Handbuch des Strafrechts

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6. Registereinträge

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Eine rechtskräftig festgesetzte Verbandsgeldbuße von mehr als 200 Euro ist in das Gewerbezentralregister einzutragen, das durch das Bundesamt für Justiz (BfJ) geführt wird (§ 149 Abs. 2 Nr. 3 GewO). Damit soll den zuständigen Gewerbebehörden Tatsachenmaterial an die Hand gegeben und ein wirksamer Schutz der Allgemeinheit vor unzuverlässigen Gewerbetreibenden ermöglicht werden.[175]

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Darüber hinaus haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten die meisten Bundesländer per Gesetz oder ministeriellem Erlass Korruptions- und Vergaberegister geschaffen, mit denen – freilich unter stark divergierenden Voraussetzungen – Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden können.[176] Auf Bundesebene scheiterten dagegen lange Zeit alle Pläne zur Einrichtung eines zentralen Registers.[177] Erst mit dem „Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ vom 18. Juli 2017[178] wurde ein Wettbewerbsregister geschaffen, das vom Bundeskartellamt als Datenbank geführt wird (§ 1 WRegG), im Jahr 2020 funktionsfähig sein soll und die Landesregister ablösen wird. Eingetragen werden unter den Voraussetzungen von § 2 WRegG rechtskräftige Verurteilungen, Strafbefehle oder bestandskräftige Bußgeldentscheidungen.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen › D. Die Diskussion um die Einführung eines Verbandsstrafrechts

D. Die Diskussion um die Einführung eines Verbandsstrafrechts

I. Dogmatische Aspekte

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In der deutschen Strafrechtswissenschaft bestehen traditionell grundlegende Bedenken gegenüber einem Verbandsstrafrecht. Nach h.M.[179] stehen ihm die strafrechtlichen Grundkategorien entgegen. Verbände seien weder handlungs-, schuld- noch straffähig. Auch wären Doppel- und Kollektivbestrafungen zu befürchten. Für die gerade in den letzten Jahren weiter vordringende Gegenauffassung[180] sind diese Hindernisse dagegen überwindbar, da dogmatische Grundsätze „nicht in Stein gemeißelt“[181] seien.

1. Handlungsfähigkeit

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Traditionell[182] wird bereits die Handlungsfähigkeit von Verbänden verneint. Juristischen Personen und Personenvereinigungen fehle es als juristischen Konstrukten an der psychisch-geistigen Substanz, sie seien unfähig, einen eigenen „natürlichen“ Willen zu bilden und zu handeln. Das Handeln von Verbänden sei stets von Menschen abgeleitet, ein eigenes Handeln sei nur im Zivilrecht normativ anerkannt.

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Die Gegenauffassung bejaht die Handlungsfähigkeit. Ein älterer Ansatz[183] nahm an, dass ein Verband durch seine Mitglieder „selbst“ handelt, also i.d.S. über eine „natürliche“ Handlungsfähigkeit verfügt. Jedes Mitglied des Verbands unterwerfe sich mit seinem Beitritt den in der Satzung geregelten Modalitäten der Beschlussfassung. Der Verbandswille manifestiere sich in der Beschlussfassung der Mehrheit, das Verbandsverhalten bestehe in der Umsetzung durch die Vertreter. Der Verband habe damit einen Sonderwillen, der sich vom Einzelwillen der Mitglieder unterscheiden könne. Gegen diese Sichtweise ist aber einzuwenden, dass dieser Verbandswille kein „eigener“ ist, sondern auf der vorgelagerten Willensbildung von Menschen fußt.[184] Zudem handelt bei der Umsetzung der Beschlüsse nicht der Verband, sondern ein Vertreter, der auch auf eigenen Entschluss hin tätig werden kann. Im Übrigen ist es wenig plausibel, dass die Mitglieder die Begehung von rechtswidrigen Handlungen stets billigen bzw. sich solchen Mehrheitsentscheidungen unterwerfen wollen.[185]

