Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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3.2 Transdifferenz

Ich möchte hier einen für diesen Zusammenhang neuen Begriff einführen: Transdifferenz. Zur Klärung von Missverständnissen scheint er mir hilfreich zu sein. Transdifferenz meint dasselbe wie schöpferische Indifferenz, schließt aber ein Missverständnis aus. Indifferent, ohne Unterschied, kann einfach mit identisch gleichgesetzt werden. Indifferenz ist dann einfach Identität. Das jedoch meint Friedlaender mit seiner schöpferischen Indifferenz gerade nicht. Der Tag kann im Gegensatz zur Nacht verstanden werden oder als das Ganze von 24 Stunden, das Tag und Nacht umfasst. Im zweiten Sinne ist die schöpferische Indifferenz zu verstehen und nicht im Sinn der indifferenten Identität im Gegensatz zum Differenten. Friedlaender geht es darum, dass in der schöpferischen Indifferenz das fundamentale, allerallgemeinste Merkmal aller Phänomene nicht ausgelöscht und eliminiert wird, sondern transzendiert und überstiegen: die Differenz, der Unterschied. Das drückt Transdifferenz aus. Transdifferenz bedeutet eben jenes Paradoxe, den unterscheidenden Intellekt Übersteigende, »sich durch Ununterschiedenheit unterscheiden«. Die wörtlich-logisch deutsche Entsprechung wäre Überunterschiedlichkeit. Das klingt reichlich holperig, trifft aber den Punkt. Das »Überunter« lässt an den »Fernnahen«, das »überhelle Dunkel«, das »stille Geschrei« denken, paradoxe Wortverbindungen, die in der Mystik die Transzendenz Gottes zum Ausdruck bringen, indem sie durch das Verschweißen von polar gegensätzlichen Aspekten auf das hinweisen, was die Gegensätze übersteigt oder ihnen zu Grunde liegt und sich dem sprachlichen Begriff entzieht. Die Sprache »zerspricht das polar Selbe«, bringt Friedlaender (GS 10, 189) es auf den Punkt.

Der Grund ist in meinem Verständnis transdifferent, er unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Schöpferische Indifferenz, Transdifferenz und Grund werden von mir synonym gebraucht.

Wissenschaftlich wird der Begriff Transdifferenz seit 2001 im Kontext kulturtheoretischer Konzepte verwendet (Allolio-Näcke / Kalscheuer / Manzeschke 2005). Ob sich mit dem hier vertretenen Verständnis von Transdifferenz Berührungspunkte oder Schnittmengen ergeben, müsste untersucht werden.

3.3 Zauberwort Mitte

Warum ist Mitte ein Zauberwort? Das möchte ich möchte mit Überlegungen erklären, die von Friedlaender inspiriert sind.

3.3.1 Die Mitte von Linie, Fläche und Raum

Ein Kreis auf einer Fläche mit einem Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt markiert die Mitte, genauer, er weist auf sie hin. Denn wenn wir ihn näher ansehen, mit einer Lupe oder gar mit einem Mikroskop, dann stellt sich der Mittelpunkt immer wieder als eine Fläche dar, die wiederum selbst eine Mitte hat. Kurz, ganz genau betrachtet und streng genommen ist die Mitte ein Nicht-Ort, griechisch »ou topos«, eine Utopie. Mitte auf der Linie, auf der Fläche, im Raum ist kein Phänomen, sondern eine Verhältnisbestimmung zwischen mindestens zwei Extremen, die dadurch in ein ausbalanciert polar gleiches Verhältnis kommen und distanzlos, flächenlos, raumlos durch nichts getrennt aneinandergrenzen.


