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E N D E

Der Pfad des Schafs

Level 3

Ein Labyrinth aus Dächern und Balken. Treppen aus Holz und Stein führen auf zugige Türme und in feuchte Keller. Knöcheltiefer Schlamm wechselt sich ab mit edlen Teppichen, die jeden Schritt verschlucken.

Der Krieger stolpert zum ersten Mal, verfängt sich in dornigem Gestrüpp. Bedrohliches Knurren aus den Schatten, dann hat er sich befreit, wirbelt die Klingen, verjagt die Dämonen und schreitet voran. Tiefer hinein ins Dunkel, zum Herzen der Stadt.

Das einzige Licht in der winzigen Wohnung ging von dem Bildschirm aus, auf dem flackernde Videofragmente tanzten. In der Fensterscheibe spiegelten sich die Umrisse von mehreren Männern. Butterfly wich zurück, als sie die Schläger im Wohnzimmer erblickte. Doch zu spät, einer hatte sie bemerkt, griff sie am Arm und zerrte sie hinein.

Auf dem Boden lag Zed, im fast dunklen Raum kaum zu erkennen, sein Gesicht erschien grau im Licht des Screens. Alles wirkte uralt, dunkle Flecken bedeckten Zeds Gesicht an den falschen Stellen. Jemand schaltete eine Lampe an, die Flecken färbten sich rot, alles gewann an Farbe. Zed zitterte, seine Augen flackerten unruhig. Butterfly konnte die Pisse riechen, die seine Hose durchnässte. Sie selbst spürte kaum Angst, sie war wie betäubt. Ihr Blick huschte zum Versteck in der Küche – niemand hatte es bislang entdeckt.

Zwei der Männer schrien auf Zed ein, nannten irgendwelche Geldbeträge, schlugen ihn. Kraftlos hob er die Arme, versuchte, die Angriffe abzuwehren. Immer wieder fiel sein Kopf von einer Seite zu anderen. Der Kerl, der Butterfly mit eisernem Griff festhielt, fing jetzt an, an ihr rumzufummeln, während er mit breitem Grinsen die Prügelei anstarrte. Der war sicher auf Sniff. Zed hoffentlich auch, das würde zumindest seine Schmerzen lindern.

Es ging immer weiter, sie ließen nicht von ihm ab. Mit der Faust ins Gesicht, dass Blut aus der Nase schoss, mit den Füßen in den Bauch. Bis Butterfly es nicht mehr aushielt.

»Hört auf!«, schrie sie. Tu es nicht, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Doch Butterfly riss sich von dem Kerl los, der sie betatschte, und ging in die Küche. Tränen strömten jetzt unkontrolliert über ihr Gesicht. Sie zerrte an der Wandverkleidung, brach sie ab. Zwei Finger bluteten, als sie das Geld aus dem Fach zog und es den Schlägern vor die Füße warf. »Nehmt das und dann verpisst euch!« Schrie sie. Halb vor Zorn, halb vor Fassungslosigkeit über das, was sie gerade getan hatte.

Einer der Männer bückte sich und hob das Geld auf, ließ es im Inneren seiner Jacke verschwinden. Dann nickte er dem anderen kurz zu, musterte Butterfly noch einmal mit einem abschätzigen Blick. Endlich setzten sie sich in Bewegung und verließen die Wohnung.

Butterfly hockte sich neben Zed und weinte, boxte ihn, sprang auf, suchte Verbandszeug, nahm sein Terminal und warf es aus dem Fenster, verband ihn, weinte wieder, bis sie schließlich entkräftet auf dem Teppich neben ihm einschlief.

Level 4

Ein Teich unter steinernem Himmel, Moos leuchtet, das Wasser liegt still da. Acht Brücken, die hinüberführen, auf die Insel im Inneren. Einige zerfallen. Auf der Insel ein Wald, schlanke Stämme, dicht an dicht, die Äste eng miteinander verschlungen. Blasses Licht dringt aus dem Inneren des Waldes, kühl und starr.

Der Krieger zögert, bevor er vorsichtig die Brücke vor sich überquert. Steinbrocken fallen heraus und versinken im Wasser. Der Wald zeichnet verwirrende Muster mit seinen Schatten auf den Boden. Der Krieger lässt die Klingen wieder an ihren Platz auf seinem Rücken gleiten und tritt zwischen die Bäume, dem Licht entgegen.

Die Trennung von Zed fiel ihr plötzlich nicht mehr schwer. Ein paar Sachen packen und dann los. Die Angst, dass er sie suchen, finden und zurückschleppen würde, war weg. Eine neue, noch kleinere Wohnung, ein neues Versteck hinter den Küchenfliesen.