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Ein neuerer Ansatz[186] erblickt den „eigenen“ Verbandswillen und die „natürliche“ Handlungsfähigkeit des Verbands im „realen“ Tätigwerden des Verbands, das er als dessen (originär) „eigenes“ Handeln begreift. Angeknüpft wird hierbei insb. an die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit von Otto v. Gierke, wonach Verbände reale, eigenständige soziale Subjekte seien und „selbst“ durch ihre Vertreter handeln (Rn. 7), aber auch an die Systemtheorie von Niklas Luhmann, wonach sich das Verhalten eines sozialen Systems als dessen eigenes Handeln begreifen lasse. Teilweise wird auch in Anlehnung an Immanuel Kant angenommen, dass jede Handlung natürlicher Personen, die als Teil einer juristischen Person vollzogen wird, „eine Handlung des Ganzen, mithin jedes einzelnen Teiles“ darstellt.[187] Freilich ist gegen diese Sichtweisen erneut einzuwenden, dass nicht der Verband „selbst“ handelt, sondern dass Menschen „für ihn“ handeln, womit aus der Perspektive des Rechts (nur) eine Zurechnung von Handlungen an den Verband als „eigene“ stattfindet.

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Überzeugender ist die verbreitete[188] Annahme, dass einem Verband die willensgetragenen Handlungen seiner Leitungspersonen auch strafrechtlich als „eigene“ zuzurechnen sind, mithin eine „Form des eigenen Handelns durch einen anderen“[189] vorliegt. Teilweise[190] werden einem Unternehmen sogar die Handlungen aller Personen zugerechnet, die ihm angehören. Maßgebend ist in jedem Fall die normative Anerkennung. Prägnant formulierte dies Franz v. Liszt bereits im Jahr 1881: „Wer Verträge schließen kann, der kann auch betrügerische oder wucherische Verträge schließen“.[191] Soweit hierdurch aber auf das Zivilrecht und speziell auf § 31 BGB[192] abgestellt wird, wonach Vereine für Handlungen ihrer Organe „haften“, ist dem entgegenzuhalten, dass der Schluss von der zivilrechtlichen Haftung auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht zwingend ist.[193] Auch der Hinweis darauf, dass dem Strafrecht die Zurechnung eines Verhaltens „als eigenes“ nicht fremd sei, weil bei § 25 StGB dem mittelbaren Täter das Verhalten des Tatmittlers zugerechnet wird und auch bei der Mittäterschaft Tatbeiträge wechselseitig zugerechnet werden,[194] verfängt nicht. In diesen Fällen liegt ein (originär) eigenes Handeln und Wollen des Täters vor, an das die Zurechnung anknüpft.[195] Durchgreifend ist dagegen der Verweis auf § 30 OWiG, da die Festsetzung einer Verbandsgeldbuße die Begehung einer Tat durch eine Leitungsperson voraussetzt, womit eine Zurechnung von Handlungen normiert ist. Wenn aber eine Zurechnung im Ordnungswidrigkeitenrecht konstruktiv möglich ist, dann muss sie das auch im Strafrecht sein, da der Handlungsbegriff in beiden Rechtsgebieten identisch ist und aus dem Unterschied, der zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Hinblick auf das Unrecht besteht (Rn. 25), keine abweichende Bewertung der Handlungsfähigkeit resultieren kann.[196] Weiter ist auf die strafrechtliche Regelung des § 74e StGB (Rn. 46) hinzuweisen: Bei der Einziehung von Verbandseigentum, das zu einer strafbaren Handlung missbraucht wurde, wird die Handlung des Organs oder Vertreters dem Verband nach dem Wortlaut des Gesetzes ausdrücklich „zugerechnet“.[197] Schließlich kann darauf hingewiesen werden, dass das BVerfG bereits im Jahr 1966 im Bertelsmann-Lesering-Beschluss ausgeführt hat, dass „die juristische Person […] als solche nicht handlungsfähig [ist]“, womit die „für sie verantwortlich handelnden Personen“ maßgebend sind.[198]