3.3.2 Die Mitte der Zeit

Gehen wir von der Mitte auf der Fläche oder im Raum zur Mitte der Zeit.7 Das ist (nicht nur) nach Friedlaenders Verständnis die Gegenwart, das Jetzt. Vergangenheit und Zukunft sind die Pole und das Jetzt ist die Mitte. Bei der Messung der Zeit werden sprachlich räumliche Begriffe verwendet, wie Zeitraum, Zeitabstand, Zeitspanne oder Zeitpunkt. Darum lässt sich das Verständnis der Mitte aus den Kategorien des Raumes auch anschaulich auf die Zeit übertragen. Doch lassen wir wieder Friedlaender zu Wort kommen. Er macht den Zusammenhang am deutschen Wort »einst« deutlich, das polar doppeldeutig ist: »Es war einst …« und »Es wird einst …« Ferne Vergangenheit und ferne Zukunft in einem Wort! »So erweist sich die Zeit als Magneten mit polarem Einst und der Indifferenz Jetzt; analog der Raum als Hüben & Drüben und Hier.« (F/K 1986, 229)

Suchen wir nach der Mitte einer Zeitspanne, so kann man sich das vorstellen wie das Bestimmen der Mitte einer Linie. Wie die markierte Mitte einer Linie beim genauen Hinsehen immer noch eine Ausdehnung, sprich Länge, hat, für die man die Mitte suchen kann, so auch bei der Zeit. Das Jetzt als Zeitmittelpunkt ist immer weiter zu unterteilen in Nanosekunden (eine milliardstel Sekunde) bis zu Attosekunden, den kleinsten heute messbaren Zeiteinheiten. Auch hier ist das Jetzt als Mitte letzten Endes kein messbares Phänomen, sondern das genau polar balancierte Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. »Der Augenblick ist dem Menschen nicht als ein ›Zeitpunkt‹ gegeben, ebensowenig als eine abgrenzbare ›Zeitspanne‹, sondern als etwas, das nicht auf einer reellen Koordinate abgemessen wird«, konstatiert Carl Friedrich v. Weizsäcker (1988, 373), der sich als Physiker und Philosoph auch mit Religion, Mystik und Meditation (1992) befasste. Das Jetzt ist die Zentrierung der Zeit, die Zeitindifferenz. Es ist Nichts. Nicht messbar, nicht greifbar. Darauf beziehe ich die berühmte Antwort von Augustinus aus seinen Confessiones im 14. Kapitel auf die Frage, was die Zeit sei: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiß ich es nicht.«

Wenn wir ganz im Jetzt zentriert sind, dann treten wir gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, der Chronos-Zeit, heraus und der Kairos tritt ein, um es mit Bezug auf zwei mythische Gestalten des griechischen Götterpantheons auszudrücken. Chronos, meist als ernster alter Mann dargestellt, repräsentiert die unerbittlich vergehende, objektiv messbare, lineare Zeit. Kairos, in Gestalt eines jungen Mannes mit Flügelschuhen und wehender Stirnlocke, repräsentiert den erfüllten Augenblick, den es beim Schopf zu packen gilt, die Zeit, die im Nu vergeht. Mit Chronos und Kairos werden zwei Zeitqualitäten unterschieden. Und das Wesentliche des Kairos ist die Zentrierung im Jetzt.

Das volle Erfahren der Gegenwart befreit gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, die offene Zukunft zu Vergangenheit erstarren lässt. In der Zentrierung im Jetzt erfahren wir die Freiheit von der Zeit, Zeitfreiheit oder einfach Freizeit. Das ist die Freizeit, nach der wir uns zutiefst sehnen, auch wenn uns das meist nicht so bewusst ist: Freizeit, garantiert ohne Freizeit-Stress und ohne Langeweile.

»Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt«, ist bei Ludwig Wittgenstein zu lesen (Tractatus logico-philosophicus, 6.4311). Und der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich schreibt: »Vergangenheit und Zukunft treffen in der Gegenwart zusammen und beide sind im ›Ewigen Jetzt‹ gegenwärtig.« (Tillich 1987, 447)

»Nunc aeternitatis«, das Ewige Jetzt. Dieses Wort findet sich auch bei Nikolaus von Kues. Damit drückt er eben dies aus, dass unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern die Zeitfreiheit der Gegenwart zu verstehen ist. Ein anderer mystischer Terminus dafür ist »Nunc stans«, das Stehende Jetzt. Das Jetzt, das steht und nicht vergeht, weil es der vergänglichen Zeit enthoben ist. Diese Zeitqualität des Jetzt als Mitte der Zeit, als Zeittransdifferenz, zu erfahren, wird in der Mystik als geistige Befreiung verstanden. »Die Seele, die da steht in einem gegenwärtigen Nun, in die gebärt der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in derselben Geburt, wird die Seele wieder in Gott geboren«, lesen wir in den Deutschen Predigten von Meister Eckhart (1963, 206).

