Große Werke der Literatur XIV

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Große Werke der Literatur XIV
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Große Werke der Literatur XIV

Günter Butzer / Hubert Zapf

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0001-0

Inhalt

  Vorwort

 Mechthild von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit1. Mystik2. Mechthild von Magdeburg3. Das Fließende Licht der Gottheit3.1 Textgeschichte3.2 Texttyp3.3 Inhalt und BedeutungLiteraturverzeichnis

 Friedrich Hölderlin AndenkenI.II.III.Literaturverzeichnis

 Wilhelm Müller und Franz Schubert WinterreiseLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteratur

 Annette von Droste-Hülshoff Meersburger GedichteMeersburg I (1841–1842)Meersburg II: 1843–1844Meersburg III: 1846–1848SchlussLiteraturverzeichnis

 Walt Whitman Leaves of Grass1. Einflüsse und Biographie2. Der amerikanische Transzendentalismus und Walt Whitman3. Die Triade von Self, Nature und Oversoul3.1. Self3.2. Nature3.3. Oversoul4. DeutungsansätzeKulturökologische DeutungLiteraturverzeichnis

 Theodor Fontane Schach von WuthenowEine klassische Erzählstrategie„Dame“ schlägt „Ritt[meist]er“1806–1882–1914 – und dann?Literaturverzeichnis

 Édouard Dujardin Les lauriers sont coupésI.II.III.IV.V.Literaturverzeichnis

 Joseph Conrad Lord Jim (1900)I.II.III.IV.V.Literaturverzeichnis

 Ernest Hemingway Schnee auf dem Kilimandscharo/The Snows of KilimanjaroLiteraturverzeichnisPrimärliteraturSekundärliteratur

 Alejo Carpentier Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949)1. Einleitung: Alejo Carpentier und der Boom der lateinamerikanischen Literatur2. Autochthone Romanpoetik: Zur Programmatik des real maravilloso3. Narration und Erinnerung: Der Autor als moderner Simonides4. Romaneske Fiktion und koloniale Chronik5. Erzählverfahren: auktoriale und außerokzidentale Perspektive6. Neobarocker Stil: Synkretismus und Historismus7. Biblische Symbolik: Antiker Mythos und christliche Figura8. Transkulturation und Postkolonialismus in El reino de este mundo9. Kultureller Synkretismus und die Utopie des mestizajeLiteraturverzeichnis

 S.Y. Agnon SchiraI.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.Literaturverzeichnis

 Joy Kogawa ObasanObasan und historische ErinnerungDie Aufzeichnungen der Muriel Kitagawa und das Memorandum des Co-operative Committee on Japanese CanadiansGruppenerfahrung und individuelle ErinnerungLiteraturverzeichnis

  Die Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg.

Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literatur- auf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst – so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht.

Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.

Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden.

 

In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind.

Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Nina Blagojevic, Jessica Friedline, Laura Fritz, Beate Greisel, Theresa Schwaiger und Andreas Tschierse für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben.

Augsburg, im Januar 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf

Mechthild von Magdeburg
Das Fließende Licht der Gottheit

Freimut Löser

Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg gilt als herausragendes Werk der ‚deutschen Mystik‘. Es werden also Antworten auf folgende Fragen zu suchen sein: 1. Was ist ‚Mystik‘? 2. Wer war Mechthild von Magdeburg? 3. Was ist das ‚Fließende Licht der Gottheit‘?