Mit den Suchern, die ihr Glück in den Trümmern des alten Netzes suchten, wollte sie nichts mehr zu tun haben. Immer mehr von ihnen starben dabei. Danny war nur einer von vielen gewesen. Schnell hatten sich Banden gebildet, die ein Überwachungsnetz eingerichtet hatten. Hacker, die aufspürten, wenn jemandem tatsächlich einmal etwas Wertvolles in die Hände fiel. Und Schläger, die es ihm schnell wieder abnahmen. Doch Butterfly kannte all das nur noch vom Hörensagen. Sie hielt den Kopf unten, suchte sich einen neuen Job und trainierte ihre Geduld. Niemand würde sie mehr schlagen, das hatte sie sich geschworen. Sie fügte sich in ihren Platz in der Welt, wartete ab und sparte eisern. Die kleine Future sollte es einmal besser haben als ihre Mutter. Dafür kämpfte sie, und dieser Kampf ging leise vonstatten. Schritt für Schritt.

E N D E


Friedensleere

Jan-Tobias Kitzel

Frank unterdrückte ein Gähnen und streckte sich. Die Metallstreben des Stuhls drückten in seine Seite. Klar, warum sollte er auch eine bequeme Sitzmöglichkeit gestellt bekommen? Schließlich wurde von ihm erwartet, die meiste Zeit die Gänge entlangzustreifen. Fürs Sitzen wurde er nicht bezahlt.

Eine Wartungsdrohne flog wenige Zentimeter über Franks Kopf hinweg und verschwand im Halbdunkel der riesigen Lagerhalle. Das elektrische Surren tausender Drohnen war neben dem beständigen Trommelfeuer des Regens auf dem Metalldach das einzige Geräusch, das Franks Nachtwache begleitete. Er nahm die Füße vom abgewetzten Tisch und legte stattdessen das zerfledderte Taschenbuch dort ab. Wie gerne hätte er sich eine neue Folge »Paradise 24« reingezogen. Aber die Überwachungstechnik bekam mit, wenn er in die VR ging. Für altmodische Bücher auf Papier hingegen war sie blind. Frank rieb sich schmunzelnd den schmerzenden Rücken. Dieser Job machte ihn zu einem der wenigen Menschen auf Erden, der noch Bücher auf echtem Papier las.

Langsam stand er auf, nahm noch einen Schluck Kaffee aus seinem Thermobecher, stellte ihn wieder auf den Tisch zu unzähligen Kaffeeflecken, die aus dem uralten Möbel ein modernes Kunstwerk machten. Dann zog er die Taschenlampe aus dem Gürtel und ging langsam den Hauptgang der Lagerhalle entlang. Zwei Putzdrohnen saugten fast lautlos Staub von einer der Aufbewahrungseinheiten. Ohne ihre emsige Arbeit wäre hier alles voller Dreck gewesen.

Er wusste noch, wie es hier vor dem Gesetz ausgesehen hatte, bevor die Regierung so gut wie jedes freie Depot für ihre Zwecke übernommen hatte. Er war schon früher Wachmann in dieser Einrichtung gewesen. Eine schöne Zeit. Die ganze Schicht über hatte er seine Serien in der VR erleben können. Für die hier damals gelagerten Trockennahrungsmittel in riesigen Kanistern hatte sich kaum einer interessiert. Ab und zu mal ein paar Lausbuben, die einen auf Mutprobe machen wollten. Und einmal am Tag Lieferung und Abholung. Das war es schon gewesen. Aber jetzt war richtig Betrieb! Frank schnaufte wehmütig und lief den Gang weiter herunter.

Der Strahl der Taschenlampe fiel auf die Aufbewahrungseinheiten. Ihre heruntergedimmten Displays waren die einzigen Lichtquellen und ließen das Lagerhaus wirken, als ob sich tausende Glühwürmer ordentlich in Reih und Glied niedergelassen hätten. Am Anfang – kurz nach dem Gesetz – hatte sich Frank noch geschworen, seine Arbeit hier bald zu beenden. Er hatte sie nicht mehr gemocht. Die Ruhe war weg gewesen. Die neuen Herren hatten ständiges Patrouillieren gewünscht. Dabei machten die Drohnen ihre Sache so gut – wenn Frank einmal im Monat einen Techniker rufen musste, war das schon viel. Die Perimeterdrohnen hielten außerdem alle Neugierigen fern. Nur die Lieferungen kamen viel häufiger als früher. Jeden Tag mindestens drei, manchmal bis zu zehn. Das Gesetz funktionierte gut. Aber selbst dafür wurde er nicht benötigt, die Anlieferung erfolgte vollautomatisch, die Drohnen übernahmen alle Arbeiten. Es war sterbenslangweilig.