Diese befreiende Bedeutung hat die Zentrierung im Jetzt in den mystischen Traditionen aller Religionen, in unterschiedlicher Akzentuierung. Und alle ernst zu nehmenden Formen von Meditation oder Kontemplation praktizieren eine »Einübung ins Da-Sein« (Frambach 1994, 370–373), die Sammlung und Öffnung des Geistes in der Gegenwart, um dem entgegen zu warten, was das Bewusstsein im Zustand der Präsenz erfüllt. »Der gegenwärtige Augenblick muss eure Wohnung werden«, schreibt der protestantische Mystiker Gerhard Tersteegen (1697–1769).

Von Fritz Perls gibt es einige sehr prägnante Äußerungen zum Thema des Jetzt. Er konnte seinen psychotherapeutischen Ansatz sogar als »Hier und Jetzt-Therapie« bezeichnen (Perls 1976, 81). Leider hat er, wie so oft, seine Sicht des Jetzt nicht mit der nötigen Ausführlichkeit und Genauigkeit erläutert. Darum ist diese Betonung des »Hier-und-Jetzt« nicht selten sehr unreflektiert klischee- und schlagwortartig verstanden oder besser nicht verstanden worden und zu einer Floskel des Psycho-Jargons verkommen. Ich habe das mit der Unterscheidung von »Hier und Jetzt-Zentrierung« und »Hier und Jetzt-Fixierung« versucht zu thematisieren (Frambach 2001, 14 ff.). Bei der Fixierung werden Vergangenheit und Zukunft weitgehend ausgeblendet. Man ist in kurzsichtig hedonistischer Weise auf die Gegenwart fixiert: »Ich lebe im Jetzt! Und alles andere interessiert mit nicht. Gestern ist vorbei. Und nach mir die Sintflut!« So die, zugegeben überzeichnete, Haltung der Fixierung. Aber die Einstellung »Ich will Spaß, und zwar sofort!« ist doch für viele Menschen der Konsum- und Event-Gesellschaft ein lebensbestimmendes Motto, nicht zuletzt dank des massiven Einflusses der hedonistisch konsumstimulierenden Werbeindustrie.

Perls hat das »Hier und Jetzt« im Sinne einer Zentrierung verstanden, bei der Vergangenheit und Zukunft ausgewogen sinnvoll auf die Gegenwart als Zentrum bezogen sind:

»Die Gegenwart ist der sich ständig bewegende Nullpunkt der Gegensätze Vergangenheit und Zukunft. Eine gut ausgewogene Persönlichkeit berücksichtigt Vergangenheit und Zukunft, ohne den Nullpunkt, die Gegenwart, aufzugeben, ohne Vergangenheit und Zukunft als Realitäten anzusehen.« – »Das Zeitzentrum unserer selbst als raumzeitlicher Ereignisse ist die Gegenwart. Es gibt keine andere Realität als die Gegenwart. Unser Wunsch, mehr von der Vergangenheit zu behalten oder die Zukunft vorwegzunehmen, kann dieses Realitätsempfinden völlig überwuchern … Ein Mangel an Kontakt mit der Gegenwart, ein Mangel an aktuellem ›Gefühl‹ unserer selbst, führt zur Flucht, entweder in die Vergangenheit (historisches Denken) oder in die Zukunft (vorwegnehmendes Denken).« (Perls 1978, 115, 111)

 

Was Perls nicht thematisiert hat, ist die Flucht in die Gegenwart, das Ausblenden von Vergangenheit und Zukunft. Auch das ist eine Gefahr. Sich auf die – oder besser – in der Gegenwart zu zentrieren bedeutet nicht, Vergangenheit und Zukunft zu ignorieren, sondern sie ausgewogen polar aufeinander zu beziehen über die Mitte ihrer Transdifferenz.

Was bei diesen Perls-Zitaten wieder einmal deutlich wird, ist der grundlegende Einfluss von Friedlaenders polarer Indifferenzphilosophie, auch wenn er ihn wieder einmal nicht namentlich erwähnt.

