Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext

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Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext
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Sonja Pöllabauer / Mira Kadrić

Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext

Translationskultur(en) im DACH-Raum

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

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www.narr.de · eMail: info@narr.de

ISBN 978-3-8233-8352-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0263-6 (ePub)

Inhalt

 Einleitung: Berufssoziologische Dimensionen einer TranslationskulturDieser Sammelband, zu dem ...1 Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten2 Tradition der Sprachmittlung3 Modellierung des sozialen Raums4 Translationskultur und Superdiversität5 Dolmetschen aus professionssoziologischer Warte6 Zu den Beiträgen in diesem BandLiteratur

 Translationspolitik und barrierefreie KommunikationVon Kommunikationsprothesen zu Wegbereitern der Mehrsprachigkeit1 Umbruch der Arbeitswelt2 Wandel durch Technologie3 Automatisierung4 Folgewirkungen5 Erweiterung der Anforderungsprofile6 AusblickLiteraturSpracherleben, Verständigung und Kommunikationsbedarf in multilingualen Kontexten1 Spracherleben und mehrsprachige Sprecher:innen2 Mehrsprachige Kontexte3 Kommunikationsbedarf in diversen Gesellschaften – Beispiele aus der Praxis4 Vier Kontexte, viel Kommunikationsbedarf5 Verständigung in mehrsprachigen GesellschaftenLiteraturZur technikgestützten Translationskultur im DACH-Raum1 Vielfalt durch Technik2 Grundsätze der technikgestützten Dolmetschung3 DACH-Länderüberblick nach Einsatzbereichen4 FazitLiteraturBarrierefreie Kommunikation – Aspekte der Professionalisierung im DACH-Raum1 Grundlagen und Elemente der Bestandsaufnahme zur Professionalisierung2 Barrierefreie Kommunikationsformen – rechtliche Grundlagen und Definitionen3 Vergleichende Zusammenschau barrierefreier TranslationLiteratur

 Entwicklungslinien der ForschungEntwicklungslinien der deutschen Forschung zum Dolmetschen im soziokulturellen Kontext1 Einleitung2 Sozial- und sprachwissenschaftliche Untersuchungen3 Translationswissenschaftliche Untersuchungen4 ZusammenfassungLiteraturEntwicklungslinien der Forschung in Österreich1 Einleitung2 Genese3 Entwicklungsstränge4 SchlusswortLiteraturPerspektiven zum Gebärden- und Lautsprachendolmetschen aus der Deutschschweiz1 Dolmetschen im Justiz- und im Gesundheitswesen: Ausgangslage2 Forschungsstand zum Gebärdensprachdolmetschen in der Deutschschweiz3 Unterschiede und GemeinsamkeitenLiteratur

 Entwicklungslinien der AusbildungDolmetschen für Gleichbehandlung und Teilhabe – aber bitte möglichst umsonst!1 Dolmetscherinnen als Erfüllungsgehilfinnen des neoliberalen Bürgerschaftsstaats oder Garantinnen der (post)migrantischen Gesellschaft?2 Die große Verheißung oder die große Illusion: Von Engagement über Qualifizierung zu Professionalität3 Bürgerschaftliches Engagement der Gut-Integrierten oder die (Un)Heiligkeit des Ehrenamts4 Drei SchlusspunkteLiteratur„Ich weiß nicht, was es noch gibt, das ich nicht weiß“ – Entwicklungslinien der Ausbildung in Österreich im Bereich Dolmetschen für öffentliche Einrichtungen und Gerichtsdolmetschen1 „Ich weiß nicht, was es noch gibt, das ich nicht weiß“2 Dieselben Befunde wie eh und je?3 Von „Zwei- oder Mehrsprachigen“ über „bereits Tätige“ bis hin zu künftigen „Expert:innen“ – Zielgruppen und Zielsetzungen4 Ob minimal oder maximal – stets modular: Lehrgangsinhalte und Kursstruktur5 Alte, alte neue und geplante Lehrgänge6 „Danke, dass du mir das sagen konntest“ – Einbeziehung der Auftraggeber7 Woher wissen Lai:innen, was Lai:innen wissen?8 Vorwärts an den StartLiteraturProfessionalisierung des Dolmetschens im öffentlichen Bereich am Beispiel der Schweiz1 Interkulturelles Dolmetschen2 Wer dolmetscht?3 Das Schweizerische zweistufige Qualifizierungssystem im Überblick4 Bezug des „Gesamtsystems Interkulturelles Dolmetschen“ zu internationalen Standards5 Standardisierung und FinanzierungLiteratur