Dann hatte er herausgefunden, wo die neu installierte Überwachungstechnik ihre Lücken hatte. Sie konnte zwar feststellen, wenn er nicht regelmäßig seinen Rundgang machte. Aber nicht, was er dazwischen tat, solange keine Technik im Spiel war. Also hatte er sich eine altertümliche Leselampe auf dem Flohmarkt besorgt, die man sich mit einem Band vor die Stirn binden konnte. Eigentlich war sie wohl mal unter Tage im Einsatz gewesen. Aber ihr früherer Besitzer hatte wohl nichts dagegen, dass ihr Schein mittlerweile auf Reihen von Wörtern fiel. Er hatte mit billigen Groschenromanen begonnen, die es auf den Flohmärkten kiloweise gab. Doch seit einigen Monaten war er, was Papierbücher anging, zum Feinschmecker geworden. Derzeit las er »Die Straße«, eine gut hundert Jahre alte Endzeitgeschichte, die damals einige Preise abgeräumt hatte. Gutes Buch, für seinen Geschmack fast etwas zu düster. Da lebte er doch lieber im Hier und Jetzt, wo alles seine Ordnung hatte. Insbesondere nach dem Gesetz.

Frank beobachtete eine Reinigungsdrohne, die in stoischer Ruhe eine Aufbewahrungseinheit wienerte. Im Schein seiner Taschenlampe konnte sich Frank darin spiegeln sehen. Tausende der Einheiten stapelten sich neben- und übereinander in der Lagerhalle mit den Ausmaßen eines Flugplatzes. Man konnte sich hier drin sehr klein vorkommen. Frank ging weiter. Seine Schritte hallten durch die Leere.

Toldo duckte sich in den Busch. Blätter kratzten auf seinen Wangen, ein aufgeschrecktes Insekt schwirrte davon. Der Duft nach Moos und Erde lag in der Frühlingsluft. Tobias sog sie ein, füllte seine Lungen. So sollte ein Mann sich fühlen. Lebendig. Bereit, sein Schicksal anzunehmen. Der Sommer war gut zu ihnen gewesen. Die Bäuche stets gefüllt, die Jäger hatten reiche Beute gemacht. Und nun war es an ihm, eine Trophäe nach Hause zu bringen, die dem Häuptling gefallen würde. Die ihm zeigte, dass aus Toldo in den letzten Monaten ein echter Mann geworden war. Einer, der es wert war, die Häuptlingstochter zur Frau zu nehmen. Allein der Gedanke an Sira genügte, um ihn mit einem Gefühl des Glücks zu erfüllen.

 

Toldo verharrte im Busch. Die Lichtung lag vor ihm. Er hatte sie in den letzten Tagen ausgekundschaftet. Eine Quelle entsprang an einem großen Stein mitten auf der Fläche und breitete sich als schmaler Fluss in Richtung der Ebenen aus. Die Koljaks kamen jeden Mittag her, kurz bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte und die Luft in flüssiges Feuer verwandelte. Sie tranken sich ihre drei Mägen voll, bevor sie sich in den kühlen Schatten des Waldes verkrochen, um die nächsten Stunden in der Dämmerung ihrer Träume zu verbringen.

Toldo merkte, wie die Nackenmuskeln ob der Hocke zu krampfen begannen. Er ignorierte es ebenso wie das wachsende Gewicht des Speers in seiner Hand. So, wie die Alten es ihm gezeigt hatten in den Jahren der Jagd. Die Sinne nur auf das Ziel, der Körper weit weg. Er war nur eine Waffe aus Fleisch und Blut.

Die Zeit verstrich. Ein Pelzwurm kroch über seinen nackten Fußrücken. Toldo schaute zu ihm herunter und schenkte dem Kleinen ein Lächeln. Pelzwürmer galten als Glücksbringer, wenn sie von sich aus die Nähe des Menschen suchten. Sollte heute sein Traum in Erfüllung gehen? Das Jahr war gut zu ihm gewesen.

