Kofi Annan seine Überzeugung, „dass Dialog über Streit obsiegen kann“ (Annan 2001: 11), womit Dialog und Streit hier in Opposition zueinander gesetzt werden. Der Persönliche Beauftragte Annans, Giandomenico Picco, betont in der anschließenden Danksagung (Annan 2001: 13): „Vielleicht wird die Brutalität derjenigen, die nicht an einen Dialog der Kulturen glauben, andere – wie uns – ermutigen, die Aufgabe [eines Dialogs der Kulturen, Verf.] ernster zu nehmen.“ Selbstverständlich bezieht sich diese Äußerung auf das Attentat in New York vom 11. September 2001. Wörtlich genommen wird hier allerdings denjenigen Brutalität unterstellt, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an einen, an diesen Dialog der Kulturen glauben.

Der ‚Dialog’-Begriff wird in diesem Band weiterhin an die Hoffnung gebunden, eine – wie vermutet wird – bestehende Furcht vor Vielfalt zu überbrücken. Der Dialog der Kulturen solle der Vielfalt die angenommene Angstbesetztheit nehmen und sie in einen positiv empfundenen Wert verwandeln. Die Voraussetzungen werden dabei auf das Individuum projiziert: Es nehme Vielfalt gelegentlich als Bedrohung wahr, gleichzeitig fühle es jedoch auch die verbindende Gemeinschaftlichkeit zwischen den Menschen. Daher beginne der Dialog „in unserem Inneren“ (Annan 2001: 35). Dementsprechend wird wiederholt an die Verantwortlichkeit des Einzelnen appelliert (Annan 2001: 40).

Als zentrale Charakteristika dieses Dialogs werden genannt: respektvolle Kommunikation, gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit. Er müsse offen geführt werden und auf Sachkenntnisse gegründet sein. Wichtig sei insbesondere, weder überreden noch bekehren zu wollen (vgl. Annan 2001: 68), sondern zuzuhören und zu lernen (vgl. Annan 2001: 82). Unter dem Stichwort „Weisheit“ werden Geduld und Aufnahmebereitschaft als entscheidende Aspekte des Zuhörens betont: Inhalt und subtile Bedeutungsnuancen seien sowohl rational als auch emotional zu erfassen (vgl. Annan 2001: 103).

Auf der Basis eines solchen Dialogs werde die Würdigung unterschiedlicher Auffassungen und Perspektiven möglich (vgl. Annan 2001: 68f.). Der Dialog der Kulturen solle von der Vielfalt menschlicher Kulturen und der Anerkennung von Gleichheiten und Unterschieden ausgehen.

Der Dialog erlaube durchaus Skepsis und eine kritische Haltung – ein Aspekt, der wohl als Absicherung gegen den eventuellen Vorwurf, es werde hier stark harmonisierend argumentiert, zu werten ist. Die rationale Entscheidung für Vertrauen, so heißt es weiterhin, sei jedoch zur Überwindung der Angst vor der Vielfalt unabdingbar (vgl. Annan 2001: 83).

Nicht zu übersehen ist hier die Anlehnung an andere Konzepte Interkulturellen Verstehens, die auf Perspektivenwechseln und idealisierend kommunikationstheoretischen Vorannahmen basieren (vgl. etwa die Kommunikationsmaxime von Grice 1975). Es handelt sich also auch hier um einen normativ-programmatischen Ansatz, der dazu tendiert, faktisch in aller Regel gegebene Asymmetrien, Macht- und Interessenlagen zu verschleiern und die Konfliktlösung als rationalen Automatismus eines Austauschs von klar definierbaren und offenen Positionen zu präsentieren. Wenn schon 2001 durchaus berechtigte Zweifel geäußert werden konnten, ob die hohen Erwartungen tatsächlich zu erfüllen seien, dann kann kaum geleugnet werden, dass es inzwischen hierzu noch weitaus mehr Anlass gibt. Stimmen, die von einem „Kampf der Kulturen“ sprechen, sind, trotz aller mit oft guten Argumenten vorgetragenen Kritik an den Begründungen Samuel P. Huntingtons, eher noch lauter geworden.

In Anbetracht der Dringlichkeit, auf internationalen wie nationalen Ebenen in politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, religiösen Umfeldern und insbesondere in allen Bereichen des Schul- und Bildungswesens realistische Dialogpraxen vermitteln und einzusetzen zu können, besteht ein großer Bedarf an theoretisch-konzeptuellen Grundlagen, bei denen auf den idealistischen Impetus interkultureller Verständigung vielleicht nicht ganz verzichtet werden muss, die aber den erwähnten faktisch existierenden Asymmetrien, Machtungleichheiten und divergierenden Interessenlagen nolens volens Rechnung tragen.