2. Schuldfähigkeit

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Die „Gretchenfrage“ des Verbandsstrafrechts bildet die seit langem sehr kontrovers geführte Diskussion um die Schuldfähigkeit von Verbänden, die an die Frage der Handlungsfähigkeit anschließt. Im deutschen Recht setzt Strafe stets Schuld voraus. Nach dem BVerfG beherrscht der Schuldgrundsatz den gesamten Bereich staatlichen Strafens und hat Verfassungsrang: „Er ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert“.[199] Infolge der Verankerung in der Menschenwürdegarantie gehört er zur unverfügbaren Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) und ist damit auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt.[200]

a) Schuldgelöstes Strafrecht

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Im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des Schuldgrundsatzes müssen alle Versuche, ihn auszuhebeln, scheitern. Das gilt etwa für den früher von Schünemann[201] verfochtenen Ansatz, wonach die Verletzung des Schuldgrundsatzes kein Hindernis darstelle, wenn ein Rechtsgüternotstand vorliege, der aus einer dem Notstand vergleichbaren „Schwächung effizienter Prävention“ im Bereich der Unternehmenskriminalität resultiere; das Verschulden sei – sofern der Rechtsgüterschutz schwerer wiege als die Einbuße durch die Sanktion – durch ein „überwiegendes öffentliches Interesse“ an der Bestrafung ersetzbar. Abgesehen davon, dass eine prozessuale Beweisnot nicht die Schaffung materieller Sanktionen rechtfertigt,[202] würde dadurch das Strafrecht zu einem Haftungsrecht „denaturiert“.[203] Durchgreifenden Bedenken begegnet auch der Ansatz von Otto,[204] der Verbandssanktionen (nur) als wirtschaftsaufsichtsrechtliche Maßnahmen bewerten und damit dem Anwendungsbereich des Schuldgrundsatzes entziehen, die Maßnahmen aber zugleich als „repressiv orientierte Präventionsmittel“ begreifen möchte, vergleichbar mit „Ordnungsmitteln nach § 890 ZPO“. Bereits im Bertelsmann-Lesering-Beschluss von 1966 hatte das BVerfG entschieden, dass der Schuldgrundsatz auch für die „strafähnliche Sanktion“ des § 890 ZPO gilt.[205]

 

b) Schuld = nur Individualschuld

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Traditionell[206] wird davon ausgegangen, dass Verbände nicht schuldfähig sind. Nur gegenüber Menschen könne der Vorwurf sozialethischen Versagens erhoben werden, nur der Mensch könne sich aus freier und verantwortlicher Selbstbestimmung heraus für das Recht und gegen das Unrecht entscheiden, verfüge über eine „natürliche“ Schuldfähigkeit. Auf juristische Konstrukte sei der Schuldbegriff „schlechthin unübertragbar“.[207]

c) Schuld = auch Verbandsschuld

aa) Verschulden der Mitglieder

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Der bereits bei der Handlungsfähigkeit dargestellte ältere Ansatz (Rn. 57) ging nicht nur davon aus, dass ein Verband durch seine Mitglieder „selbst“ handelt, sondern dass das schuldhafte Handeln der Mitglieder auch das Verschulden begründet,[208] der Verband also deshalb über eine „natürliche“ Schuldfähigkeit verfügt. Hiergegen wurde aber bereits früh zu Recht eingewandt, dass dies auf die pauschale Bestrafung aller Mitglieder unter einer Kollektivbezeichnung, also eine „Kollektivstrafe“, hinausläuft, was gegen den Grundsatz verstößt, dass jeder nach seiner eigenen Schuld zu bestrafen ist[209] (siehe heute § 29 StGB).

