Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Ein für unseren Zusammenhang entscheidendes Argument Tillichs besteht darin, dass es sich bei Jesus Christus einerseits – wie auch Leiner betont – um etwas absolut Konkretes bzw. Partikulares handele. Andererseits geben Tillichs Ausführungen aber auch zu erkennen, dass dieses absolut Konkrete bzw. Partikulare keineswegs andere Partikularitäten exkludiere. Vielmehr vertrete »Jesus als der Christus« – als absolut Konkretes – »alles Partikulare«.[9] Letzteres komme in jenem zur Darstellung. Folgt man der Logik dieser Gedankenführung, befände sich der von Leiner aufgeworfene Gedanke der Partikularität Israels in einem Abhängigkeitsverhältnis zum absolut Konkreten, für das »Jesus als der Christus« steht. Beide Größen schließen sich somit nicht aus. Die Berufung auf Tillichs Position führt vielmehr zu einer spezifischen, heute aber nicht unumstrittenen Inbeziehungsetzung von »Jesus als dem Christus« und dem Gedanken der Partikularität Israels. Das aber wirft an dieser Stelle die Frage auf, worin das heuristische Potential der von Leiner geltend gemachten Unterscheidung zwischen dem absolut Konkreten und dem Partikularen für den Umgang mit der These von der Israel-Vergessenheit des Apostolikums liegen kann.

Die Kriterienfrage bildet sodann die Leitperspektive für die Überlegungen Leiners zum Verständnis von außerbiblischen Texten der Christentumsgeschichte. Auch um mit den Abweichungen dieser Texte von der biblischen Überlieferung umgehen zu können, sei es erforderlich, verstehenstheoretische Vorentscheidungen zu treffen. Die hermeneutischen Reflexionen Leiners sind von einem Schriftverständnis geleitet, das besagt, dass in der Bibel eine von Christus her bestimmte »Dynamik« angelegt sei, die sich in späteren Texten |117|der Christentumsgeschichte als eine »Rekapitulationsdynamik« niederschlage. Die Aufgabe der theologischen Hermeneutik bestehe dementsprechend darin, Texte der Christentumsgeschichte aus der von Christus als Mitte des Neuen Testaments bestimmten Dynamik heraus zu verstehen. Dieses Verstehen gelinge, wenn folgende zwei Kriterien veranschlagt werden: »ob und inwieweit sie [sc. die Texte der Christentumsgeschichte, G.N.] Jesus Christus entsprechen und ob und in wie weit sie als Evangelium, als frohe Botschaft von der Liebe Gottes, rezipiert werden können«. An das von Leiner andeutungsweise dargelegte hermeneutische Programm möchte ich drei Anfragen richten.

1) Die erste Frage betrifft die Feststellung, dass die neutestamentlichen Schriften »eine Dynamik enthalten, die von Leben, Lehre und Geschick Jesu Christi ausgeht«. Diese Dynamik wird mit dem Ausdruck der »Sprach-Bewegung« verbunden und als eine »semiotische« Kategorie ausgewiesen. Sowohl der Begriff der Dynamik als auch der der Sprach-Bewegung sind in dem Referat Leiners aber nur thetisch eingeführt worden. Um dem vorgeschlagenen Schriftverständnis besser nachdenken zu können, wäre eine Näherbestimmung beider Begriffe genauso hilfreich wie der Ausweis des Möglichkeitsgrunds ihrer Synthetisierbarkeit. Eine Konkretion wäre nicht zuletzt des zentralen systematisch-theologischen Stellenwerts wegen wünschenswert, der sich an mindestens zwei Gesichtspunkten ablesen lässt. Zum einen scheint die Verknüpfung des Dynamik-Begriffs mit dem des Sprachgeschehens die Funktion zu besitzen, den »garstige[n], breite[n] Graben« (Lessing) der Geschichte zu überbrücken, der zwischen dem Neuen Testament und späteren Texten der Christentumsgeschichte besteht. Zum anderen versucht Leiner damit ausdrücklich die Starrheit des reformatorischen Schriftprinzips aufzubrechen, was aber indirekt auch bedeutet, an diesem grundsätzlich festzuhalten. Gerade der letzte Gesichtspunkt fordert zur Diskussion heraus. Denn spätestens seit der Aufklärung befindet sich dieses Prinzip – mit Wolfhart Pannenberg gesprochen – in einer Krise.[10]