Ein Knacksen. Dann noch eins. Toldo schaute hoch. Ein Koljak verließ auf der gegenüberliegenden Seite den Wald. Das silberne Geweih war klein. Ein Jung-Koljak, vielleicht drei Jahre alt. Ein älteres Weibchen kam hinter ihm aus dem Dickicht, streckte den Kopf in die Höhe und prüfte die Luft. Toldo wagte keine Bewegung. Aber sein Versteck war gut gewählt. Die Koljaks witterten ihn nicht. Langsam trotteten sie auf die offene Fläche, näherten sich dem kühlen Nass. Wo blieb der Alpha? Toldo atmete so flach wie möglich, verschmolz mit dem Blätterwerk um ihn herum. Ein Schwarm Vögel flog über sie hinweg. Sie waren zu hoch, um sie zu erkennen, aber ihr vielstimmiger Singsang klang bis zu ihnen hinunter. Toldo hörte es und musste automatisch an Siras wunderschöne Stimme denken. Wenn sie lachte, war er mit ihr in einer eigenen Welt, nichts anderes existierte dann mehr.

Plötzlich eine Erschütterung direkt hinter ihm. Toldo fuhr herum, glitt auf dem moosigen Untergrund aus und fiel aus dem Busch heraus, auf den Rücken. Ein Koljak. Nein, nicht irgendeiner. Der Koljak. Der Alpha! Die Sonnenstrahlen spiegelten sich im Silber seines Geweihs. Selbst die dunkelste Nacht war hell gegen das Schwarz seines Fells. Doch nichts davon war so imposant wie die strahlend grünen Augen. Die leider direkt auf Toldo gerichtet waren. Die Reflexe gewannen Oberhand, die Welt verblasste. Mit einem Sprung war Toldo auf den Füßen. Der Alpha folgte ihm mit seinem Blick. Selbst im Stehen kam ihm das Tier riesig vor, Toldos Kopf war kaum auf Brusthöhe.

Mit einem einzigen Hieb der Hufe konnte ein ausgewachsener Koljak einen Mann schwer verletzen. Aber das hier war nicht irgendein Koljak. Es war der Koljak. Der Alpha. Er hatte Toldo bemerkt. Dieser ihn leider zu spät. Ein Kampf war unausweichlich. Tod oder Sira. Es gab nichts dazwischen. Toldo schaltete das bewusste Denken ab, wie er es gelernt hatte. Er sprang, ehe der Alpha ihn endgültig als Gefahr einordnen konnte. Toldo stieß den Speer im Sprung vorwärts. Doch dieser Koljak war alt. Älter als der weiseste Mann seines Stammes. Er hatte Zeiten kommen und gehen gesehen. Winter war auf Sommer gefolgt, ein nicht enden wollender Strom.

Der Alpha machte nur eine einzige, kleine Bewegung zur Seite, doch sie ließ Toldos Speerangriff ins Leere stoßen, sein Sprung ging direkt an ihm vorbei. Der Jäger rollte ab, drehte sich wieder zum Tier, wollte gerade wieder angreifen, da übernahm der Koljak die Initiative. Der Alpha warf den Kopf in den Nacken, sein Röhren vibrierte in Toldos Brustkorb. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte der Alpha seinen Platz in dieser Welt klargemacht. Er war immer hier gewesen. Und wollte es bleiben. Toldo kämpfte nicht gegen ein Tier. Er kämpfte gegen die Zeit an sich. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Der Alpha senkte das Geweih, stürmte vorwärts. Toldo rammte seinen Fuß in die Erde, nahm alle Kraft zusammen, ließ die Muskeln explodieren und sprang vorwärts. Hölzerner Speer. Silbernes Geweih. Eines von beiden würde gleich Leben nehmen.

Ruth rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Emily müsste gleich dran sein. Der in der Schulaula-Atmosphäre beständig vor sich hin schwitzende Mann neben ihr hielt seine Kamera ein Stück höher, damit sie die Bühne besser erfasste. Die noch etwas dickere Frau neben ihm klopfte aufgeregt auf seine Schulter.

»Da ist sie!«

Offenbar war ein Kind gemeint, dass gerade als Erbse verkleidet am Rand der Schulaufführung seinen Part hatte. Die dazu passende Kindermusik kratzte aus altersschwachen Lautsprechern durch die stickige Luft.

Ruth hätte dennoch an keinem anderen Ort der Erde sein wollen. Die Musik verklang, und Dutzende standen auf, spendeten ihren Kindern Beifall, die teilweise unbeholfen in ihren Gemüse-Kostümen die Bühne verließen.

Der Direktor im schlecht sitzenden Anzug trat auf die Bühne, nahm das Mikrofon und kündigte als Abschluss dieses laut seinen Worten gelungenen Abends den Auftritt des Schulorchesters an.