Es ist, mit anderen Worten, nach einem Ansatz zu suchen, der den tatsächlichen Dialogbedingungen Rechnung trägt und real erfahrbare Probleme der Kommunikation nicht übergeht oder minimiert. Denn ein „wirklicher, echter, wahrer“ Dialog, der immer wieder beschworen wird, kann nur gefördert werden, wenn bestehende Asymmetrien und Machtstrukturen greifbar werden, die in nahezu jeder Auseinandersetzung – wenn nicht sogar in überhaupt jedem und auch dem privaten menschlichen Austausch – unvermeidlich sein dürften. Ein politisch, gesellschaftlich und ökonomisch relevanter, effektiver Dialog der Kulturen wird daher darum bemüht sein müssen, die Einseitigkeit rational-diskursiver Kommunikationstheorien zu vermeiden. Vielmehr sind gegenüber letztlich ethnologisch gegebenen Verhaltensfacetten des Menschen, welche mit Fragen von Identität, Interesse, Macht, Status und Emotionalität einhergehen, die Augen und Ohren nicht zu verschließen.

Aus diesem Grund bietet es sich an, nicht nur im politischen Dialog, sondern gerade auch im Alltag solche Dialogbedingungen zu unterstützen, die Asymmetrien nicht zu überdecken suchen, sondern möglichst offenkundig werden lassen, damit sie behandelt werden können. Es gilt demnach, die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen sowie die Schwierigkeit ernst zu nehmen, das Gelingen von Verständigung zu überprüfen. Auch das Wissen um ein potentielles Misslingen von Kommunikation ist daher konstruktiv zu nutzen, trägt es doch zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Vielfalt möglicher Ursachen von Missverständnissen und das Scheitern von Verständigung bei, unter anderem infolge von semantischen Divergenzen zwischen den Sprachen. Wenn diese potentiellen Hindernisse als möglich akzeptiert werden, kann erkennbar werden, ob Verständigung überhaupt angestrebt wird und wo ihre jeweiligen Schwierigkeiten liegen, oder ob es nur um Scheingefechte geht, die der verdeckten Ausnutzung von Machtverhältnissen und der indirekten Durchsetzung von Interessen dienen. Die Rahmenbedingungen eines Dialogformats, das die skizzierte Offenheit akzeptiert, sind durch zumindest folgende Aspekte gekennzeichnet:

 Es sollte eine grundsätzliche freiwillige Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten vorhanden sein, die auch für alle Beteiligten erkennbar sein sollte.

 Vor diesem Hintergrund muss es in einem Dialog Optionen und Mechanismen nicht nur für Konsens geben, sondern auch für Dissens, Vertagung und nicht zuletzt einen Abbruch. Konsens ist dabei nicht mit Freundschaft zu verwechseln, Dissens nicht mit Feindbildern zu identifizieren.

 Erforderlich sind fundierte Kenntnisse verschiedener Gesprächsstile und kulturell geprägter Dialogformen und -typen, um über Kriterien zu verfügen, die es erlauben, sowohl das Bestehen kulturell bedingter Wissensasymmetrien als auch Formen der verdeckten Kooperationsverweigerung zu erkennen und zu unterscheiden.

Diese Bedingungen können jedoch nicht als vorhanden vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf es ihrer Entwicklung, Erprobung und Verfeinerung. Mit anderen Worten: Die Entwicklung einer Dialogkultur hat didaktische Implikationen.

2. Was sind die Grundlagen einer Didaktik des Dialogs? Der Transdifferenzansatz

Trotz der oben skizzierten Voraussetzungen für einen politischen Dialog haben sich auf breiter Ebene im Bereich der Dialog-Konzepte konsensorientierte Ansätze etabliert, die im Wesentlichen auf der von Jürgen Habermas begründeten rationalen Diskursethik fußen. Zumindest im Hinblick auf eine Dialogdidaktik, die Relevanz für die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern haben soll, ist dies jedoch als ein reduktionistisches Konzept zu betrachten, das mit zu starken programmatisch-normativen Vorannahmen bezüglich kommunikativer Prozesse und Dialogsituationen einhergeht.

Eine hierfür angemessene Dialogdidaktik verlangt in jedem Fall nach Ergänzungen dieses konsensorientierten Ansatzes und nach alternativen Konzepten. Hierfür geeignet ist der Ansatz der Transdifferenz.