|118|2) Die zweite Frage zielt auf die konkrete Bedeutung der beiden von Leiner veranschlagten Kriterien. Für die Näherbestimmung des ersten Kriteriums, also der Entsprechung der Bekenntnisformulierung mit »Jesus Christus«, kämen eine Vielzahl von Elementen in Betracht, was Leiner auch indirekt andeutet, wenn er bemerkt, von »Jesus von Nazareth, seinem biblischen Bild und den historischen Rekonstruktionen« ausgehen zu wollen. Doch welche christologischen Elemente sind es im Einzelnen, mit denen spätere Texte der Christentumsgeschichte verglichen werden sollen? Die Dringlichkeit dieser Frage resultiert nicht zuletzt daraus, dass das historisch-kritisch rekonstruierte Jesusbild vom biblisch überlieferten grundlegend abweichen kann.[11] Die hier formulierte Anfrage gilt aber gleichermaßen für das zweite Kriterium – die Liebe Gottes. Auch hier wären für das Verständnis dieses Ausdrucks konkretisierende Bestimmungen hilfreich. Das gilt umso mehr, als der Ausdruck in den synoptischen Evangelien nur einmal auftaucht (Lk 11,42)[12] und in den anderen neutestamentlichen Schriften auch nicht einheitlich verwendet wird. Hinzu kommt, dass dieser Ausdruck innerhalb der Christentumsgeschichte vielfachen Wandlungen unterworfen ist, die sich nicht ohne Weiteres auf die biblische Überlieferung abbilden lassen.[13]

|119|3) Leiner interpretiert den Text des Apostolikums ausschließlich mittels der beiden genannten Kriterien. Die diesem Text immanente Bedeutung wird dabei nur am Rande gestreift und die Situation, in der dieser Text entstanden ist, sowie die wechselvolle Entstehungsgeschichte, die – wie oben im Anschluss an Kattenbusch angedeutet wurde – Ausdruck eines hochkomplexen geschichtlichen Werdens ist, nicht berührt. Hieran schließt die Frage an, ob es nicht – gerade auch aus hermeneutischen Gründen – sachgemäß wäre, gegenüber dem zweiten Artikel eine Text- und eine Situationshermeneutik vorzunehmen, um die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen in die gedankliche Beurteilung der darin getroffenen Aussagen miteinzubeziehen und das Apostolikum damit als Ausdruck gelebter Frömmigkeit verständlich zu machen.

|120|Weiterführende Fragen

1 Können Sie die kritischen Rückfragen des Respondenten an die beiden Aufsätze nachvollziehen? Erscheinen Sie Ihnen berechtigt?

2 Was halten Sie von der Unterscheidung von »wesentlichen« und »unwesentlichen« Aspekten dessen, was den Christus ausmacht?

3 Reflektieren Sie, welche Aspekte der irdischen Existenz Jesu Christi grundlegende Bedeutung für das Heil haben: sein Menschsein, sein Judesein, seine individuelle Konkretheit, seine Geschlechtlichkeit und sein Mannsein? Inwiefern kommt diesen Aspekten im Blick auf das Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi unterschiedliche Tragweite zu?

Fußnoten

1

»Die kirchliche Predigt und Unterweisung muß ständig von neuem das Paradox betonen, daß der Mensch Jesus ›Christus‹ genannt wird – ein Paradox, das oft verlorengeht, wenn in Liturgie und Homiletik ›Jesus Christus‹ als Eigenname gebraucht wird« (P. TILLICH, Systematische Theologie II, Berlin/New York 1987, 108).

2

Damit ist bereits eine erste Pointe verbunden. Denn Niebuhr signalisiert damit von vornherein, dass Paulus kein geeigneter Kandidat dafür ist, Jesus von Nazareth aus der Christologie zu verbannen – und das gilt eben auch für die paulinische Christologie selbst. Es dürfte Konsens sein, dass der von Martin Kähler und Rudolf Bultmann geltend gemachte Hinweis auf 2 Kor 5,16 sich als philologisch und exegetisch nicht belastbar erwiesen hat. Bultmanns Ruf danach, den Χριστὸν κατὰ σάρκα (d.h. den »irdischen Jesus«) »brennen« zu lassen (vgl. R. BULTMANN, Zur Frage der Christologie [1927], in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1933, 85–113, 101), ist längst verhallt.

3

Vgl. – je unterschiedlich akzentuiert – TILLICH, Systematische Theologie II (s.Anm. 1), 107–109; W. PANNENBERG, Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in: DERS., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971, 22–78, 63.66.