 Entwicklungslinien der BerufspraxisDolmetschen im Gemeinwesen1 Begriffsverwirrung2 Rechtliche Rahmenbedingungen3 Wirtschaftliche Rahmenbedingungen4 Organisatorische Rahmenbedingungen5 ConclusioLiteraturDer österreichische Kommunaldolmetschmarkt1 Einleitung2 Untersuchungsgrundlagen3 Wirkungsbereiche von Kommunaldolmetscher:innen in Österreich4 ConclusioLiteraturDie Praxis des interkulturellen Dolmetschens in der Schweiz1 Einleitung2 Organisation des interkulturellen Dolmetschens in der Schweiz3 Arbeits- und Lebensbedingungen der interkulturell DolmetschendenLiteratur

 Translationskultur verortetVon der Theorie zur Praxis1 Rahmenbedingungen der Untersuchung2 Praxisprojekte3 Länderübergreifender VergleichLiteraturFormung einer Translationskultur im DACH-Raum: Handlungen, Strukturen und ein Ausblick1 Translationspolitik im gesellschaftlichen Kontext2 Handlungen und Strukturen im Zusammenwirken3 Dolmetschen in Funktion4 Fazit: Mitgestaltung einer Translationskultur als gesellschaftliches ZusammenspielLiteratur

  Beiträger:innen

  Register

Einleitung: Berufssoziologische Dimensionen einer Translationskultur

Sonja Pöllabauer

Dieser Sammelband, zu dem verschiedene Expert:innen aus dem DACH1-Raum beigetragen haben, zeigt vor dem Hintergrund des Konzepts der „Translationskultur“ (Prunč 1997, 2008) sowie professionssoziologischer Überlegungen „Entwicklungslinien“ (Prunč 2012a) des Dolmetschens in einem gesellschaftlichen und behördlichen Umfeld im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.2

1 Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten

Der Ausgangspunkt für dolmetscherisches Handeln ist das Erfordernis aufseiten von Bedarfsträger:innen in verschiedenen Lebensrealitäten Verständigung zu ermöglichen, was manchmal nur unter Beiziehung von Dolmetscher:innen realisierbar ist. Derartiger „Kommunikationsbedarf“ (Pöchhacker 2000:13f.) bestand seit jeher in verschiedenen internationalen oder innergesellschaftlichen Zusammenhängen. Ein Blick auf translatorisches Handeln aus gegenwärtiger Perspektive vernachlässigt häufig die Tatsache, dass die Tätigkeit von Dolmetscher:innen eine alte ist und sich über ein weites zeitliches Kontinuum erstreckt, und dass jene Faktoren, die für Dolmetscher:innen heute maßgebende Kriterien für ihr Handeln sind, Dolmetscher:innen wohl auch schon vor Jahrtausenden beschäftigten. Abseits der Aufarbeitung dieses Feldes in der Fachliteratur belegen etwa geschichtliche Quellen die jahrhundertelange Tätigkeit von Dolmetscher:innen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Woodsworth & Delisle 2012, Cáceres Würsig 2017).

Seit der innerstaatlichen Krise in Syrien, die ab 2015 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und darüber hinaus zu massiven Fluchtbewegungen in Richtung Europa führte, waren Dolmetscher:innen und ihr Handeln zunehmend sowohl durch Medienberichte als auch infolge persönlicher Begegnungen in Kontexten präsent, in denen dies zuvor nicht der Fall gewesen war. Im deutschsprachigen Raum waren v.a. Deutschland und Österreich mit einem plötzlich angestiegenen KommunikationsbedarfDolmetschbedarfmigrationsbedingt konfrontiert, der nicht immer ausreichend gedeckt werden konnte. Dringlichkeit und Ausmaß an Kommunikationsbedarf führten dazu, dass die Notwendigkeit des Einbezugs von Dolmetscher:innen verstärkt erkannt wurde.

Infolge dessen und zur weiteren Bewältigung dieser veränderten gesellschaftspolitischen Gesamtsituation wurden verschiedene (Ad-hoc-)Maßnahmen zur Bewältigung dieses Kommunikationsbedarfs ergriffen, u.a. die Bestellung von Dolmetscher:innen für bislang wenig benötigte Sprachkombinationen, für die auch keine Ausbildungen existieren, neue Verzeichnisse („DolmetscherlistenDolmetschliste“) und Zusammenschlüsse („PoolsDolmetschpool“) von Dolmetscher:innen, Entwicklung neuer Schulungsmaßnahmen oder die Reaktivierung bereits bestehender Qualifizierungsangebote. „Qualität“ stand dabei nicht immer im Zentrum; vielmehr wurde und wird – wie die Beiträge in diesem Band in teilweise ernüchternder Form belegen – der Dolmetschbedarf häufig unter der nach wie vor tradierten Devise „Sprachkompetenz = Dolmetschkompetenz“ gedeckt. Die aus fachlicher Sicht grundsätzlich positiv zu wertende Sichtbarmachung von Dolmetscher:innen ist also gleichzeitig teilweise negativ gekoppelt an eine gewisse Gefahr einer Institutionalisierung von „Ad-hoc-Lösungen“.