Ruth lächelte.

Das Orchester betrat die Bühne, stellte Notenständer auf, trug Instrumente herein. Die drei Sänger stellten sich vor die Musiker. Ruth hatte nur Augen für das blonde Mädchen in der Mitte. In ihrem weißen Kleid wirkte Emily ein paar Zentimeter größer, fast schon wie elf und nicht mehr »nur« zehn Jahre alt, wie sie nicht müde wurde zu betonen.

Ruths Herz machte einen Sprung, und sie musste eine Träne unterdrücken, als die Musik begann. Mehr schlecht als recht fügten sich die einzelnen Instrumente zu einem Lied zusammen. Doch es war ihr völlig egal, ihr Blick war allein auf das kleine Mädchen gerichtet. Auch die beiden Jungs neben ihr, die Emily um gut einen Kopf überragten und auf ihre Gesangseinlage warteten, ignorierte sie.

Das Lied hatte die Einleitung hinter sich gelassen, die Sänger stimmten ein. Irgendetwas Patriotisches rund um ihr Fleckchen Erde, was Ruth kaum gleichgültiger hätte sein können. Seitdem die Ärzte ihr vor einem Jahr gesagt hatten, dass sie noch rund achtzehn Monate leben würde, galt alle Kraft ihrer Enkelin. Ihrer einzigen Enkelin. Die letzten elf Monate hatte sie so intensiv er- und gelebt, wie nie zuvor. Sie sog jeden Moment auf, presste ihn in ihre Seele, sodass sie sich selbst in der Unendlichkeit daran erinnern konnte.

Emilys Solo! Die beiden Jungs verstummten, und Emilys helle Kinderstimme erfüllte den Saal. Der Gesang war gut, die meisten Töne traf sie. Ruth konnte nicht mehr. Tränen liefen ihr die Wange hinunter, und sie schämte sich nicht dafür. Die letzten Wochen hatten sie jeden Tag für diesen Abend geübt. Es war eine wundervolle Zeit gewesen. Die Ouvertüre ihres Endes. Ein altes Leben ging glückserfüllt zu Ende. Und ein junges machte sich gerade erst daran, die nächsten Schritte zu gehen.

Das Lied war vorbei. Ruth stand auf, applaudierte so fest, dass ihre Hände schmerzten. Sie jubelte, rief Emilys Namen. Ihre Enkelin sah sie und winkte zurück. Der Abend hätte besser nicht sein können. Wie so viele in den letzten Monaten. Dieser Moment war der lebendigste seit der Diagnose. Im nunmehr fast verstrichenen Jahr hatte sie mehr Glück erfahren dürfen, als sie zu träumen gewagt hätte.

Mark gab der vor ihm aufstöhnenden Rothaarigen einen Klaps auf den nackten Arsch. Sie drehte sich um und warf ihm einen Blick zu, der ihn noch fester zustoßen ließ. Die Frau zuckte lustvoll und ging in seinem Rhythmus mit. Schneller, immer schneller. Schweiß tropfte von seiner Stirn auf den wunderschönen Rücken der Endzwanzigerin. Die Frau kreischte genau in dem Moment im Höhepunkt auf, als auch er kam. Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit der Lust, dann sanken sie auf das zerwühlte Bett in der Luxuskabine des Kreuzfahrtschiffs. Die Rothaarige – Melissa? Melinda? Irgendwie so was – gab ihm einen Kuss auf die Wange und lächelte ihn anerkennend an, bevor sie aufstand und ins unanständig große Bad hüpfte. Durch die Glasscheibe konnte er sehen, wie sie unter die Dusche ging. Das Wasser floss über ihren makellosen Körper. Mark schaute an sich herunter. Man mochte ihn kaum für Anfang vierzig halten, dem Geld sei Dank.