3.3.3 Die Mitte der Materie

Wie bei Raum und Zeit kann man auch radikal in die Mitte der Materie hineinfragen. Das läuft auf die Frage nach der kleinsten Einheit der Materie hinaus und führt in die Gefilde der Atomphysik. Darüber habe ich mir in besagtem Aufsatz Von der Unfähigkeit des Intellekts das Absolute zu erkennen … (1996), inspiriert durch Friedlaenders Philosophie, Gedanken gemacht. Etwas vermessen, da diese Materie nun überhaupt nicht die meine ist. Darum habe ich mir seinerzeit 1990 meine Überlegungen dem Quantenphysiker Thomas Görnitz, damals Mitarbeiter des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, ansehen lassen und er hat ihnen im Wesentlichen zugestimmt. Sie können also nicht völlig falsch sein. Hier der entsprechende Abschnitt:

»Die Atomphysik stellt wohl den ausgeprägtesten naturwissenschaftlichen Versuch dar, mit dem Mittel des unterscheidenden Intellekts der phänomenalen Realität auf den Grund zu gehen und restlos = absolut zu erkennen. Durch einen immer weiter fortschreitenden Prozess exakt unterscheidender Beobachtung versucht man, die kleinste unteilbare Einheit oder Ganzheit (griech. atomos = unteilbar, unschneidbar) zu erkennen, aus der sich die Materie aufbaut. Das, was man Atom genannt hatte, erwies sich aber nicht als die gesuchte unteilbare Einheit und man gelangte in den Bereich der subatomaren Phänomene. Diese – Elektronen wie auch Protonen und Neutronen – zeigten jedoch eine verwirrende Zweideutigkeit, welche die daran beteiligten internationalen Forscher zur Entwicklung einer revolutionären, neuen Theorie führte, der sogenannten »Quantentheorie«. Die subatomaren Phänomene erschienen nämlich, je nach Beobachtungsmethode, einmal als Teilchen, Korpuskel, und ein anderes Mal zeigten sie sich als Welle. Eine charakteristische Eigenart ließ sich nicht eindeutig festlegen. Dieser sich ausschließende »Teilchen-Welle-Dualismus« wurde von Niels Bohr als »Komplementarität« interpretiert, als sich gegenseitig ausschließende und ergänzende Aspekte derselben Realität. Werner Heisenberg definierte das Verhältnis dieser komplementären Aspekte in komplexen Gleichungen als »Unschärferelation«. Ganz grob vereinfacht läuft sie im Prinzip auf Folgendes hinaus: je präziser der eine Aspekt (Korpuskel) wahrgenommen und beobachtet wird, desto unschärfer wird der andere Aspekt (Welle) und umgekehrt. Diese Entdeckung der Physik an der Grenze des exakt intellektuell Erkenn- und Unterscheidbaren deckt sich genau mit den hier vorgelegten erkenntnistheoretischen Einsichten. Das Prinzip der Polarität und der Vordergrund/ Hintergrund-Differenzierung des unterscheidenden Intellekts findet seine konkrete naturwissenschaftliche Entsprechung in der Komplementarität und der Unschärferelation der Quantentheorie. Auf Grund der hier dargestellten Strukturprinzipien der differenzierten Realität und des differenzierenden Intellekts wird einsichtig, dass die Erkenntnisbemühung der Physiker im Bereich kleinster Teilchen formal voraussagbar notwendigerweise zu diesem Ergebnis gelangen musste. Eine letzte eindeutige Einheit, Ganzheit, ist prinzipiell nicht restlos zu erkennen, weil Einheit, Ganzheit grundsätzlich als differenziertes Phänomen nicht zu erkennen ist. Wir erkennen nie restlos, ganz absolut, weil wir eben nur auf dem Hintergrund des Restes erkennen. Unser Erkennen ist prinzipiell unscharf. Die »Heisenbergsche Unschärferelation« ist nicht auf die subatomare Physik beschränkt, sondern ist ein erkenntnistheoretisches Grundfaktum. Im Bereich der Mathematik z. B. findet sie ihre logische Entsprechung im sogenannten »Unvollständigkeitstheorem« des Mathematikers Kurt Gödel, der nachwies, dass jedes logische System eine logische Voraussetzung haben muss, die selbst nicht logisch beweisbar ist. Auf Grund der Einsicht in die prinzipielle Polarität aller differenzierten Phänomene ist weiterhin von vorneherein klar, dass als letzte Erkenntnis im Bereich der kleinstmöglichen Teilchen die Wahrnehmung zweier sich ausschließender und ergänzender, d. h. komplementärer, polarer Phänomene übrig bleiben muss. Das, was polar als subatomares Teilchen- oder Wellenphänomen differenziert erkennbar wird – wie auch beim Licht – ist in seiner Einheit Ganzheit, indifferent. Es ist kein differenziertes Phänomen und damit dem forschenden Blick des Intellekts entzogen. Teilchen und Welle sind die polare, komplementäre Differenzierung desselben, das in seiner Identität indifferent unerkennbar ist. Was das »an sich« ist, das sich da in seinen polaren Phänomenen zeigt, lässt sich nicht erkennen und daher auch nicht sprachlich ausdrücken und begrifflich definieren. Die Physik hat die Materie bis in den subatomaren Bereich hinein verfolgt, drückte es einmal ein Physiker aus, und dann die Spur verloren. Dieses Verlieren der Spur wird durch die Einsicht in die prinzipielle Polarität der phänomenalen Realität erklärbar, als das Erreichen der intellektuellen Erkenntnisgrenze des differenzierenden naturwissenschaftlichen Erkennens im Mikro-Bereich. Das »Ding an sich« ist prinzipiell unerkennbar, wie das schon Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft intellektuell schlüssig nachwies, und zwar bezogen auf die Wahrnehmung aller Phänomene. Das »Ding an sich«, die Ganzheit, Einheit der Realität, ist das intellektuell unerkennbare Noumenon, das sich, können wir Kant mit Friedlaender präzisierend ergänzen, als Phänomen immer nur in seinem polaren Doppelaspekt zeigt. Diese Sichtweise der philosophischen »Metaphysik« Friedlaenders findet in den Erkenntnissen der exakten »Physik« ihre klare Bestätigung.« (Frambach 1996, 57 f.)