 

Zu beobachten war in den letzten Jahrzehnten des Weiteren ein Neuaufflammen der Diskussion um die Benennung der Tätigkeit von Dolmetscher:innen in einem derartigen innergesellschaftlichen Lebenszusammenhang, wie sie bereits Ende der 1990er-Jahre (z.B. Bahadır 2000, Pöchhacker 2000:34ff., Pöllabauer 2002) und auf ähnliche Weise noch früher in den sogenannten Pionierländern des Community InterpretingCommunity Interpreting (z.B. Roberts 1997, Gentile 1993) stattgefunden hatte. Augenscheinlich war diese Diskussion etwa im Rahmen einer Fachtagung 2018 am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, die der Qualifizierung von Sprachmittler:innen in der sozialen Arbeit gewidmet war (vgl. ZwischenSprachen 2018) und in teilweise heftige Kontroversen zu den Möglichkeiten, Sinnhaftigkeiten und Widersinnigkeiten verschiedener Benennungen mündete.

2 Tradition der Sprachmittlung

Der subjektive Eindruck, der vor diesem Hintergrund entstehen könnte, wonach das Dolmetschen in einem innergesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum erst in den letzten Jahren vermehrt notwendig geworden ist, trügt allerdings. Dieses spezifische Handlungsfeld von Dolmetscher:innen findet bereits seit mehr als 20 Jahren unter dem Stichwort Community Interpreting Community Interpretingoder anderen dafür gebräuchlichen Benennungen Eingang in die einschlägige (auch deutschsprachige) Literatur, anfangs eher in Form von Darstellungen subjektiven Charakters, später mit einer Entwicklung hin zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Themas (vgl. Grbić & Pöllabauer 2008).

Mit Bezug auf Deutschland thematisierten etwa bereits Mitte der 1980er-Jahre Rehbein (1985) „Verfahren der Sprachmittlung“ sowie Knapp (1986) und Knapp & Knapp-Potthoff (1985, 1986, 1987) verschiedene Aspekte der „Sprachmittlung“, die sie als „nicht professionelle, alltagspraktische Tätigkeit“ in „face-to-face-Interaktionen“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1985:451) definierten und so vom (professionellen) „Dolmetschen“ abgrenzten.

Insgesamt ist die Literatur zur Thematik durch eine interdisziplinäre Perspektive gekennzeichnet. Frühe Publikationen, v.a. aus Deutschland und der Schweiz, gehen v.a. auf Autor:innen aus den Bereichen der Psychiatrie und Psychotherapie (Knoll & Roeder 1988, Leyer 1988, Haenel 1997, Westermeyer 1990, Grube 1993, Steiner 1997) bzw. der Medizin (Flubacher 1994, Eytan, Bischoff & Loutan 1999, Bischoff et al. 1999) zurück. Der allgemeine Paradigmenwechsel in der Dolmetschwissenschaft hin zu einer „sozialen Wende“ (Pöchhacker 2006) und einem intensivierten Blick auf dialogische bzw. „triadische“ (Wadensjö 1998, Mason 2001) Interaktionskonstellationen ab den 1990er-Jahren zeigt sich auch im DACH-Raum, wo ab 2000 ein Anstieg an Publikationen zum Thema zu beobachten war (Grbić & Pöllabauer 2008).

In der Schweiz befassten sich etwa Kälin (1986) und Monnier (1995) früh mit dem Dolmetschen im Asylverfahren. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Publikationen aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich erwiesen sich hier v.a. die Universitätskliniken in Basel und Genf (HUG, Hôpitaux universitaires de Genève) als Zentren der Forschung zum Medizindolmetschen. Bereits 1999 wurde auch der Schweizer Berufsverband INTERPRET gegründet, der bis dato im DACH-Raum immer noch einzige spezifische Berufsverband für Dolmetschen in einem sozialen Kontext (siehe dazu auch Müller in diesem Band). Gar noch früher wurden erste Dolmetschdienste an Kliniken (1987 Basel, 1990 Bern) sowie von gemeinnützigen oder kirchlichen Organisationen eingerichtet (z.B. Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz HEKS, Schweizer-Arbeiter-Hilfswerk SAH, Caritas, Rotes Kreuz) (vgl. Flubacher 2013:128, siehe dazu auch Grenko & Strebel in diesem Band). Maßgebend, auch für die Benennung dieses Feldes in der Schweiz (Interkulturelles Übersetzen bzw. Interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln), scheint ein Sammelband von Weiss & Stuker (1998) mit dem Titel Übersetzung und Interkulturelle Mediation.