1. Mystik1

Es kommt nicht von ungefähr, dass zurzeit – wenn man etwa an den Namen Kurt Flasch2 denkt – eine heftige Debatte stattfindet, z.B. ob Meister Eckhart, der große deutsche Prediger, Philosoph und Sprachschöpfer des Mittelalters, der gemeinhin als Mystiker geführt wurde und wird, überhaupt als Mystiker zu bezeichnen ist. Dabei zeigt sich auch und vor allem: Der Begriff ‚Mystik‘ ist schwer zu definieren. Hier kann nur ein vorsichtiger Definitionsversuch unternommen werden. Sicher ist: Er ist abgeleitet vom griech. mystikós‚ ‚geheimnisvoll, geheim‘, und dieser Begriff wiederum hat etwas mit der Vorstellung geschlossener Augen zu tun. Man kann dem zweierlei entnehmen: Mystische Lehren können – vor den Blicken verborgen – Geheimlehren sein, und es geht der Mystik um die Durchdringung des Geheimen, Geheimnisvollen und Verborgenen. Dies geschieht – bildlich gesprochen – mit geschlossenen Augen, also in höchster Konzentration auf das Innere. Mystik wird weiter gemeinhin als unmittelbare und erlebnishafte Erfahrung des Göttlichen oder Transzendenten definiert. Dabei werden in der Regel das gewöhnliche Bewusstsein und die verstandesmäßige Erkenntnis überstiegen. Ziel der Mystik ist die Vereinigung, christlich als unio mystica gefasst, mit dem absoluten Seinsgrund. Mittel sind häufig Askese, Meditation und Kontemplation. Für den christlichen Bereich des Mittelalters kann Mystik etwa mit Thomas von Aquin oder Bonaventura als cognitio dei experimentalis definiert werden, d.h. also als erfahrungshafte Gotteserkenntnis. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Zu dem Phänomen, das man gemeinhin als mystisch zu fassen versucht, gehören einerseits unmittelbar erlebte oder von Gott gnadenhaft geschenkte Visionen, Auditionen, sensuelle Wahrnehmungen einerseits, auf der anderen Seite aber auch häufig die theoretisch-philosophische Reflexion entweder über Phänomene der Mystik oder über die Einung mit Gott. Man kann deshalb von verschiedenen Textsorten ausgehen, die sich in zwei Richtungen einteilen lassen, einmal in die praktische, sogenannte Erlebensmystik und andererseits in die spekulative, theoretisch-philosophisch-orientierte Mystik (so bei Eckhart). Als Literatur- und Textwissenschaftler haben wir es zudem immer mit Texten zu tun, d.h. mit inszenierter Wirklichkeit, die literaturimmanenten Gesetzen folgt.

Wenn man von erfahrungshafter Gotteserkenntnis redet, werden in diesem Bereich autobiographische oder pseudo-autobiographische Erlebnisberichte dominieren, auf der anderen Seite theologisch-philosophische theoretische Reflexionen, die man als Mystologie bezeichnen kann, und Lehrschriften über den mystischen Weg (Mystagogie). Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit wäre besonders dem Erlebnisbereich zuzuordnen, wobei auch Tendenzen zum Lehrhaften erkennbar und Literarisierungsstrategien unübersehbar sind.

2. Mechthild von Magdeburg1

Es ist wie häufig im Mittelalter: Mechthild ist nur aus ihren Texten greifbar. Ihre Lebensumstände müssen aus den wenigen autobiographischen Hinweisen in ihrem Werk, das aus insgesamt sieben einzelnen Büchern mit unterschiedlich langen Kapiteln besteht, erschlossen werden. Weitere Informationen finden sich im kurzen lateinischen Vorwort (von einem anderen Autor), im längeren lateinischen Prolog vor der lateinischen Übersetzung der Bücher I–VI und in einigen weiteren Zusätzen zum Text dieser Übersetzung. Mechthild scheint um 1207 in eine ritterlichen Burgmannenfamilie der westlichen Mittelmark geboren worden und höfisch erzogen worden zu sein. Ihre Beschreibungen deuten darauf hin, dass sie im zwölften Lebensjahr, wie sie es ausdrückt, den „Gruß des Heiligen Geistes“ empfing und dass dieser ihr über Jahre zuteilwurde. Mechthild beschreibt dieses visionäre Erlebnis, das ihr in jungen Jahren geschah, sehr eindringlich:

Alle mine lebtage e ich dis bůches began und eb sin von gotte ein einig wort in min sele kam, do was ich der einvaltigosten menschen eines, (53r) das ie in geistlichem lebende erschein. Von des túfels bosheit wiste ich nit, der welte krancheit kante ich nit, geistlicher lúte valscheit was mir oͮch unkúndig. Ich můs sprechen got ze eren und oͮch durch des bůches lere: Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine […]. Do lies mich got niergen eine und brachte mich in so minnenkliche suͤssekeit, in so helige bekantheit und in so unbegriflich wunder, das ich irdenscher dingen wenig gebruchen konde. Do wart erst min geist us minem gebette bracht zwúschent den himmel und den lufte. Do sach ich mit miner selen oͮgen in himmelscher wunne die schoͤnen menscheit (53v) únsers herren Jhesu Christi, und ich bekante an sinem heren antlútte die heligen drivaltekeit, des vatter ewekeit, des sunes arbeit, des heligen geistes suͤssekeit. 2