Thomas Görnitz hat sein Verständnis der Quantenphysik (2006) weiterentwickelt und auf dem Konzept der Quanteninformation ein umfassendes, über den materiellen Bedeutungsbereich der Physik hinausgehendes Wirklichkeitsverständnis konzipiert. Zusammen mit seiner Frau Brigitte Görnitz, Tierärztin wie auch Psychologin und Psychoanalytikerin, hat er in zwei didaktisch sehr gut formulierten Büchern (2008; 2009) innovative Sichtweisen beschrieben, die vielperspektivisch das Ganze der Realität erfassen. Zentral ist für sie der Begriff Protyposis:

»Für diese abstrakte und absolute Quanteninformation, die kosmisch begründet und noch bedeutungsfrei ist, führen wir einen neuen Begriff ein: Protyposis. (Er basiert auf dem Griech.: typeo – ich präge ein). Diese noch bedeutungsfreie Quanteninformation ist etwas, dem sich eine Form, eine Gestalt, schließlich sogar eine Bedeutung einprägen kann.« (Görnitz/Görnitz 2008, 7)

Diese allem zu Grunde liegende absolute Quanteninformation der Protyposis realisiert sich konkret als Materie, Energie und Bewusstsein, ähnlich wie Wasser sich als Flüssigkeit, Eis oder Dampf realisiert.

»Wir Menschen stehen, soweit wir die kosmische Evolution überblicken können, am gegenwärtigen Ende der Entwicklungslinie der Ausdifferenzierung der Protyposis, die man als das Weltsubstrat – eine abstrakte kosmische Quanteninformation – ansehen kann, die in uns Menschen dazu kommt, über sich selbst nachzudenken.« (ebd. 320) Und weiter: »Die Protyposis, die abstrakte kosmische Information, ist das Abstrakteste, was denkbar ist. Damit kommt sie von allen uns denkbaren naturwissenschaftlichen Begriffen sowohl dem am nächsten, was im Buddhismus als die »Leere«, als auch dem, was bei Platon das »Eine« genannt wird.« (ebd. 331)

Mir scheint, dass Friedlaenders schöpferische Indifferenz und polare Differenzierung, mehr noch als andere mystisch-philosophische Konzepte, wie z. B. wie der »grunt« bei Eckhart, mit diesen auf naturwissenschaftlichen Fakten basierende Theorien gut in Beziehung gesetzt werden kann. Interessant ist hier die Äthertheorie, die Friedlaender von seinem Kant-Vermittler Ernst Marcus (1969/80) übernimmt, der sie wiederum aus dem Opus Postumum von Kant herleitet. Darauf kann hier nur mit diesen wenigen und darum sehr leicht misszuverstehenden Sätzen als Möglichkeit hingewiesen werden, die einer gründlichen Untersuchung bedarf.

