Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage

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|83|I. »… und an Jesum Christum seinen einigen Sohn unsern Herrn«

Jesus Christus als Person der Trinität und als Mensch unter Menschen

Der zweite Artikel des Credos knüpft eng an den ersten, die Rede vom Glauben an Gott, den Schöpfer und Vater, an. Er thematisiert den Weg des ewigen Gottessohnes als des Menschgewordenen in der Schöpfung bis zu deren eschatologischer Vollendung. Die biblische Grundlage dieser Aussagen reicht von den alttestamentlichen messianischen Traditionen über die Erzählung der Evangelien von Jesu Kommen, Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen über die nachösterlichen christologischen Bekenntnisse bis hin zu den Aussagen über die Herrlichkeit des Erhöhten und der Erwartung seiner Wiederkunft.

Damit stellt sich die Frage, wie der Glaube an Jesus Christus mit dem Glauben an Gott den Vater zusammenhängt, wie das Verhältnis beider zu verstehen ist. Wie ist die familienmetaphorische Rede vom »Sohn« zu verstehen? Ist damit eine Unterordnung impliziert? Wie kann dann aber von der Gottheit des Sohnes als trinitarischer Person die Rede sein? Und wie ist deren Menschwerdung zu verstehen? Wie verhält sich das Menschsein Jesu von Nazareth zu der Gottheit Jesu Christi? Und wie verbindet sich durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als »unserem Herrn« die Geschichte des Gottessohnes mit unserer eigenen menschlich-geschöpflichen Geschichte?

|85|Jesus, der Israelit

Die Menschlichkeit Jesu im Zusammenhang der paulinischen Christologie

Karl-Wilhelm Niebuhr

Mit der Titelformulierung für meinen Beitrag zum Thema dieser Tagung ist eine Zuspitzung des mir gestellten Themas verbunden und zugleich eine Eingrenzung. Im Rahmen der Vorträge zum Zweiten Artikel des Apostolikums sollte es um »Jesus Christus als Person der Trinität und als Mensch unter Menschen« gehen. Neben dem neutestamentlichen Beitrag stand der systematisch-theologische, der stärker die hermeneutischen Probleme im Blick auf das trinitarische Dogma und die Beziehung zwischen dem christlichem Glauben und dem Judentum artikuliert hat.[1] Die Zuspitzung meines Themas liegt im Fokus auf Jesus als Israelit, womit ein aus meiner Sicht konstitutiver Aspekt, wenn auch nicht das Ganze seines Menschseins erfasst wird.[2] Die Eingrenzung des Blickfeldes ist durch Konzentration auf die paulinische Christologie gegeben, die freilich wesentliche Grundlinien neutestamentlicher Christologie insgesamt zur Sprache bringt und in ihren biblisch-theologischen Zusammenhängen die Schriftbasis für die Christologie des Glaubensbekenntnisses bildet. Hinsichtlich der Zuweisung Jesu zum Volk Israel setzt Paulus dabei einen bisher zu wenig berücksichtigten Akzent.

|86|Mit solcher Fokussierung und Zuspitzung meines Themas möchte ich ein Strukturelement neutestamentlicher Christologie erfassen, das im Zuge der altkirchlichen Bekenntnisbildung weitgehend verloren gegangen ist: Jesus Christus als Mensch unter Menschen, das bedeutet im Horizont biblischer Theologie auch: Jesus, der geborene Jude, Jesus, der Messias aus Israel, Jesus, der Israelit. Während die Messianität Jesu und seine Gottessohnschaft im Zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (ebenso wie in den übrigen ökumenischen Bekenntnissen) im Zusammenhang des trinitarischen Gottesverständnisses stark akzentuiert wurden, blieben Aussagen zum irdischen Leben und Wirken Jesu hier auf seine Geburt aus der Jungfrau Maria, seine Passion und seinen Tod am Kreuz unter Pontius Pilatus beschränkt. Dass sich dahinter die konkrete Lebens- und Leidensgeschichte eines Juden zur Zeit des Zweiten Tempels verbirgt, war zwar zu Lebzeiten Jesu und zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften noch selbstverständlich, wurde aber in der Rezeptionsgeschichte des Apostolikums immer weniger wahrgenommen. Der für ein gesamtbiblisches Verständnis der christlichen Glaubensüberlieferung theologisch zentrale Gedanke der Heilsoffenbarung Gottes in seinem Volk Israel wurde damit weitgehend ausgeblendet. Diese »Israel-Vergessenheit« der altkirchlichen Bekenntnisse[3] muss und kann m.E. mit Hilfe von Grundaussagen der paulinischen Theologie und Christologie biblisch-theologisch aufgebrochen werden.[4]