4

F. KATTENBUSCH, Das apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein Beitrag zur Symbolik und Kirchengeschichte II: Verbreitung und Bedeutung des Taufsymbols (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1900), Hildesheim 1962, 959. Auch wenn das vermutlich in Rom entstandene Taufsymbol von Kattenbusch so früh datiert wird, hält er ausdrücklich fest: »Direkt apostolisch kann es freilich auch nicht sein« (ebd.).

5

F. KATTENBUSCH, Das apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein Beitrag zur Symbolik und Kirchengeschichte I: Die Grundgestalt des Taufsymbols (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1894), Hildesheim 1962, 59.

6

Vgl. KATTENBUSCH, Das apostolische Symbol II (s.Anm. 4), 490–494 (bes. auch Anm. 21) sowie 541–562. Darauf weist auch A. HARNACK, Apostolisches Symbol, RE3 1 (1896), 741–755, 744, hin.

7

KATTENBUSCH, a.a.O., 542.

8

Ebd. Bemerkenswert ist zudem, dass Kattenbusch den »›paulinischen‹ Charakter von R« (a.a.O., 545) herausstellt.

 

9

P. TILLICH, Systematische Theologie I, Berlin/New York 1987, 24.

10

Exemplarisch sei hier auf eine sehr pointierte Formulierung Wilhelm Herrmanns verwiesen: »Aber die Autorität der heiligen Schrift? Sie ist in dem Sinne, daß sie vor allem andern feststehen soll und als letzter Grund des Glaubens vorausgesetzt wird, in der evangelischen Theologie grundsätzlich beseitigt. Ob sie in diesem Sinne wieder herzustellen sei, kann erst diskutiert werden, wenn eine theologische Gruppe sich entschließt, die geschichtliche Forschung von der Bibel fernzuhalten. Das ist bisher nicht der Fall« (W. HERRMANN, Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens [1892], in: DERS., Schriften zur Grundlegung der Theologie I. Mit Einleitungen und Anmerkungen, hg.v. P. Fischer-Appelt, München 1966, 149–185, 175f.).

11

Leiner selbst changiert zudem in der Verwendung der Ausdrücke »Jesus«, »Christus« und »Jesus Christus« und vermittelt damit den Eindruck, sie synonym zu verwenden, was sich aber in historisch-kritischer Perspektive nicht von selbst versteht. Gerade die Verschmelzung des Eigennamens Jesus mit dem Messiastitel stellt ein exegetisches und systematisch-theologisches Problem dar, das sowohl bezogen auf das historische Subjekt Jesus von Nazareth als auch im Hinblick auf die, die ihn als Christus anerkannt haben, gilt. Diese Unschärfe spiegelt sich auch in der Bestimmung des ersten Kriteriums für die Beurteilung von Rekapitulationsdynamiken unmittelbar wider. Am Orte seiner Einführung spricht Leiner von der Entsprechung mit »Jesus Christus«. Im 5. Abschnitt, in welchem er die beiden Kriterien auf den zweiten Artikel anwendet, ist in der Überschrift hingegen nur von der »Menschlichkeit Jesu« und in der einleitenden Passage sowohl von »Jesus von Nazareth« als auch von »Christus« die Rede.

12

Die Genitivverbindung τὴν ἀγάπην τοῦ θεοῦ ist hier aber im Sinne der Liebe zu Gott zu übersetzen.