In Deutschland leisteten ein Team von Forscher:innen am UKE Hamburg (Albrecht 1999, 2002) und das Ethnomedizinische Zentrum in Hamburg (Salman & Tuna 1997), das bereits 1989 gegründet wurde, Pionierarbeit. Ab Mitte der 1990er-Jahre war im Bereich Medizindolmetschen auch das Team des Sonderforschungsbereichs Mehrsprachigkeit der Universität Hamburg präsent (Bührig & Meyer 1998, Meyer 2000) (siehe dazu auch Meyer in diesem Band).

In Österreich war das Thema ab 1989 vor dem Hintergrund eines WHO-Projekts zur Gesundheitsversorgung von Migrant:innen präsent (Pöchhacker 1997a). Federführend in der Lancierung dieses Feldes sowohl in der Forschung als auch im Rahmen eines ersten Praxisprojekts (Pilotkurs Dolmetschen im Krankenhaus) war Franz Pöchhacker von der Universität Wien (Pöchhacker 1997b, 2000). Das Gerichtsdolmetschen wurde 2001 von Kadrić erstmals umfassend thematisiert. Ab 2000 wurde das Thema auch im Forschungsprofil des Instituts für Translationswissenschaft der Universität Graz verankert (Pöllabauer 2000, Pöllabauer & Prunč 2003, Pöllabauer 2005), wo seit 2001 niederschwellige Universitätslehrgänge zum Thema angeboten werden (Prunč 2012b) (siehe dazu auch Pöchhacker in diesem Band). Seit 2016 werden an der Universität Wien auch postgraduale Universitätslehrgänge, seit 2018 auch als Masterprogramme für Behörden- und Gerichtsdolmetschen (Postgraduate Center 2019) wie auch Lehrgänge für Schriftdolmetschen und Dolmetschen mit Neuen Medien angeboten.

Damit lässt sich feststellen, dass diese Domäne des Dolmetschens im deutschsprachigen Raum seit mehr als 30 Jahren von unterschiedlichen Interessensträger:innen (Praxis, Lehre, Forschung) und in unterschiedlichem Ausmaß wahrgenommen, lanciert und vorangetrieben wurde. Von einem anfangs stark vernachlässigten Bereich, mit suboptimalen Bedingungen und geprägt vom Nimbus der Minderwertigkeit, war in den letzten Jahren eine gewisse Konsolidierung zu erkennen, mit einem wachsenden Angebot an extrauniversitären Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten, einer stärkeren Einbindung auch in das curriculare Angebot an traditionellen Ausbildungseinrichtungen für Übersetzen und Dolmetschen, einer zunehmenden Akzeptanz derartiger „sozialer“ Themen in der Translationswissenschaft und einem gewissen Maß an Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Dolmetscher:innen vonseiten der Bedarfsträger:innen und daran gekoppelt mehr Austausch und Synergien zwischen den verschiedenen Interessensgruppen. Und dennoch wird das Community Interpreting weiterhin auf dem C-Markt des Dolmetschens (Kutz 2010:82) angesiedelt und auch noch in jüngerer Zeit als wenig professionalisiert wahrgenommen (Neff 2015:220).

Derartige Negativbefunde ebenso wie persönliche Beobachtungen zu aktuellen Entwicklungen im Feld sind die Triebfedern für diese Publikation, die auf einer Makroebene Dimensionen der „Translationskultur“ (Prunč 1997 und später) in diesem Feld zu skizzieren und diese auf einer Mikroebene mithilfe professionssoziologischer Faktoren zu verorten sucht.

Bevor eine Darstellung des Konstrukts der Translationskultur und des professionssoziologischen Grundgerüsts, die die im Rahmen dieser Publikation vorgenommenen Darstellungen der Situation im DACH-Raum speisen, vorgenommen wird, scheint eine Modellierung des sozialen Raums, in dem derartige innergesellschaftliche Dolmetschhandlungen stattfinden, zweckmäßig.