Sein Blick schweifte durch die Kabine. Er hörte das Meer durch die geöffnete Schiebetür seines Außenbalkons, roch die salzige Luft, unterlegt mit dem Duft nach Sex. Mark streckte sich im Bett aus, wodurch eine leere Champagnerflasche von der Matratze rollte. Was ein Lottogewinn so alles verändern konnte. Vor ein paar Monaten war er noch dabei abzustürzen. Job weg. Freundin ebenfalls. Die Wohnung würde bald folgen. Dann kam das große Glück. Ein nebenher ausgefüllter Lottoschein an einer Tankstelle war der Schlüssel gewesen. Seitdem ähnelte sein Leben einem einzigen Traum. Dank Personal Trainer und ein paar Operationen hätte ihn keiner seiner alten Freunde mehr wiedererkannt – falls er den Kontakt gehalten hätte. Aber dazu hatte er gar keine Lust gehabt. Mit dem Geld kamen neue Menschen in sein Leben. Dass sie es größtenteils nur darauf abgesehen hatten, war ihm egal. Das machte es ihm leichter, sie im schnellen Rhythmus wieder auszutauschen. Mark stand auf, nahm eine Champagnerflasche aus einem Kühler, legte sie an den Mund und nahm einen Schluck. Das teure Nass kribbelte in der Nase. Eigentlich machte er sich nichts aus dem Zeug. Aber es passte einfach so gut zu seinem neuen Leben! Er stellte sich an die geöffnete Schiebetür, ließ die Meeresbrise über seinen nackten Körper streichen. Die Duschgeräusche hinter ihm verstummten, zwei Atemzüge später klopfte es an der Tür. Seine Lebens-sehr-kurz-Abschnittsgefährtin verließ das Bad und öffnete im Bademantel die Tür. Eine Frau trat ein, ebenfalls nur mit einem Bademantel bekleidet, den sie sofort nach Verschließen der Tür von ihrem Körper gleiten ließ. Unter ihrer rassig schwarzen Mähne offenbarte sich ein Körper, wie ihn ein Bildhauer nicht besser hinbekommen hätte. Perfekte Proportionen.

Die frisch Geduschte ging an dem Neuankömmling vorbei, stellte sich neben Mark und hauchte ihm ins Ohr: »Das ist Mia. Ich hab sie heute an der Bar getroffen. Du hattest doch gesagt, du wolltest mal einen Dreier ausprobieren?« Sie gab ihm einen Kuss auf den Hals und ließ ihre Hand in Richtung seines Schwanzes gleiten.

»Sieh es als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk!«

Mark stöhnte auf, als ihre Hand das Ziel erreichte. Die Schwarzhaarige kam näher und ging ohne irgendein Wort der Begrüßung gleich vor ihm auf die Knie.

Was war er doch für ein glücklicher Mann!

Dereks Herz pumpte bis zum Anschlag. Seine Beine flogen nur so über den rissigen Asphalt des Hinterhofs. Das Gewicht der Dienstpistole in der Rechten verdoppelte sich alle paar Sekunden, doch er gab nicht auf.

»Stehen bleiben!«, rief er dem flüchtenden Kerl im Kapuzenpulli zu, der den Hinterhof hinter sich ließ und mit einem viel zu einfach aussehenden Wandsprung über den Maschendrahtzaun zum Parkplatz sprang. Keine Reaktion auf die Aufforderung, stattdessen vergrößerte der Mistkerl den Abstand.

Derek fluchte, zog eine Mülltonne heran und kletterte mit ihrer Hilfe ebenfalls über den Zaun. Sein Trenchcoat verfing sich, und Derek fluchte, als er bei der Landung das reißende Geräusch hörte. Sein Mantel! Ein Lieblingsstück, das er vor ein paar Jahren auf dem Trödel erspäht hatte und ihm treue Dienste in den Jahren beim Department geleistet hatte. Er würde den Kerl fertigmachen!

Der Flüchtige jagte gerade zwischen geparkten Autos hindurch. Eine alte Dame auf der Suche nach einem freien Platz musste in die Eisen steigen, um ihn nicht zu überfahren. Der Kerl schlug wütend auf die Motorhaube und rannte weiter. Derek schaute sich um. Wenn er außenrum lief, konnte er den Mann vielleicht am Ausgang des Parkplatzes abfangen. Bis dahin mochte auch die Verstärkung endlich da sein. Solange die ihm nicht in die Quere kam! Er hatte den Gesuchten auf der Straße erkannt. Eine hässliche Doppelmordgeschichte aus Eifersucht, Freundin und bester Freund. Beide mit so vielen Einschusslöchern, dass der Kerl dabei wohl nachgeladen hatte. Das war eine Hinrichtung gewesen! Und der spazierte ihm, Derek, am helllichten Tag vor die Flinte. Das wäre seine dritte Sensationsverhaftung in kürzester Zeit. Die letzten Monate häuften sich seine Erfolge. Dabei machte er nichts anders als früher. Trotzdem war er die Karriereleiter zuletzt nur so emporgestürmt!