3.3.4 Die Mitte der Identität

»Ins Lateinische übersetzt heißt Atom das Unteilbare, Individuum. Wenn wir dem Individuum, d.h. uns selbst, unserem Ich, auf den Grund gehen, kommen wir zur gleichen Weise der Grund-Erkenntnis wie bei Materie und Zeit. Als Individuum, als isolierte unteilbare Einheit gibt es uns nicht. Wenn wir mit der Identitätsfrage: »Wer bin ich?« radikal ins Zentrum unserer Existenz hineinfragen, dann wird unser vermeintlich individuelles Ich entlarvt als egozentrische Illusion. Es ist nicht selbständig, unabhängig für sich existierend, sondern durch polaren Gegensatz bedingt: Subjekt und Objekt, Ich und Du oder einfach Ich und Nicht-Ich. Es löst sich auf, wenn wir versuchen, ihm auf den Grund zu gehen, es aus seinen polaren Existenzbezügen zu lösen und als individuelle, isolierte Einheit zu betrachten. Die Illusion des individuellen Ich löst sich auf in den Grund, die Grund-Wirklichkeit. Der ununterscheidbare transdifferente Grund ist das einzig Unteilbare. Nur Gott ist ein Individuum, ein individuelles Ich. Meister Eckhart sagt es so:

»Ego, daz wort ich, ist nieman eigen

denne gote allein in siner einekeit!« (Pfeiffer 1924, 201)

So bezeichnet Friedlaender aus seiner philosophischen Perspektive die Menschen als »Dividuen« und nur die »schöpferische Indifferenz« als das Individuum, das ICH (GS10, 306 ff. »Das magische Ich« 2001).

Wenn wir mit unserem unterscheidenden intellektuellen Erkenntnisvermögen einem Phänomen, welcher Art auch immer, sei es Materie, Zeit, individuelles Ich, radikal auf den Grund gehen, dann erkennen wir letztlich immer das Gleiche, nämlich eben den Grund. Es bleibt kein letztes unterscheidbares Einzelphänomen übrig, sondern wir werden zur Ununterscheidbarkeit, zur Indifferenz der überpolaren, nicht-dualen Grund-Wirklichkeit geführt. Der undefinierbare Grund ist einerseits Ausdruck der Grenze des dualen unterscheidenden Erkennens, auf die wir stoßen, und damit Ausdruck der Verborgenheit der letzten Realität. Aber diese Erkenntnisgrenze birgt auch die Chance, in ein überpolares Erkennen und Verstehen transformiert zu werden, in dem sich uns die in-dividuelle, überpolare Grund-Wirklichkeit Gottes erschließt – in kontemplativer Schau. (Frambach 1994, 346)

Auch der Grund, der Kern, die Mitte unserer Identität erweist sich bei gründlichem Erforschen nicht als eine letzte individuelle Einheit, sondern wir stoßen zu einer Weite durch, die jenseits aller Gegensätze liegt. Das Individuum, auf das wir treffen, ist die Indifferenz vom Einzelnen im Gegensatz zum Vielen. Die persönliche Individualität des Einzelnen wird nicht ausgelöscht und aufgelöst in einem Einheitsbrei, sondern in und durch die Ununterschiedenheit, die Übergegensätzlichkeit von Einheit und Vielheit, transformiert.