3 Modellierung des sozialen Raums

Dolmetschen in einem nationalen gesellschaftlichen Umfeld wird im Fall von Lautsprachen oft mit den Begriffspaaren „Flucht“ und/oder „Migration“ in Verbindung gebracht, im Fall von Gebärdensprachen mit innergesellschaftlichen sprachlichen Minderheiten. In beiden Kontexten ist (erfolgreiche, transparente, faire) Kommunikation ein bestimmender Faktor für individuelle Bedürfnisse und Befindlichkeiten auf der Subjektebene ebenso wie für das soziale Miteinander in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen. Sprachbarrieren ebenso wie divergierende Wissensbestände erschweren oder verhindern den Zugang zu Informationen und Anschlussmöglichkeiten. Dolmetscher:innen können in diesem Gefüge eine Schlüsselfunktion übernehmen, als gatekeeper fungieren, indem sie Türen zur Verständigung zwischen Menschen mit oft sehr unterschiedlichen lebensbiografischen und soziokulturellen Hintergründen öffnen. Der Objektbereich dieses Feldes, das, wie oben erwähnt, nach wie vor – und in jüngster Zeit wieder verstärkt – unter verschiedenen Benennungen beschrieben wird1, lässt sich wie folgt weiter bestimmen:

Dolmetschen in

 einem bestimmten innergesellschaftlichen Umfeld (z.B. behördliche, medizinische, therapeutische Settings),

 zwischen professionellen Bedarfsträger:innen und privaten Klient:innen,

 häufig in dialogischen Situationen von unmittelbarer und zentraler Relevanz für die persönliche Befindlichkeit und die Bedürfnisse der Klient:innen,

 in denen die unmittelbare Präsenz und Angreifbarkeit von Dolmetscher:innen stärker als in anderen, etwa monologisch geprägten Settings, sich auch auf das Handeln und Rollenverständnis der dolmetschenden Personen auswirken.

Vor diesem Hintergrund schreibt Prunč (2017:23) mit Bezugnahme auf das Begriffsinstrumentarium von Bourdieu dem Feld des Community InterpretingCommunity Interpreting im Gegensatz zum Konferenzdolmetschen, das meist mit einem höheren symbolischen Kapital ausgestattet ist, ein „niedriges bis negatives symbolisches Kapital“ zu, was sich v.a. daraus erklärt, dass die Klientel von Dolmetscher:innen in diesem Feld Randgruppen wie Flüchtlinge, Minderheiten und Migrant:innen oder „andere Verlierer der Globalisierung“ (ibid.) sind, die oft weder über entsprechendes ökonomisches Kapital, noch über soziale Handlungsressourcen (z.B. umfassende Einbindung in ein soziales Netzwerk und die damit einhergehende Anerkennung), noch über kulturelles Kapital (z.B. Bildungstitel) verfügen.

Mit Bezug auf die Dolmetscher:innen lässt sich diese Negativspirale in bestimmten Fällen auch auf diese selbst übertragen, zumal sie unter Umständen ebenso wenig über das nötig Sozial- oder Kulturkapital verfügen, etwa wenn das „Kommunikationsproblem“ durch die Bestellung von nicht ausgebildeten und für dieses Feld qualifizierten Dolmetscher:innen erfolgt. Hier handelt es sich um eine Vorgehensweise, die nach wie vor vielerorts gängig und in der weiterhin tradierten Annahme begründet ist, dass SprachkompetenzKompetenzenSprachkompetenz, die oft nur unzureichend gegeben ist, für derart „einfache“ Kommunikationssituationen ausreicht und dass derartige Situationen auch von Begleitpersonen oder zufällig Anwesenden gut bewältigt werden können. Für Dolmetscher:innen bieten derartige Handlungsgefüge daher oft wenig Handlungsspielraum: „Durch den Umgang mit diesen Randgruppen geraten die Dolmetscher selbst in den Bannkreis der Ohnmacht“ (Prunč 2017:25).

In diesem Band wird vor diesem Hintergrund der soziale RaumDolmetschenim soziokulturellen Kontext des Dolmetschens in derartigen nationalen innergesellschaftlichen Gefügen mit Fokus auf den DACH-Raum ausgeleuchtet. Erfasst werden dialogische gedolmetschte Interaktionen abseits des Konferenz- und Verhandlungsdolmetschens: Dolmetschen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontaktsituationen, einschließlich des Gerichtsdolmetschens. Auch auf aktuelle technologische und gesellschaftliche Entwicklungen (Ferndolmetschen, Formen der barrierefreien Kommunikation) wird eingegangen.