13

Zur Illustration sei auf die Interpretation der Genetivverbindung ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ aus Röm 5,5 verwiesen, zunächst auf Luthers – durch Augustinus inspirierte – Auslegung, die er in seiner Römerbriefvorlesung 1515/1516 vorgenommen hat. Der Reformator weist die Wortverbindung als einen genitivus objectivus aus und interpretiert diese wie folgt: »Darum ist zu beachten: Es heißt ›Liebe Gottes‹. Denn durch sie lieben wir Gott allein. Hier ist nichts Sichtbares, nichts Erfahrbares, weder innerlich noch äußerlich, auf das man sein Vertrauen setzen könnte oder das man lieben oder fürchten könnte; sondern hoch hinweg über alle Dinge wird sie in den unsichtbaren, unerfahrbaren, unbegreifbaren Gott hineingerissen, mitten hinein in die inwendige Finsternis, ohne daß sie weiß, was sie liebt, aber wohl weiß, was sie nicht liebt […]« (Ideo notandum, quod ›Charitas Dei‹ dicitur, quia per eam solum Deum diligimus, ubi nihil visibile, nihil experimentale nec intus nec foris est, in quod confidatur aut quod ametur aut timeatur, sed super omnia in invisibilem Deum et inexperimentalem, incomprehensibilem, sc. in medias tenebras interiores rapitur, nesciens, quid amet, sciens autem, quid non amet […]) (M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516. Lateinisch-deutsche Ausgabe I, Darmstadt 1960, 332f.). In der neueren Kommentarliteratur wird die »Liebe Gottes« aus Röm 5,5 sowohl im Sinne eines genitivus subjectivus als auch im Sinne der Liebe zu Gott übersetzt, vgl. zur ersten Variante E. KÄSEMANN, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 21974, 125; O. MICHEL, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 141978, 181; U. WILCKENS, Der Brief an die Römer I (Röm 1–5), EKK VI/1, Zürich u.a. 1978, 293; zur zweiten Möglichkeit vgl. P. STUHLMACHER, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 21998, 75. Schon an diesem einen Beispiel lässt sich somit verdeutlichen, dass der Sinn des Ausdrucks »Liebe Gottes« erläuterungsbedürftig ist.

[Zum Inhalt]

|121|II. »… der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrauen Maria«

Gottes Schöpferwort in seiner Schöpfung

Die erste inhaltliche Explikation des Bekenntnisses zu Christus als Gottessohn und Herr thematisiert das Kommen Jesu Christi in die Welt, seinen irdischen Anfang, wie er in den biblischen Geburtsüberlieferungen (nach Lukas und Matthäus) erzählt wird. Nicht genannt ist die Aussage der Inkarnation nach Joh 1,14, die aber sachlich in diesem Zusammenhang mit zu bedenken ist. Hinzuzudenken sind weiterhin Aussagen über die Sendung des Sohnes (z.B. Gal 4,4).

Sachlich geht es dabei um die Frage, wie der Mensch Jesus von Nazareth als Gottessohn beschrieben werden kann. Mit der Rede von der Zeugung durch den Heiligen Geist ist dabei bereits ein Bezug auf den dritten Glaubensartikel gegeben, womit deutlich wird, wie eng beide Artikel zusammenhängen. Mit der Rede von der Zeugung durch den Geist verbindet sich das Verständnis der Geburt Jesu als einer Jungfrauengeburt. Damit ist sachlich das Problem aufgegeben, wie diese Aussage im Kontext der Welt als Schöpfung verstanden werden kann. Zugleich stellt sich die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Mutter des Gottessohns. Zu bedenken ist dabei, wie vermieden werden kann, dass der Anfang des Menschen Jesus von Nazareth auf seine irdische Geburt reduziert wird, und wie zur Geltung kommen kann, dass sich in ihm das ewige Schöpferwort Gottes in der Schöpfung zeigt.

|123|»Kein Wort wird unwirksam sein, das von Gott kommt« (Lk 1,37)

Die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria als Erweis der schöpferischen Macht des Wortes Gottes

Gudrun Holtz

Der hier zur Debatte stehende Abschnitt aus dem Glaubensbekenntnis gehört zu seinen umstrittensten Artikeln. Dies zeigt sich in der wissenschaftlichen Theologie nicht anders als im Raum der Kirche. Die im Untertitel angezeigte Leserichtung der relevanten biblischen Texte erlaubt es, die immer wieder zu beobachtende Engführung der Diskussion, die sich kurz und knapp auf den Nenner bringen lässt: Historisch oder biologisch unmöglich und daher unglaubwürdig, in einen weiteren Horizont zu stellen und sie darin einzuordnen.