Ich werde dazu im Folgenden drei Argumentationszusammenhänge aus der paulinischen Theologie verfolgen: Zuerst werde ich biographische Implikationen des christologischen Grundbekenntnisses: |87|»Jesus [ist] Christus« benennen. Anschließend werde ich das paulinische Christusbekenntnis in den Rahmen des biblisch-jüdischen Gottesverständnisses einordnen. Schließlich werde ich zwei Grundaussagen paulinischer Christologie etwas näher beleuchten, in denen Paulus die Zugehörigkeit Jesu zu Israel und die Beziehung seines Dienstes auf das Geschick Israels explizit zur Sprache bringt. Während ich die beiden ersten Themen nur ganz knapp ansprechen kann, werde ich die beiden letzten etwas näher exegetisch entfalten.

1. Zur christologischen Interpretation des Namens Jesu bei Paulus

In dem jüdischen »Allerweltsnamen« Jesus, der ein Grundelement der frühesten christlichen Bekenntnisbildung ausmacht,[5] steckt ein unverkennbar biographisches Element. Es verweist auf das geschichtlich-konkrete Leben eines Juden dieses Namens im Land Israel in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. Gerade weil der Name Jesus von sich aus keinerlei christologische Bedeutung in sich trägt,[6] musste er im Neuen Testament erst aufwändig mit biblischem Sinn gefüllt |88|werden,[7] was im Umkehrschluss den kontingent-geschichtlichen Charakter dieses Bekenntniselements umso stärker herausstellt. Es ist bezeichnend für die christologischen Aussagen im Neuen Testament, dass der Personenname Jesus und damit der Bezug auf diese eine geschichtlich-kontingente Gestalt für die Christologie konstitutiv ist, was im Horizont frühjüdischer messianischer Erwartungen durchaus prägnanten Sinn ergibt. Zwar muss es sich bei dem Messias nach frühjüdischer Überzeugung immer um einen Menschen aus dem Volk Israel handeln,[8] dessen Name kann aber grundsätzlich erst im Nachhinein zu seinem Kommen benannt werden. Josephus kennt zwar einige Messias-Prätendenten seiner Zeit mit Namen, aber die sind für ihn eben gerade nicht die erwarteten Gesalbten des Herrn, sondern Gewaltverbrecher.[9] Demgegenüber bleiben die für die bevorstehende Heilszeit erwarteten messianischen Gestalten in den Qumran-Schriften,[10] in den Psalmen Salomos[11] oder in der 4. Esra-Apokalypse[12] |89|namenlos. Wenn Jesus von seinen Anhängern als Messias angesehen und benannt wird – und das ist spätestens für Paulus eine Selbstverständlichkeit –, dann impliziert diese Benennung das dezidierte Bekenntnis zu einem namentlich bekannten jüdischen Zeitgenossen als dem endzeitlichen Repräsentanten des Gottes Israels.