bb) Originäres Organisationsverschulden

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Der modernere Ansatz (Rn. 58) nimmt dagegen an, dass nicht nur ein „eigenes“ Handeln des Verbands vorliegt, sondern ihm ebenso ein „originäres“ Organisationsverschulden vorgeworfen werden kann.[210] Tiedemann[211] führt an, Schuld könne nicht nur „sozial-ethisch“, sondern auch als „soziale“ Schuld begriffen werden, die Verbandsschuld müsse daher nicht im gleichen Sinne verstanden werden wie die Individualschuld. Dannecker[212] hebt – i.S.d. Theorie der realen Verbandspersönlichkeit – hervor, Unternehmen seien „eigenständige soziale Subjekte“, hätten eine „corporate culture“, da die Ziele und Eigenschaften eines Unternehmens mehr als die Summe und Ziele der Eigenschaften der einzelnen Mitglieder seien. Aus der gesteigerten Bedeutung, die Verbände im sozialen Leben haben, wird geschlossen, ihnen obliege eine gesteigerte „soziale“ Verantwortung, sie müssten deliktischem Verhalten durch Kontrollmechanismen entgegenwirken. Werde zu einem deliktischen Verhalten animiert oder dieses unterstützt, sei diese „kriminelle Verbandsattitüde“[213] oder „kriminogene Unternehmensphilosophie“[214] Ausdruck des Versagens der Kontrollmechanismen. Teilweise wird in Anlehnung an die Systemtheorie angeführt, der Verband sei ein „autopoietisches System“, die Unternehmensschuld „ein durch die Unternehmenskultur zum Ausdruck gebrachtes Manko an Rechtstreue“,[215] ein „qualifizierter Fehlgebrauch der Freiheit zur Selbstregulierung“[216]. Heine[217] ging von einer „Betriebsführungsschuld“ aus, die auf gravierende Organisationsmängel zurückzuführen sei und eine „funktions-analoge Übertragung“ der Bausteine des Individualstrafrechts darstelle.

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Die Möglichkeit der Exkulpation durch den Nachweis hinreichender Organisation wird dem Verband z.T. als „Gebot der Gerechtigkeit“[218] zugestanden, häufig jedoch verwehrt. So führt Tiedemann[219] an, eine Freizeichnung scheide aus, da das Organisationsverschulden weder auf Zufall beruhe noch unabwendbar sei; auch beim Vollrausch und der actio libera in causa seien die eigentlich schädlichen Taten durch ein „vorwerfbares Vorverschulden“ veranlasst. Für Ehrhardt[220] wird in jeder Tat die „fehlende Neutralisierung kriminogener Einflüsse“ sichtbar. Lampe[221] betrachtet das Organisationsverschulden gar als Folge eines „schlechten Unternehmenscharakters“: Weil sich niemand damit entlasten könne, dass er „für seinen schlechten Charakter nichts könne“, sei dies auch dem Unternehmen verwehrt, womit es für ein „schlechtes Management“ einzustehen habe.

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Schließlich soll der Menschenwürdegehalt des Schuldgrundsatzes einem „originären“ Organisationsverschulden nicht entgegenstehen, da juristischen Personen die Menschenwürdegarantie unstreitig nicht zukommt, womit die Verbands- bzw. Unternehmensschuld nicht aus der Menschenwürde, sondern nur aus den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen an eine gerechte Strafe hergeleitet werden könne.[222]