Martin Küpper hat in seiner Studie zu Psychologie und Meditation im Hesychasmus (1983) diese Suche nach der Mitte der Identität in dieser frühen mystischen Tradition des Christentums treffend beschrieben:

»Gleichzeitig sucht der Geist seine Mitte, d.h. seine ursprüngliche Identität. Er hat diese nur in dem Punkt, von dem aus sein ganzes Sein sich entfaltet. Wenn er gegenüber dem Netz von Umweltbezügen die Freiheit des zusehenden Dabeiseins erlangt hat, wird ihm bewusst, dass er nicht in der Trägerschaft dieser Bezüge aufgeht und mit keiner Rolle des Daseins identisch ist. Er hat ein Leben, das von jenen verschieden ist, und eine Mitte, die jenseits ihrer Verknotung liegt. Indem der Geist sie sucht, sucht er gewissermaßen das Herz des Geistes … Er muss also, um seine Mitte zu finden, durch sich hindurch zu einem inneren Jenseits gelangen, das innerlicher ist als er selbst.« (Küpper, 1983, 338)

 

Dass man, um seine Mitte zu finden, »durch sich hindurch zu einem inneren Jenseits gelangen« muss, das innerlicher ist als man selbst, das ist nicht nur für den Hesychasmus gültig, sondern für jede radikale existentielle Suche nach dem Grund der Identität, sei sie religiös oder nicht.

Friedlaender beschreibt diesen Weg zum »inneren Jenseits« in seiner Terminologie als Indifferenzierung. Seine Intention ist damit zu einem befreienden Verstehen des Ich, des Selbst, zu führen, zur wahren Identität: »Man muss wissen, wer man ist.« (GS10, 172) Diese Transdifferenzierung des Inneren, des Subjekts, meint die »Evakuierung des Selbstes von Differenz« (ebd. 489), oder, anders ausgedrückt, die Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« (ebd. 555). Wenn man sich in irgendeiner Weise noch mit etwas Differenziertem, Äußerlichem, wozu auch die eigenen Gefühle und Gedanken zählen, identifiziert, so verfehlt man sich, denn: »Indifferenz erst ist die nackte Seele. Die menschliche Seele, die psychischen Differenzen, stehen zu ihr in einem ähnlichen Verhältnis wie das Kleid zum Leib.« (ebd. 450)

Eine völlige Loslösung auch aus den subtilsten differenzierten Identifikationen ist not-wendig, um zur wirklichen eigenen Wesensmitte befreit zu werden, denn der »Gedanke Identität kann nicht intim genug erlebt werden« (ebd. 174). »Wer aber sein eigenes Inneres noch nicht neutralisiert hat, ist noch gar kein Wer.« (ebd. 509) »Erst das Selbst, worin aller Unterschied vernichtet ist, ist das echte Selbst.« (ebd. 210) In immer neuer Variation umkreist Friedlaenders Philosophieren diesen Zentralpunkt der eigenen Existenz wie auch alles anderen Existierenden, der sich in seiner Transzendenz letztlich dem differenzierten Begreifen entzieht. »Das gestaltende Selbst ist gestaltlos.« (ebd. 556), es ist mit unserem unterscheidenden Intellekt nicht erkennend wahrzunehmen. Das, was die wahre Person, das wahre, wirklich ungeteilte In-Dividuum, begründet, die schöpferische Wesensmitte des Selbst, übersteigt die Prinzipien unseres intellektuellen Erkennens. »Das eigene Herz, unser Innerstes, beruhigt sich nicht eher, als bis es alles in allem ist.« (ebd. 164) Wenn Friedlaender davon spricht, sich im Innersten mit der Indifferenz, dem Individuum, zu identifizieren, dann klingt das, zumal in christlich geprägten Ohren, sehr nach Hybris. Dem stelle ich zur Klärung ein bekanntes Zitat der »jüdisch/christlichen« Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943) aus Schwerkraft und Gnade an die Seite: »Das Ich ist mir (und den andern) verborgen; es ist auf Seiten Gottes, es ist in Gott, es ist Gott. Hochmütig sein heißt vergessen, dass man Gott ist.«

Wie dieses Indifferenzieren, diese »Evakuierung des Selbstes von aller Differenz«, diese Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« vonstatten gehen soll, davon schreibt Friedlaender fast nichts. Keine Anleitung, keine Methode, keine Praxis. Warum? Weil für ihn eben dieses Philosophieren an der Grenze des Denkbaren die Praxis ist. Er ist ein radikaler Denker, dieses Denken ist sein existenzieller Vollzug des Indifferenzierens. »Denke das Nichtdenken« ist ein Prinzip der meditativen Praxis des Zen. Und das macht Friedlaender auf seine Weise, ohne im Lotussitz auf dem Kissen zu sitzen.