Die für den Ursprungszusammenhang der Jesus-Bewegung also geradezu selbstverständliche Gegebenheit, dass der Messias einen Namen trägt, und zwar den eines jüdischen Zeitgenossen, dessen Biographie und Lebenswelt in Umrissen bekannt ist, gehört zu den wenig reflektierten Aussagen christlicher Christologie. Dabei legt dieser Befund die »Leserichtung« des christologischen Grundbekenntnisses fest: »Jesus ist Christus«, das heißt eben nicht einfach: (Irgendein Jude aus Nazareth in Galiläa namens) Jesus ist der (schon lange zu erwartende, aus der Schrift bekannte und eigentlich in Betlehem zur Welt kommende) Messias (aus Israel), sondern gerade umgekehrt: Der (kaum noch zu erwartende, und wenn, dann in unterschiedlichster Weise vorgestellte) Messias ist (kein anderer als der gerade jetzt in Jerusalem zu Tode gekommene, uns gut bekannte Jude) Jesus (obwohl der doch aus Nazareth in Galiläa stammte und ganz anders aussah und wirkte als ein wie auch immer zu erwartender Messias aus Israel). Der Name Jesus definiert also den Sinn des christlichen Messiasbekenntnisses, nicht legt umgekehrt eine (oder gar »die«) traditionelle biblisch-jüdische Messiaserwartung fest, wie der christliche Messias auszusehen hat und was das christologische Bekenntnis bedeuten soll. Dass der Messias Jesus Jude ist, war sicher für diejenigen, die als erste ein solches Bekenntnis formulierten, eine Selbstverständlichkeit, und zwar einerseits, weil es im Rahmen frühjüdischer messianischer Erwartungen gar keine Alternative dazu gab, und zum andern, weil ihnen die jüdische Identität Jesu noch unmittelbar vor Augen stand.[13] Für die späteren Rezipienten dieses Bekenntnisses bis hin zu denen, die das Apostolikum formulierten, geriet diese Selbstverständlichkeit aber mehr und mehr aus dem Blick, und die messianische Prädikation Jesu als Messias wurde nur mehr als Eigenname »Jesus Christus« verstanden, zumal auf der Ebene griechischsprachiger Überlieferung.

|90|Noch im Zusammenhang paulinischer Briefaussagen blieb aber der biographische Aspekt des Namens Jesus unüberhörbar. Im Rahmen paulinischer Theologie und Christologie sind zwar die messianischen Beiklänge der Bezeichnung Jesu als Christus nicht mehr überall bestimmend, sie bleiben aber auch nicht ganz auf der Strecke.[14] Selbst wenn die Bezeichnung »Jesus Christus« bei Paulus schon häufig den Charakter eines Eigennamens angenommen hat, gibt es doch zentrale Passagen, für die der Gedanke der Messianität Jesu im biblisch-jüdischen Sinn weiterhin maßgeblich ist.[15] Auffällig ist dabei allerdings die Ausweitung des Wirkungsbereiches der Messianität Jesu auf die Völker. Hier schlägt sich offenkundig die spezifische Ausrichtung der Missionsverkündigung des Paulus auf Nichtjuden nieder, die zur Modifikation nicht nur seiner ekklesiologischen,[16] sondern auch seiner christologischen Überzeugungen führen musste.[17]

 

Wenn Paulus das Prädikat »Sohn« auf Jesus anwendet, kann er damit – abgesehen von dem für ihn schon traditionellen »titularen« Gebrauch[18] – verschiedene semantische Elemente ansprechen: seine |91|Abstammung von David (Röm 1,3), seine Sterblichkeit (Röm 5,10), seine irdisch-menschliche Identität (Röm 8,3), seine Gottebenbildlichkeit (Röm 8,29), sein Leidensgeschick (Röm 1,32; Gal 2,20), seine Geburt von einer Frau (Gal 4,4). Alle diese Bedeutungselemente verweisen auf die menschliche Kreatürlichkeit Jesu. Sie stehen z.T. unmittelbar neben Prädikaten, die seine Göttlichkeit oder seine Heilsbedeutung betonen.[19] Der Terminus »Sohn« hat damit bei Paulus einen Doppelsinn: Er bezeichnet zugleich ein biographisches und ein christologisches Element. Besonders augenfällig ist das im Präskript des Römerbriefs, wo Paulus Jesus zweimal »Sohn Gottes« nennt, einmal umfassend zur Bezeichnung der Gottessohnschaft Jesu, wie sie auch sonst die paulinische Christologie bestimmt (V. 3),[20] das andere Mal, wohl unter Heranziehung eines schon traditionell gewordenen Bekenntnisses, zur Bezeichnung Jesu als »eingesetzt zum Sohn Gottes […] von der Auferstehung der Toten her« (V. 4).[21] Auch an dieser Stelle bleibt die Rückbindung des christologischen Bekenntnisses an den Namen des Messias aus Israel, des Nachkommens Davids »dem Fleisch nach« (κατὰ σάρκα), für Paulus konstitutiv,[22] ob nun »präexistent« oder »adoptianisch« gedacht, wie schon die sprachliche Struktur des Präskripts mit Chiasmus und inclusio zeigt.[23]