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Gegen den Ansatz eines „originären“ Organisationsverschuldens ist einzuwenden, dass Schuld Einsichtsfähigkeit und ein Andershandelnkönnen voraussetzt. Ein Verband kann aber weder „originär“ einsichtsfähig sein noch „originär“ anders handeln, sondern dies können nur Menschen, die den Verband aufbauen und strukturieren.[223] Nur seinen Leitungspersonen kann ein „originäres“ Organisationsverschulden vorgeworfen werden. Hinweise auf die „soziale Wirklichkeit“ oder die Systemtheorie – und damit das Bemühen, ontologisch eine Parallele zwischen Menschen und Verbänden zu ziehen – können an diesem Befund nichts ändern. Ohnehin ist fraglich, ob etwa die Bezugnahme auf die Systemtheorie den Ansatz tragen kann.[224] Es ist bezeichnend, dass gerade Jakobs[225] sich gegen ein Verbandsverschulden ausgesprochen hat. Zwar möge es sein, dass eine juristische Person ein „Eigenleben“ führt, „sich ihre innere Verfassung nach Regeln bildet, die als bloße Summierung der für sie handelnden natürlichen Personen nicht zu erklären ist“. Dies ändere aber nichts daran, dass es sich um einen „Geist“ handelt. Diesen Geist will freilich Lampe[226] als „überindividuellen Geist“, der sich der Mitarbeiter „bemächtigt“, gerade bestrafen. Ebenso wenig ist die juristische Person ein „Lebewesen höherer Ordnung“[227], sondern nur ein juristisches Konstrukt. Auch die Anknüpfung an eine „Betriebsführungsschuld“ ist verfehlt, da im Individualstrafrecht nicht die „Lebensführungsschuld“ maßgeblich ist,[228] sondern die Einzeltatschuld, so dass es an einer „funktions-analogen“ Übertragung fehlt. Und schließlich ist es nicht überzeugend, von „sozialer“ Schuld zu sprechen und damit den Schuldbegriff zu „entleeren“. Wie das BVerfG im Lissabon-Urteil angeführt hat, enthält jede Strafnorm ein „sozialethisches Unwerturteil“.[229]

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Weiter ist es mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar, wenn ein Organisationsverschulden unwiderlegbar fingiert wird.[230] So fehlt es ersichtlich an einem Organisationsverschulden, wenn etwa eine Leitungsperson, die sorgfältig ausgewählt wurde und jahrelang zuverlässig war, eine zuvor nicht absehbare verbandsbezogene Straftat begeht. In Wahrheit wird in einem solchen Fall nicht an ein „Verschulden“ des Verbands angeknüpft, sondern eine „Garantiehaftung“ begründet.[231] Dies mag zwar im Zivilrecht zulässig sein, ist im Strafrecht aber unannehmbar. Der unwiderlegbare Schluss von der Begehung einer Straftat auf ein Auswahlverschulden ist „schlicht unzulässig“, dem Verband muss nicht nur der Einwand rechtskonformer Organisation gestattet sein, sondern wegen der Unschuldsvermutung ist der Nachweis des Organisationsverschuldens zu fordern.[232]

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Schließlich lässt sich aus der Verankerung des Schuldgrundsatzes in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) ableiten, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein von dem Verschulden von Menschen vollständig gelöstes Verbandsstrafrecht zu begründen. Ein Verbandsstrafrecht kann daher nicht unmittelbar an ein nicht existentes „originäres“ Organisationsverschulden des Verbands anknüpfen.

cc) Zurechnung des Verschuldens

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Verbreitet[233] wird dem Verband nicht nur das Handeln (Rn. 59), sondern auch das („originäre“) Verschulden seiner Leitungspersonen als „eigenes“ zugerechnet und am herkömmlichen Schuldbegriff festgehalten. Der Verband kann damit für jede verbandsbezogene Straftat, die eine Leitungsperson verwirklicht hat, verantwortlich gemacht werden. Zudem kann dem Verband ein Überwachungsverschulden einer Leitungsperson vorgeworfen werden, wenn eine ihr unterstellte Person eine betriebsbezogene Straftat begangen hat. Für Rogall[234] handelt es sich nicht um eine „Zurechnung von Fremdverantwortung“, sondern um eine „Eigendelinquenz des Verbands“, eine Form der „Selbstbegehung“, eine „organschaftliche Verbandstäterschaft“; dem Verband werde das schuldhafte Verhalten wegen der besonderen Stellung seiner Repräsentanten als „eigenes“ zugerechnet; in den Handlungen gelange nicht nur eine fehlerhafte individuelle, sondern vor allem auch „fehlerhafte kollektive Sinnsetzung“ zum Ausdruck. Weitergehend will Engelhart[235] einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen aller Personen zurechnen, die ihm angehören, soweit diese durch Compliance-Programme verhindert oder wesentlich erschwert worden wären, also diesbezüglich ein Organisationsverschulden vorliegt.