 

Derek rannte außen am Parkplatz entlang. Er konnte den Kopf des Flüchtigen immer mal wieder zwischen geparkten Fahrzeugen sehen. Der würde ihm nicht entgehen! Derek war am Ausgang angelangt. Zeitgleich hielten zwei Fahrzeuge des Departments mit Blaulicht und quietschenden Reifen auf der Straße und blockierten sie in beide Richtungen. Derek gab den Kollegen von der Streife die Anweisung, sich rund um den Zaun zu positionieren. Jetzt saß der Kerl in der Falle!

Derek fasste seine Dienstpistole noch fester und ging durch die Ausfahrt wieder auf den Parkplatz. Der Gesuchte musste irgendwo in der Mitte sein. Derek nutzte die geparkten Fahrzeuge als Deckung und arbeitete sich langsam vor. Plötzlich eine Bewegung zu seiner Rechten. Derek duckte sich, und im selben Moment zerbarst die Scheibe eines Jeeps hinter ihm unter mehreren Kugeln.

»Gib endlich auf, du sitzt in der Falle!« Derek glaubte nicht, dass der Idiot sich davon überzeugen ließ. Aber es machte sich immer gut, falls irgendein Amateur auf der Straße seine Kamera auf die Szene richtete. In den Nachrichten musste man gut aussehen!

Statt einer Antwort schlugen weitere Kugeln in das Fahrzeug hinter Derek ein. Ein Querschläger traf auf den Asphalt und ließ Splitter gegen Dereks Hose prallen.

Derek lugte hinter der Deckung vor und zog sofort den Kopf ein. Der Flüchtige hatte sich hinter einem Van verkrochen. Dereks Gedanken rasten. Da fiel sein Blick auf eine zertretene Limo-Dose am Boden und ein Detail aus der Akte des Gesuchten kam hoch. Militärhintergrund. Mal schauen, was er daraus machen konnte. Derek nahm die klebrige Dose in die Linke, holte aus und schleuderte sie im hohen Bogen über seine Deckung und den Van hinweg.

»Granate!«, rief er aus vollem Hals.

Die in Monaten der Ausbildung gestählten Reflexe des ehemaligen Soldaten reagierten blind, und er warf sich zur Seite. Sofort sprang Derek aus der Deckung, überbrückte die Entfernung mit mehreren Schritten. Da riss der Kerl seine Waffe hoch. Derek trat im Lauf zu, der Schuh traf die Waffenhand, die Pistole flog in hohem Bogen davon, und zufrieden hörte er das Geräusch brechender Knochen. Der Mann jaulte auf und zog die Hand schützend an sich. Derek packte ihn an der Schulter, drehte den Arm mit einem Griff auf den Rücken, und die Handschellen klickten. Er achtete darauf, das gebrochene Handgelenk so fest zu schnüren, wie er konnte. Das Jaulen des Mörders war Musik in den Ohren. Das war für den Trenchcoat!

Mehrere Polizisten näherten sich. Der Polizeipräsident samt Eskorte? Was machte der denn hier? Derek nahm Haltung an, während zwei Jungs von der Streife den vor Schmerzen Schreienden hochhievten und zu ihrem Fahrzeug führten.

Der Polizeipräsident kam näher, und Derek konnte die Zufriedenheit in den faltigen Zügen sehen.

»Ich war gerade in der Gegend, als die Nachricht Ihrer geglückten Verfolgungsjagd über den Funk kam. Da wollte ich es mir nicht entgehen lassen, Sie persönlich zu beglückwünschen. Ich hab in den letzten Monaten so viel über Sie gehört, da war es überfällig, Ihnen mal persönlich zu begegnen.«

Derek ergriff die ausgestreckte Hand und schüttelte sie. Der Polizeipräsident berührte ihn mit einer väterlichen Geste an der Schulter.

»Melden Sie sich Montag früh in meinem Büro. Ich plane, eine neue Abteilung aufzubauen, und mit Ihnen hab ich genau den Richtigen für den Job des Leiters gefunden!«

Derek strahlte über das ganze Gesicht. Er war noch nie so glücklich gewesen.

Frank richtete die Taschenlampe nach oben. Der Strahl strich über ein Dutzend Versorgungsdrohnen, die mehrere Aufbewahrungseinheiten befüllten. Sie umschwirrten einander in perfekter Harmonie, ihre metallenen Körper wirkten, als ob sie tanzen würden. Frank mochte ihr Treiben. Es war in sich stimmig. Und dabei so effizient wie leise. Das Gesetz hatte ihnen allen diese Harmonie verschafft. Es hatte Chaos durch Ordnung ersetzt und jedem eine Perspektive gegeben.