|92|2. Monotheismus und Christologie

Dass Paulus Jesus Sohn Gottes und Kyrios nennen kann, ja, einmal sogar Gott (Röm 9,5),[24] stellt keine Gefährdung seines Grundbekenntnisses zu dem einen Gott Israels dar.[25] Vielmehr schlägt sich hierin die für die früheste christologische Bekenntnisbildung insgesamt maßgebliche Bindung an das frühjüdische Gottesverständnis nieder. Das Bekenntnis zu Jesus als dem endzeitlichen Repräsentanten und Bevollmächtigten Gottes entwickelte sich im Rahmen frühjüdischer Glaubensüberlieferungen[26] geradezu »explosionsartig«[27] aus der Wahrnehmung des »Jesus-Phänomens«, des Geschehenszusammenhangs von Wirken, Todesgeschick und Auferweckung Jesu.[28] Im Frühjudentum vielfältig ausgeprägte Vorstellungen über Gott und seine himmlisch-transzendente Welt im Zusammenhang von Angelologie, Messianologie, Endzeit- und Gerichtsvorstellungen, im Rahmen von |93|Weisheitsspekulationen oder in verschiedenen Formen der Verehrung des Namens Gottes[29] wurden schon in den frühesten christlichen Gruppen mit Zentralaussagen über Jesus verbunden, dem Bekenntnis zu seiner Auferweckung, soteriologischen Deutungen seines Sterbens, Geisterfahrungen in den Missionsgemeinden oder auch der Beauftragung zur Völkermission. Auch hier prägte letztlich das Wissen um Jesus die »Leserichtung« der Bekenntnisaussagen: seine Herkunft aus Israel, sein Wirken als Jude, sein Geschick in Jerusalem. Was von Jesus bekannt war, bestimmte, in welchem Sinne er als endzeitlicher Repräsentant Gottes, als Messias Israels zu verstehen war.

Offensichtlich gehörte also das Wissen darum, dass Jesus als Jude und im Verstehensrahmen des jüdischen Glaubens gewirkt hat, zu den fundamentalen Voraussetzungen der nachösterlichen Bekenntnisbildung. Bei der Entfaltung christologischer Aussagen in allen neutestamentlichen Schriften bis hin zur Johannes-Offenbarung wurde geradezu peinlich darauf geachtet, das Bekenntnis zu dem einen Gott Israels nicht durch das Bekenntnis zu Jesus, dem Christus und Sohn Gottes, zu gefährden.[30] In einem chronologisch äußerst knapp bemessenen Zeitraum kam es dabei vor, neben und durch Paulus zu kreativen Neubildungen von Vorstellungen, Aussagen und Lebensformen frühchristlicher Gruppen, die zwar in einem durchweg frühjüdisch geprägten und bestimmten Milieu entstanden, aber aufgrund ihrer Bindung an das »Jesus-Phänomen« bereits den Keim zur Herausbildung einer eigenständigen »christlichen« Gruppenidentität in sich trugen. Bemerkenswerterweise blieb dabei selbst in frühchristlichen Strömungen wie der paulinischen, wo gezielt und programmatisch die Grenze hin zu den Völkern überschritten wurde, im Gottesverständnis die Bindung an den Glauben Israels erhalten.[31] Dass dies keineswegs selbstverständlich war, zeigen Entwicklungen in anderen Gruppierungen, die erst im Ergebnis überaus komplexer Prozesse im Laufe und bis zum Ende des 2. Jh. aus dem Hauptstrom der frühchristlichen Bewegung ausgegrenzt und in der Folge zu Häretikern |94|erklärt wurden.[32] Man wird mit guten Gründen annehmen können, dass im Rahmen der kirchlichen Lehrentwicklung die Festlegung auf das Gottesverständnis Israels im Zusammenhang der paulinischen Christologie erheblich zu diesem Ergebnis beigetragen hat.[33]