Die Entwicklung des Transdifferenzansatzes geht auf ein Graduiertenkolleg zurück (vgl. Breinig/Lösch 2002). Dialog wird hier auf die Prozesse der Kommunikation, des Verstehens und der Verständigung, also die Sprachverwendung, gegründet. Damit setzt auch die Dialogdidaktik bei der erst-, zweit- und fremdsprachlichen Spracharbeit an, die im Unterricht erfolgen muss.

In knapper Skizze geht es bei dem Transdifferenzansatz um Folgendes:

 Zu Beginn der Entwicklung des Ansatzes der Transdifferenz lag der Fokus noch auf der unhinterfragten Annahme gelingenden Verstehens.

 Nach einer ersten kritischen Auseinandersetzung rückten auch das Nicht-Verstehen und Missverstehen in den Blick.

 Um eine krude und unrealistische Binarität zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen zu vermeiden, wurde die Aufmerksamkeit auf Differenzen gelegt, und darauf, was sie jeweils ausmachen. Auf diese Weise können Gesprächspartner dafür sensibilisiert werden, dass sie Äußerungen ihres Gegenübers kaum jemals zu 100 % oder zu 0 % so verstehen, wie er sie gemeint haben mag, sondern dass es Übergänge zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen gibt, die graduell sind.

 Die Auseinandersetzung mit Differenzen ist die Voraussetzung für den Zugang zu einer „positiven Transdifferenz“.

 Dem Transdifferenzansatz geht es also darum, Differenzen anders zu denken, sie auszuhandeln und nicht in Verstehen/Nicht-Verstehen – vollkommene Nachvollziehbarkeit oder komplette Unzugänglichkeit – auflösen zu müssen.

Klaus Lösch beschreibt dies so:

In einem allgemeinen Sinn – und im Anschluss an die Bedeutung ‚quer hindurch‘ der Vorsilbe ‚trans‘ – bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die Grenzlinien hindurch geht und die ursprüngliche eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. (Lösch 2005: 27)

Der Konstanzer Soziologe Ilja Srubar kommentiert dies in seinem Beitrag Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive so:

 

Die Reflexion der Relativität von „Weltanschauungen“, die an unterschiedliche soziale Standorte gebunden sind, die ein Individuum in seiner Biografie durchläuft, dient ebenso bereits Karl Mannheim 1929 zur Illustration der Auflösung der vermeintlichen Homogenität individuellen Wissensvorrats in eine zeitliche Sequenz von ungewissen Wahlen und Entscheidungen […]. Viel wichtiger ist jedoch, dass die wissenssoziologische Arbeit Mannheims paradigmatisch „die Gesellschaft“ in eine Vielfalt von Denkstandorten verwandelt, die sich durch eine beschreibbare Eigenlogik auszeichnen und zwischen welchen Übersetzungsprozesse stattfinden müssen, sollen Gesellschaftssysteme nicht zusammenbrechen. (Srubar 2009: 131f.)

Handlungen erscheinen vor diesem Hintergrund prinzipiell als Zeichen, die anderen zur Deutung auferlegt sind. Die Ungewissheit der Referenz kennzeichnet auch die Zeichensysteme selbst. Aus dem Phänomen der unaufhebbaren kommunikativen Unschärfe resultiert die Erfahrung der Differenz, auf die auch der Begriff der Transdifferenz zielt.

Denn binäre Systeme aus „Eigenem“ und „Fremdem“ sind nur begrenzt wirksam. Ein Perspektivenwechsel unterstellt, dass es sich um klar definierbare Perspektiven und nicht um offene Wahrnehmungen handelt. Der zugrundeliegende Kulturbegriff geht von trennbaren, eigenständig existierenden Systemen mehr oder weniger stark ausgeprägter Homogenität aus. Unberücksichtigt bleiben dabei kognitive Aspekte der Wahrnehmung: Wie sollen Perspektivwechsel stattfinden, wenn der kognitive Apparat des Betrachters/Lerners derselbe bleibt? Wenn zu unterstellen ist, dass der gleiche kognitive Apparat Eigenes und Fremdes getrennt voneinander wahrnehmen kann, dann wäre er nicht lernfähig, und damit wäre das Ziel interkulturellen Verstehens apriori unrealistisch.