Bei einer Aufbewahrungseinheit im Parallelgang wechselte das Display am Kopfteil von Hellgrün zu Rot. Frank schauderte, aber er machte sich trotzdem auf den Weg. Es gehörte zu seinem Job. Wenn er auf einer Patrouille ein rotes Licht sah, sollte er nachschauen, ob die Drohnen ihre notwendige Arbeit richtig taten. Also weiterhin sauber und effizient. Aber auch mit so viel Würde und Pietät, wie ihnen einprogrammiert worden war. Das Gesetz war in der Wahrnehmung der Gesellschaft seit seiner Einführung vor mehr als zwanzig Jahren ein stetig wachsender Erfolg. Nichtsdestotrotz konnten Restzweifel bleiben. Und die wenigen menschlichen Wächter im Programm sollten ein Auge darauf haben, dass es zu keinen Ereignissen kam, die diesen Zweifeln Futter geben konnten.

Frank erreichte die Aufbewahrungseinheit. Bodenebene. Wenigstens etwas, er musste keine Leiter hochklettern. Die Einheiten reichten bis zur Decke. Und er war nicht sonderlich schwindelfrei.

Zwei Drohnen kamen bereits herangeflogen, eine dritte folgte Sekunden später. Alle hielten etwas Abstand von der gut zweieinhalb Meter langen Einheit, deren Display langsam zu pulsieren begann. Es stand kurz bevor. Frank sah den Timer auf dem Bildschirm und zählte unterbewusst mit. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Bei null beendete die Aufbewahrungseinheit zischend ihre Versiegelung. Die Seite klappte auf und die Liege wurde zum Gang hin auf Schienen ausgefahren. Erleichtert sah Frank, dass die Frau alt war. Bei den Jungen fiel es ihm immer etwas schwer, das Ende ihres gesetzlichen Glücksjahrs mit anzusehen. Aber bei einer Alten. Das war fast ... perfekt. Die Drohnen hielten weiter Abstand. Die Schläuche, die an mehreren Stellen im nackten Körper der Frau verschwanden, hoben und senkten sich im Rhythmus ihres schwächer werdenden Atmens. Frank achtete auf die Zeichen ihres früheren Lebens, bevor sie das Gesetz in Anspruch genommen hatte. War sie eine Obdachlose gewesen? Drogenabhängig? Zu lange arbeitslos? Oder einfach nur alt und alleine, ohne Kinder oder andere Verwandte, die sich um sie kümmerten? Der Körper sah gut in Schuss aus. Etwas eingefallen, aber es gab keine Anzeichen früherer Probleme. Keine Deformationen wie bei den zum Glücksjahr gezwungenen Behinderten. Auch keine Einstichlöcher an allen denkbaren Stellen wie bei den Drogenopfern. Sie waren die Ersten gewesen, die sich erst zu Tausenden, dann Zehntausenden freiwillig meldeten, um ihr Glücksjahr in Anspruch zu nehmen.

Letztlich war es nur ein Spiel. Ein Virtual-Reality-Spiel. Völlig kostenlos. Aber seine drei Bedingungen oder Regeln waren in ihrer Perfektion einzigartig. Erstens: Du weißt nicht, dass du spielst. Die VR mitsamt den Drogen überzeugte dich davon, dass alles real war.

Zweitens: Es ist dein Spiel. Dein persönlicher Weg zum Glück. Und du definierst die Einsätze, sprich, was dieses simple Wort »Glück« für dich bedeutet. Liebe. Geld. Sex. Das Nacherleben deines Lieblingsmärchens. Völlig egal, die Programmierer bekamen es hin.

Drittens: Du musst dein Spiel nicht bezahlen, jeder kann es sich leisten. Du bezahlst es damit, dass du dich aus der Gesellschaft verabschiedest. Deinen kranken, arbeitslosen, deformierten oder sonstwie nutzlosen Körper aus der nun perfekten Gesellschaft entfernst. Dafür hast du ein Jahr Glück verdient. Jede Sekunde pures Glück. Dann ein zwar plötzliches, aber völlig schmerzloses Ende.

Frank sah, wie der Atem der Spielerin immer weiter abflachte. Das Gift wirkte.

Es kam der Moment, den ein Wächterkollege mal »Den Blick hinter den Vorhang« genannt hatte. Das Gift hatte eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, von der die Massen nichts wussten. In den letzten Sekunden hob es die Muskellähmung auf, in denen die Spieler sonst das Jahr über gehalten wurden, damit die VR ihr Hirn vom selbstgewählten Glück überzeugen konnte. In diesen Sekunden tat der Körper das, was auch im Spiel gerade passierte.