3. »Geboren von einer Frau, geboren als Jude« (Gal 4,4)

Für die Herausbildung eines eigenständigen Inventars an Glaubensüberzeugungen in der nachösterlichen Jesusbewegung blieb also die Einbindung in das biblisch-frühjüdische Gottesverständnis maßgeblich. Zugleich war aber für die frühchristliche Bewegung auch die Bindung aller Glaubensüberzeugungen an das »Jesus-Phänomen« konstitutiv. Es gibt keine erhaltenen oder sicher rekonstruierbaren Quellen für eine nachösterliche Jesus-Bewegung ohne Verbindung des Glaubens an den Gott Israels mit dem Osterbekenntnis und mit christologischen Grundüberzeugungen,[34] bei aller Vielfalt solcher Glaubensaussagen.

Für die Christologie blieb darüber hinaus die Bindung aller Bekenntnisaussagen an die individuelle Lebens- und Sterbensgeschichte des Menschen Jesus aus Nazareth ein konstitutives Element. Dazu gehörte auch das Wissen um Jesus als geborenen Juden. Auch für Paulus ist dieses Wissen um die Geschichte Jesu als bekannt vorauszusetzen, |95|selbst wenn er in seinen Briefen nur selten darauf Bezug nimmt. Abgesehen von dem Namen Jesu (s.o.) weiß er immerhin um sein spezifisches Todesgeschick am Kreuz (Gal 3,1; 1 Kor 1,18.23 u.ö.), und zwar »in der Nacht« nach dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (1 Kor 11,23–26). Er kennt den vorösterlichen Zwölferkreis (1 Kor 15,5), darunter insbesondere Kefas (Gal 1,18; 1 Kor 9,5; 15,5) und Johannes (Gal 2,9), dazu Jakobus, den »Bruder des Herrn« (Gal 1,19; 1 Kor 15,7), und er weiß sogar noch von mehreren weiteren Brüdern Jesu (1 Kor 9,5).[35]

Nach Gal 4,4 bildet die kreatürlich-menschliche Geburt Jesu einen der beiden konstitutiven Pole paulinischer Christologie: Gott hat seinen Sohn gesandt, der zugleich Sohn einer Frau war.[36] Für die Geburt Jesu aus einer Frau und für seine Einweisung in den Geltungsbereich der Tora verwendet Paulus auffälligerweise in streng paralleler Formulierung dasselbe Verb[37] γενόμενον – »geworden«.[38] In der Sprache |96|der Septuaginta und des Neuen Testaments gehört es zur Schöpfungsterminologie.[39] Bei Paulus erfasst das Wort darüber hinaus aber auch den endzeitlichen Eintritt göttlicher Wirklichkeit in die Bedingungen menschlich-irdisch-geschichtlicher Existenz »als die Zeit erfüllt war«, also das, was spätere theologische Reflexion und Bekenntnisbildung »Inkarnation« genannt hat.[40] Zur Menschwerdung Jesu gehört nach Paulus demnach auch sein Leben als Israelit und gesetzestreuer Jude. Dieses Geschehen war und ist Teil der endzeitlichen Heilszuwendung Gottes zu seinem Volk Israel.[41]