Anleihen fand der Transdifferenzansatz in dem Konzept der „Transkulturation“, das zuvor von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (1947) formuliert wurde. Es betont den Prozesscharakter der Kulturentwicklung und -konstruktion. Anders als der Begriff ‚Transkulturalität’, der das (statische) Ergebnis von oft nicht genauer bestimmten Transkulturationsprozessen bezeichnet, wird unter ‚Transkulturation’ der Prozess der Konstruktion und Aushandlung individueller Bedeutungen von Kulturen verstanden. Nach Atsuko Onuki und Thomas Pekar (2006) können Kulturen somit als Figurationen und Defigurationen von sich prozessual konstituierenden (figurierenden) Einheiten gefasst werden, die sich zugleich in einer ständigen Veränderungsbewegung befinden. Diese Veränderbarkeit und Dynamik sprengt die Grenzen gängiger, auch verbreiteter transkultureller Kulturkonzepte und ist Grundlage des Transdifferenzkonzeptes.

Und weil sich zum anderen, in Hinsicht auf unsere eigene kulturelle ‚Verortung‘ (oder auch ‚Ortlosigkeit‘), jede spezifische Kultur selbst als eine ‚Figuration‘ begreifen lässt, d.h. als eine prozessual sich konstituierende Einheit, die sich jedoch in einer ständigen Veränderungsbewegung befindet. Die Rede von ‚Figuration‘ (kultureller Figuration) soll darauf aufmerksam machen, daß sich jede Kultur in einem permanenten und unaufhebbaren Spannungsfeld von De- und Refiguration befindet. Dieser besondere zeitlich-dynamische Aspekt unterscheidet im übrigen ‚Figuration‘ am klarsten von Begriffen wie Struktur, Gestalt, Form etc. (Onuki/Pekar 2006: 9)

Im Sinne von Lösch (2005: 33) ist Kultur damit kein abgeschlossenes, auf sich selbst bezogenes System:

Kultur ist kein autopoietisches System, das in ausschließlicher Selbstbezüglichkeit die eigenen Elemente selbst produziert und in diesem Prozessieren die konstitutive System-/Umweltgrenze affirmiert und perpetuiert, sondern ein prozessuales Produkt der Interaktion von Systemen, deren Grenzen freilich erst in diesem Austauschvorgang gezogen und beständig revidiert werden.

Kultur ist demzufolge als die denotative Bedeutungsebene von sozialer und sprachlicher Interaktion zu definieren. Sozialisations-, Akkulturations-, und Integrationsprozesse sowie letztlich auch Individuationsprozesse im Sinne soziokultureller Selbstwahrnehmung beruhen auf der Viabilisierung konnotativer Bedeutungen in gesellschaftlichen Kontexten. (Wendt 2002: 42)

Mit der Begrifflichkeit von Transdifferenz und Differenz soll also die Unbestimmbarkeit und Veränderbarkeit kultureller Erscheinungen so gefasst werden, dass es weder zu einer normierenden Synthese noch zu einer Auflösung von Differenzen kommt. Der Transdifferenzansatz löst das Problem der kognitiven Dissonanz also durch ein dynamisches Nebeneinander mehr oder weniger interagierender und temporärer Positionen und Einstellungen. Differenzen komplementieren die binäre Ordnung. Durch die dynamische Integration des Fremden in bestehende und sich verändernde Wissensbestände wird die binäre Trennung in Eigenes und Fremdes obsolet.

Mit diesem Verstehensmodell einher geht eine Umstellung auf ein dynamisches Identitätskonzept. Nicht die Frage „Wer bin ich?“, sondern die Frage: „Wer werde ich?“ steht im Mittelpunkt der Identitätskonstitution (vgl. Allolio-Näcke/Kalscheuer 2005: 18). Die vielfältigen Austausch- und Veränderungsprozesse von Kulturen im Kontakt beziehungsweise im Zeitalter der Globalisierung können zu einer Komplexitätssteigerung von Identitäten führen, die als postnational bezeichnet werden können. Bei einer gewissen Fragmentarisierung des Selbst findet, so wird angenommen, eine „Teilhabe an mehreren Kollektiv-Intersubjektivitäten“ statt (vgl. Hildebrandt 2005: 351).

Wie aber werden die Kompetenzen erworben, die für den Umgang mit solcher Komplexität nötig sind? Es ist davon auszugehen, dass sich die transdifferente Qualität der Wissensorganisation am besten selektiv nach Bedarf und Disposition in bestimmten thematischen Domänen entwickelt, die für ein Individuum relevant sind. Die Themenauswahl und die Zugänge zu den Themen in diesem Buch sind dieser selektiven, individuellen Vorgehensweise verpflichtet.