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Scharfe Kritik an dieser Zurechnungslösung hat vor allem Schünemann[236] geübt, ihr „Schlichtheit“ und „geringsten argumentativen Aufwand“ attestiert; sie bestehe in nichts anderem als einer „quaternio terminorum“ des Handlungs- wie des Schuldbegriffs: Zurechnung einer fremden Handlung sei keine Handlung, Zurechnung fremder Schuld könne eine fehlende Schuldvoraussetzung nicht ersetzen, sei eine „Überstülpung zivilrechtlicher Zurechnungsmodelle auf das Strafrecht“, ein primitives Abreagieren der „Frustration nach unerfreulichen Ereignissen durch wildes Um-sich-Schlagen“.[237] Frisch[238] wendet ein, die Zurechnungslösung missachte wichtige Prinzipien und Grenzen der strafrechtlichen Zurechnung, verkenne deren „Tiefenstruktur“; zugerechnet werden müssten die subjektiven Grundlagen (Vorsatz; Absichten) und damit etwas, was niemals Gegenstand, sondern selbst Grundlage der Zurechnung sei; außerdem gehe es allenfalls um „Teilnahmeunrecht“, da der juristischen Person nur vorgeworfen werden könne, durch ihre Existenz, durch bestimmte Strukturen und durch fehlende Vorkehrungen die Begehung der Straftat einer natürlichen Person ermöglicht oder erleichtert zu haben; dem Teilnehmer könne aber das Unrecht der Tat nicht als eigene Straftat zugerechnet werden; es handele sich um eine „Begriffsvertauschung“, „Begriffsvermengung“, möglicherweise partiell einen „Begründungstrick“.

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Diese Kritik verkennt, dass es nicht darum geht, ob bereits de lege lata eine strafrechtliche Zurechnung erfolgen kann, sondern ob diese de lege ferenda normier- und legitimierbar ist. Im geltenden Kriminalstrafrecht ist die Zurechnung der Schuld von Menschen an Verbände „als eigene“ bislang ausgeschlossen, da eine entsprechende Strafvorschrift nicht existiert. Dies heißt aber nicht, dass der Gesetzgeber sie nicht normieren könnte. Denn wenn er juristischen Konstrukten die Rechtsfähigkeit verleihen kann, kann er ihnen auch die schuldhaften Handlungen von Menschen „als eigene“ zurechnen.[239] Wie Vogel[240] es provokativ formuliert hat, darf der Gesetzgeber „in den Grenzen der Grund- und Menschenrechte und des Willkürverbots“ ein Unternehmensstrafrecht einführen, kann „selbstherrlich“ bestimmen, wer Zurechnungsendpunkt eines strafrechtlich relevanten Verhaltens ist, „ohne an eine bestimmte Dogmatik gebunden zu sein“. Mit anderen Worten: Er kann eine neue Dogmatik erschaffen bzw. die bisherige erweitern, solange dies nicht gegen die Verfassung verstößt. Schünemann[241] hat diese Sichtweise als „erzpositivistisch“ bzw. „neopositivistisch“ angeprangert, gegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers wäre aber grds. nichts einzuwenden, da die Normierung einer Verbandsstrafe weder ethisch bzw. moralisch fragwürdig noch ungerecht wäre – im Gegenteil:

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Erstens kann der Vorwurf des Andershandelnkönnens auch gegenüber Verbänden erhoben werden, da sie „originär“ durch ihre Leitungspersonen und damit einsichtsfähige Menschen handeln, die in der Lage sind, sich am Recht zu orientieren.[242] In der Rechtspraxis wird der Verband gerade mit diesen Menschen, auf deren Handeln er angewiesen ist, identifiziert. Genauso wie ihr Handeln nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Bedeutung hat, hat auch die Schuld individuelle und kollektive Bedeutung. Das schuldhafte Verhalten der Leitungsperson verletzt nicht nur eigene Pflichten, sondern auch Pflichten des Verbands. Leitungs- und Verbandsverschulden können „in eins gesetzt“[243] werden. Zu weit dürfte es gehen, wenn Engelhart einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen aller Unternehmensangehörigen zurechnet. Damit die Verantwortlichkeit nicht nur eine Zufallshaftung (hierzu Rn. 121) darstellt, muss er begrenzend ein Organisationsverschulden fordern, das aber nur den Leitungspersonen, die das Unternehmen organisieren, vorgeworfen werden kann. Im Übrigen würde in diesem „gemischt individuell-kollektiven Modell“[244] eine Verantwortlichkeit des Unternehmens streng genommen ausscheiden, wenn eine Leitungsperson eine Straftat begeht, die durch Compliance-Programme nicht hätte verhindert oder zumindest erschwert werden können.

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Zweitens kann wegen der Verletzung strafbewehrter Pflichten auch gegenüber Verbänden ein sozialethischer Schuldvorwurf erhoben werden. So hat Hirsch[245] darauf aufmerksam gemacht, dass in der „sozialen Wirklichkeit“ von der „Schuld“ eines Unternehmens gesprochen und damit ein sozialethischer Vorwurf erhoben wird. Hinzuweisen ist weiter darauf, dass der BGH bereits 1954[246] die Beleidigungsfähigkeit juristischer Personen anerkannt hat; zuvor war diese vereint worden, weil die Ehre allein auf den sittlichen Wert des Menschen gegründet sein sollte – ein Argument, das offenbar auch in diesem Bereich nicht mehr überzeugen konnte. Wer aber als Träger einer Ehre einen sozialethischen Wert für sich in Anspruch nehmen kann, dem kann auch bei Vornahme einer Straftat dieser Wert abgesprochen werden.[247] Treffend hat Kubiciel formuliert, dass die Schuldfähigkeit „keine natürliche Eigenschaft, sondern eine (rechts-)kulturelle“ ist: „Sie wird zugeschrieben, wobei sich diese Zuschreibung an sozialen Anschauungen orientiert“; die Gesellschaft habe sich mittlerweile daran gewöhnt, „Unternehmen Verantwortung für betriebsbezogene Straftaten zuzuweisen“.[248]

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Drittens wäre eine Schuldzurechnung weder willkürlich noch ungerecht, sondern ein Gebot der Gerechtigkeit: Wenn ein rechtliches Konstrukt vermittelt durch die Handlungen seiner Leitungspersonen von eröffneten Freiheiten rechtswirksam Gebrauch macht, muss das Konstrukt umgekehrt, wenn die Leitungspersonen diese Freiheit durch schuldhafte Handlungen missbrauchen, ebenso die damit verbundenen negativen Konsequenzen und damit eine Verbandsstrafe tragen.[249] Warum Unternehmen, die etwa als Kapitalgesellschaften verfasst sind, in dieser Hinsicht gegenüber Einzelunternehmern privilegiert sein sollen, ist nicht einsichtig. Den Unternehmen bzw. ihren Anteilseignern und Leitungspersonen mag diese Privilegierung zwar entgegenkommen, sie stellt aber einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil dar. Die durchgängige Beseitigung der Privilegierung juristischer Personen und Personenvereinigungen im Verhältnis zu natürlichen Personen war seinerzeit der Grund für die Einführung der Verbandsgeldbuße (Rn. 21). Diesbezüglich ist ebenso auf die mittlerweile zahlreichen Auslandsrechte hinzuweisen, in denen Unternehmen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können (Rn. 92). Der Einwand, wer ein „qualifiziertes Bild von der Strafe und ihrem Anknüpfungspunkt, der Straftat“ hat, könne die Strafe nicht gegenüber juristischen Personen einsetzen,[250] ist daher umzukehren.