Diese Initiative Gottes in der Sendung seines Sohnes hatte ein doppeltes Ziel: »damit er die unter dem Gesetz freikaufe« und »damit wir«, d.h. der Jude Paulus und seine heidenchristlichen galatischen Adressaten, »die Sohnschaft empfangen«.[42] Im Licht dieser positiven Zielbestimmungen erscheinen die bisherigen Konstitutionsbedingungen menschlichen Lebens als überwunden. Das gilt freilich für beides, für die Existenz »unter dem Gesetz«, die im Umkehrschluss von ihrem Freikauf her als Sklaverei erscheinen muss, ebenso wie für das irdisch-kreatürliche Sein aller Menschen. Die »Sohnschaft«, von der Paulus hier spricht, ist ja nicht Ausdruck für die Geschöpflichkeit aller Menschen als Gottes Kinder, sondern erhofftes und empfangenes Geschenk für diejenigen, die im Glauben an Jesus Christus ihr Heil gefunden haben,[43] also ebenso Zielbestimmung und Ergebnis der Sendung des Gottessohnes wie der Loskauf derer, die bisher »unter dem Gesetz« waren. Folglich kann auch das Sein von Juden »unter dem Gesetz« nicht anders beurteilt werden als das Geschaffensein aller Menschen durch Gott. Ebenso wenig aber wie die Geschöpflichkeit |97|aller Menschen, Juden wie Nichtjuden, als solche von Paulus negativ bewertet wird, kann es die Existenzweise von Juden, die der Tora folgen. Erst dank der Initiative Gottes in der Sendung seines Sohnes, des geborenen Juden Jesus, wird beides zu etwas durch Gott selbst Überwundenem. Das endzeitliche Handeln Gottes in Jesus Christus richtet sich also, wie auch sonst in der paulinischen Theologie, auf Israel und die Völker gleichermaßen.[44]

Zu den beiden Polen paulinischer Christologie: Sohn Gottes – Sohn einer Frau, tritt somit in Gal 4,4 als »überschießendes Element«, das im Aussagezusammenhang besonderes Gewicht trägt, der explizite Verweis auf die »jüdische Identität« Jesu. Sie wird frühjüdischer Sprache und Denkweise entsprechend durch einen Verweis auf die Tora präzisiert (γενόμενον ὑπὸ νόμον – »›geworden‹ unter dem Gesetz/dem Gesetz unterstellt«). In strukturell vergleichbarer Weise wie mit Blick auf seine eigene biographische Herkunft und Identität[45] betont Paulus damit die Zugehörigkeit Jesu zum Volk Israel und seine gesetzestreue Lebensweise als einen biographisch und theologisch gleichermaßen zentralen Gesichtspunkt seiner Christologie.[46] Die Weiterführung der Aussage in V. 5 relativiert diesen christologischen Sachverhalt keineswegs. Vielmehr bilden die Messianität und mit ihr verbunden auch das Judesein Jesu die soteriologische Basis für die Heilszuwendung Gottes zu Israel und den Völkern.[47]

|98|Dass Paulus dieses Profil seiner Christologie gerade im Galaterbrief herausarbeitet, ist umso bemerkenswerter, als ja in diesem Brief die Bindung des endzeitlichen Heilshandelns Gottes an das geschichtliche Israel zur Debatte steht. Während die in den galatischen Gemeinden aktiven Gegner diese Bindung dadurch bekräftigt sehen wollen, dass sich die bereits getauften Gemeindeglieder nachträglich auch noch beschneiden lassen, lehnt Paulus diese Forderung unter allen Umständen und mit allen argumentativen und rhetorischen Mitteln ab. Für ihn würde die Akzeptanz der Beschneidung Abkehr von der Heilszuwendung durch Christus bedeuten.[48] Das endzeitliche Heilshandeln Gottes an Israel und an den Völkern ist also nicht an den Eintritt von Nichtjuden in das geschichtliche Israel gebunden, wohl aber an die Zugehörigkeit des endzeitlichen Repräsentanten Gottes zum geschichtlichen Israel.