Mechthilds Werk ist aber keine Autobiographie, schon gar nicht chronologisch geordnet. Es wirkt sprunghaft und verdankt seine Ordnung in Bücher und Kapitel – mindestens zum großen Teil – überhaupt erst einer späteren Redaktion. Einen Lebensweg zu beschreiben ist nie Ziel des Werkes gewesen und dementsprechend schwierig ist es, ihn zu rekonstruieren: Mechthild scheint um 1230 aus dem Elternhaus zunächst nach Magdeburg – oder, wie man heute auch wahrscheinlich zu machen sucht, nach Erfurt – in ein Beginenhaus geflohen zu sein, wo sie sich anderen Beginen anschloss, d.h. Frauen, die in gemeinsamen Häusern ein klosterähnliches Leben führten, ohne jedoch der Regel eines bestimmten geistlichen Ordens zu folgen. In diesem Beginenhaus lebte sie in Askese, in selbst gewählter Armut und vermutlich auch, wie es üblich war, unter körperlichen Kasteiungen, die sie sich selbst zufügte. Mechthild dürfte, wenn man ihren Aufzeichnungen glaubt – und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln –, häufig krank gewesen sein. Die visionären Erlebnisse, die ihr erstmals in ihrem zwölften Lebensjahr begegnet waren, hörten nicht auf, und nach zeitweiliger Unterbrechung dieser Unio-Erfahrungen begann sie sie um 1250 aufzuzeichnen; dies tat sie auf Geheiß ihres dominikanischen Beichtvaters Heinrich von Halle, der sie aufforderte, das Buch Fließendes Licht der Gottheit als Offenbarungszeugnis eigenhändig zu schreiben. Wann genau Heinrich von Halle als Seelenführer ins Leben Mechthilds eintrat, lässt sich nicht bestimmen. Die Spiritualität der Beginen, der Mechthild in diesem Beginenhaus begegnete, war zuvor im brabantisch-lüttichen Raum und im Rheinland geprägt worden, wo in zahlreichen Städten Beginengemeinschaften entstanden waren. Die Spiritualität der Beginen war – soweit man das heute noch sagen kann, weil ihre Bibliotheken und ihre schriftlichen Aufzeichnungen kaum noch existieren – von einer intensiven, personalen Gottesliebe gekennzeichnet. Die großartigen mystischen Texte der niederländischen Begine Hadewijch im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts und der französischen Begine Margarete Porete, die 1310 als Ketzerin in Paris verbrannt wurde, sind aber ebenso wie Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit herausragende Einzelzeugnisse, die nicht als repräsentativ für die gesamte Literatur- und Geistes- sowie Glaubenswelt der Beginen verstanden werden dürfen.3 Sehr anschaulich beschreibt das Leben der Beginen im Erfurt der Jahre 1282–1284, also nur kurz nach der Zeit Mechthilds, der Erfurter Nicolaus von Bibra in seinem lateinischen Gedicht „Occultus Erfordensis“. Dabei kommen eingangs die Vorurteile der städtischen Bevölkerung ebenso zur Sprache wie die fromme und rechtschaffen-fleißige Lebensart der Beginen, dazu ihre emotional-gefühlsbetonte Frömmigkeit und die Entzückung im mystischen jubilus. Hier die deutsche Übersetzung:

Beginen gibt es dort in unendlicher Zahl; einige leben schlecht, andere von sich aus gut. Von diesen interessieren sich einige überhaupt nicht für schändliche und schmutzige Dinge, sondern sie ziehen es vor, zur Kirche zu gehen, Messen zu hören und reinen Herzens nach dem Ende der Messe zurückzukehren. So leben sie mit ruhigem Sinn wie Klosterfrauen; allerdings sind sie – wie ich sie einschätze – noch mehr zu rühmen als diejenigen, die hinter einem Schloß eingeschlossen werden, obwohl sie ohne sichtbares Zeichen und ohne viel Aufhebens Christus ihre Gelübde ablegen; mit Glaube, Liebe und Hoffnung im Herzen machen sie größere geistliche Fortschritte, als wenn sie dauernd irgendwo herumständen, laut sängen und dabei nur wenig Gutes im Sinn hätten. Jeden Tag geben sie nämlich reinen Herzens und zur Ehre Marias den Armen ein willkommenes Almosen. Sie fasten, wachen, spinnen Wolle zu Fäden und beweinen ihre Sünden. So arbeiten sie bei Tag und Nacht, vermeiden den Müßiggang und wirken Gutes. Gestern, heute und morgen hören sie nicht auf, den Beichtbrüdern ihre Sünden zu bekennen, und mit schlichten Worten und einem reichen Tränenstrom erzählen sie die Träume der Nacht und die Taten des Tages. Zwar nur selten, aber dennoch kommt es vor, daß einige von ihnen außer sich geführt oder entrissen werden, so daß sie Christus sehen; das Volk nennt dies ‚Jubel‘.4