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Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG der Zurechnung der Schuld eines Menschen an den Verband nicht entgegensteht.[251] Zwar kann ein Verbandsstrafrecht aufgrund der Verankerung des Schuldgrundsatzes in der Menschenwürde nicht an ein nicht existentes „originäres“ Organisationsverschulden des Verbands anknüpfen (Rn. 67). Der normativen Zurechnung der „originären“ Schuld eines Menschen an den Verband steht die Menschenwürdegarantie aber gerade nicht entgegen, da sie wegen des Wesensvorbehaltes des Art. 19 Abs. 3 GG „juristischen Personen“ – worunter auch alle teilrechtsfähigen Personenmehrheiten und Organisationen zu fassen sind[252] – nicht zukommt. Insoweit besteht nur eine Bindung an Art. 2, 12 und 14 GG, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die entscheidende Schranke bildet.[253]

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Fünftens ist festzustellen, dass der Gesetzgeber die Zurechnung der Schuld von Menschen an Verbände sogar partiell bereits normiert hat. Soweit hierfür auf § 31 BGB[254] oder § 25 StGB verwiesen wird, verfängt dies wiederum ebenso wenig wie bei der Frage der Handlungsfähigkeit (Rn. 59). Überzeugend ist erneut der Verweis auf § 30 OWiG,[255] da die Verbandsgeldbuße voraussetzt, dass dem Verband eine „vorwerfbare“ Handlung zur Last fällt (vgl. § 1 Abs. 1 OWiG). Der Schuldgrundsatz gilt jedoch sowohl im Straf- als auch im Ordnungswidrigkeitenrecht (Rn. 26). Der Unterschied, der zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten besteht, rechtfertigt keine abweichende Bewertung: Ordnungswidrigkeiten sind ethisch nicht völlig „wertneutral“, sondern es wird ebenfalls ein – wenn auch schwacher – sozialethischer Vorwurf erhoben.[256]

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Dem Verband wird daher bereits im geltenden Recht das schuldhafte (Straftat) bzw. vorwerfbare (Ordnungswidrigkeit) Verhalten einer Leitungsperson zugerechnet. Wenn aber § 30 OWiG keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz begründet, dann verstößt hiergegen auch eine parallel konstruierte strafrechtliche Regelung nicht. Im Übrigen kann auf die Strafvorschrift des § 74e StGB[257] hingewiesen werden, durch die dem Verband ein schuldhaftes Handeln seiner Organe und Vertreter ausdrücklich „zugerechnet“ wird. Schließlich ist erneut das BVerfG im Bertelsmann-Lesering-Beschluss von 1966 zu zitieren: „Wird sie [die juristische Person] für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“[258] Diese Aussage wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass das BVerfG in einem Beschluss von 1997 angeführt hat, dass die Geldbuße des § 30 OWiG „weder einen Schuldvorwurf noch eine ethische Mißbilligung enthält, sondern einen Ausgleich für die aus der Tat gezogenen Vorteile schaffen soll“.[259] Denn bei § 30 OWiG geht es eben nicht bloß um den Vorteilsausgleich (§ 17 Abs. 4 OWiG), sondern auch um die Ahndung[260] (Rn. 34). In anderer Hinsicht ist der Beschluss ebenfalls kritikwürdig, da er juristischen Personen die Berufung auf den Nemo-tenetur-Grundsatz im Hinblick auf deren fehlende Menschenwürde versagt hat, ohne zu berücksichtigen, dass dieser Grundsatz gleichfalls auf das Rechtsstaatsprinzip, die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützt werden kann, also Rechte, die auch juristischen Personen zustehen.