Während ihrer Béguinage, die man sich etwa ähnlich vorzustellen hat, wie sie Nicolaus beschreibt, scheint Mechthild das Gesamtwerk, das eine lange Entstehungsgeschichte hat, in einer ersten Version bis zum Jahr 1260 bis zum Ende des Buches V geschrieben zu haben. Zwischen 1260 und 1270/71 dürfte dann das VI. Buch des Gesamtwerks entstanden sein, das wir nur in einer redigierten Form besitzen. Um 1270 wurde Mechthild dann als bereits alte, vermutlich auch (mindestens zum Teil) erblindete Frau in das Zisterzienserinnenkloster Helfta (Helpede) bei Eisleben aufgenommen, wo dann das VII. und letzte Buch ihres Werks entstand.

Damit ist zugleich e i n Höhepunkt, oder vielleicht d e r Höhepunkt, der sogenannten deutschen Frauenmystik markiert, der ins späte 13. Jahrhundert zu datieren ist und auf einen Ort, eben Helfta, konzentriert ist. Denn im sächsischen Zisterzienserinnenkloster Helfta begegnete Mechthild von Magdeburg in der Zeit um 1270 bis zu ihrem Tod um 1282 den beiden Visionärinnen Gertrud von Helfta (1256–1301/02) und Mechthild von Hackeborn (1241–1298), der Äbtissin des Klosters. Ihr neues unmittelbares Umfeld war literarisch außergewöhnlich fruchtbar. Dabei besonders hervorzuheben ist der Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn und der Legatus divinae pietatis Gertruds, der als botte der götlichen miltekeit auch ins Deutsche übersetzt wurde. Getrud von Helfta, die seit 1674 bei den Benediktinern und seit 1738 allgemein in der katholischen Kirche den Status einer Heiligen erhielt, hat gar als eine der wenigen Frauen in der Geschichte den Beinamen ‚die Große‘ erhalten. Gertruds Erfahrungen sind intensiv brautmystischer Natur: Jesusminne und klösterliche Liturgie dominieren bei ihr ähnlich wie bei Mechthild von Hackeborn in deren Liber specialis gratiae. Bei den beiden zisterziensischen Mystikerinnen in Helfta kann man von einer starken Herz-Jesu-Verehrung sprechen. Als Sitz des Gefühls steht das Herz für die allumfassende Liebe und Gnade Gottes.

 

Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg freilich ist – stärker als die Werke ihrer Mitschwestern – von hoher poetischer Kraft. Es wechselt zwischen Visionen, Meditationen, Gebeten, Allegorien und Lehrreden. Die bildhafte Sprache Mechthilds ist primär von Gefühlen und inneren Erlebnissen geprägt. Sie ist aber ohne Einbindung in die literarische Tradition nicht denkbar.

Diese gemeinsame literarische Tradition wurde in Helfta gebildet durch die allgemeine monastische und biblische Tradition, etwa Bernhards von Clairvaux oder der Hochzeitsmetaphorik des Hohen Liedes und des Neuen Testaments, wobei speziell der Psalter eine große Ausstrahlungskraft besitzt. „Mechthilds von Magdeburg Werk ist“, wie Alois Haas dies beschrieben hat,

um eine ganze Dimension reicher als die Werke ihrer Helftaer Mitschwestern. Diese betten nämlich ihre zahlreichen Visionen eigentlich erzählend in den klösterlichen Alltag, besonders in den liturgisch vorgegebenen Kontext ein, während bei Mechthild gerade das Episodenhafte in die direkte Konfrontation mit Gott übertritt. Das Moment der Erfahrung dominiert in jedem Fall über das erzählerischer Vergegenwärtigung und Relativität, so dass bei ihr die Kategorie des Lyrischen mit ihrer Faszination unmittelbarer Erfahrung die absolute Verbindlichkeit unreduzierbarer Sprache erhält.5

Mechthild genießt in dieser Zeit, zwischen 1270 bis zu ihrem Tod, jedenfalls auch eine gewisse Schutzfunktion des Klosters. Dort ist sie äußeren Anfeindungen nicht mehr so ausgesetzt wie sie es als Begine war. Nach neuester Forschung6 dürfte Mechthild von Magdeburg vermutlich um 1282, nach älterer Forschungsmeinung um 1294, in Helfta gestorben sein. Gertrud von Helfta hat im Legatus divinae pietatis das Sterben Mechthilds von Magdeburg in üblicher hagiographischer Überhöhung geschildert. In Gertruds Verbildlichung zeigt der Herr der sterbenden Mechthild das von ihr verfasste Buch als Trost.