Die entscheidende Begrifflichkeit im Untertitel ist die Rede von »der schöpferischen Macht des Wortes Gottes«. Dieses Wort kann sich im Kontext der Deutung des Credo-Satzes: »Empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria«, nur auf das Schöpferwort Gottes als der ersten Person der Trinität beziehen, weil Gott es ist, der in der Geistempfängnis Jesu seine schöpferische Macht erweist. Bei dem hier auszulegenden Bekenntnissatz handelt es sich m.a.W. um den ersten Artikel im zweiten. Deshalb ist das »Wort Gottes« hier als das Wort verstanden, das von Gott ausgeht und sein schöpferisches Handeln ankündigt oder in Gang setzt. Es spiegelt sich bei Matthäus und Lukas in den Erzählungen von der Ankündigung der Geburt Jesu, die später im Apostolikum in dem hier zu erörternden Credo-Satz verdichtet wurden. Im Folgenden wird die lukanische Erzählung ins Zentrum gestellt, da sie auch sämtliche der für den Untertitel des Beitrags relevanten Aspekte der matthäischen Erzählung enthält,[1] aber darüber hinaus bei Matthäus unberücksichtigt |124|bleibende Dimensionen des schöpferischen Wortes Gottes umfasst. Zudem lassen sich vom lukanischen Befund aus unschwer Linien zum Alten Testament einerseits und zur Briefliteratur andererseits ziehen und damit zu Texten, die in den Bereich des ersten und dritten Glaubensartikels fallen. Dies erlaubt es, wie von den Organisatoren der Tagung gewünscht, die theologischen Zusammenhänge zwischen dem zweiten und den beiden anderen Artikeln des Glaubensbekenntnisses auf der Grundlage des biblischen Befundes aufzuzeigen.

Für das weitere Vorgehen bedeutet dies, dass die Dimensionen des Wortes Gottes an Maria in Lk 1 analysiert und mit dem alttestamentlichen Befund, insbesondere mit den mit der lukanischen Erzählung intertextuell verbundenen Traditionen aus dem Abraham-Sara-Zyklus, ins Gespräch gebracht werden (2.). Der zweite Hauptteil befasst sich mit Dimensionen des Schöpferwortes im Raum des dritten Artikels (3.). Dabei steht der paulinische Befund im Zentrum. Zunächst aber wird ein Überblick über die neutestamentlichen Deutungen der Herkunft Jesu gegeben (1.).

1. Die Herkunft Jesu nach dem Zeugnis des Neuen Testaments – ein Überblick

Zur Frage nach der Herkunft Jesu finden sich im Neuen Testament unterschiedliche Antworten. Dies zeigt sich nicht nur im Vergleich der Autoren, sondern teilweise auch innerhalb einzelner Schriften bzw. Textcorpora. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Positionen kurz skizziert werden.

Nach Röm 1,3 ist Jesus Christus, der Sohn Gottes, seiner leiblich-genealogischen Herkunft nach Davidide: »geboren aus (γενομένου ἐκ) dem Samen Davids nach dem Fleisch«. Über welchen Elternteil sie vermittelt wird, bleibt offen. In Gal 4,4 handelt Paulus explizit von der Herkunft Jesu mütterlicherseits: »Gott sandte seinen Sohn, geboren aus (γενόμενον ἐκ) einer Frau, gestellt (γενόμενον) unter das Gesetz.« Im ersten Satzteil könnte es sich um eine Präexistenzaussage handeln.[2] Deutlich jedenfalls ist, dass Paulus hier die jenseitig-göttliche Dimension der Herkunft Jesu Christi ins Auge fasst.[3] Demgegenüber wird im übrigen Zitat die volle Menschheit des Sohnes, seine |125|Diesseitigkeit, zum Ausdruck gebracht. Er ist, wie alle anderen auch, »aus einer Frau geboren«, wie Paulus mit einer auch in Hi 14,1 und Mt 11,11 bezeugten Wendung formuliert. Entsprechend teilt er mit allen aus Israel die Unterordnung unter das Gesetz. Die Formulierung: »geboren aus einer Frau«, ist M. de Boer zufolge »consistent with the notion of a virgin birth«, sie lasse sich aber auch mit der Vorstellung eines menschlichen Vaters vereinbaren.[4] In der Forschung werden beide Deutungen vertreten.[5]

Das Markusevangelium umgeht die Frage nach der Identität des Vaters Jesu konsequent. In Mk 3,31–33 ist von der Mutter Jesu, seinen Brüdern und Schwestern, die ihn rufen lassen, die Rede, ein Vater wird nicht erwähnt. Entsprechend heißt es im Kontext der Nazareth-Perikope in Mk 6,3: »Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder von Jakobus, Joses, Juda und Simon? Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns?« Dass Jesus als Sohn der Maria bezeichnet wird, ist im Raum des antiken Judentums unüblich, da Söhne hier den Vaternamen tragen. Einige Handschriften haben, den kulturellen Gegebenheiten der Zeit Rechnung tragend, die Stelle verändert, so dass aus Jesus, dem Zimmermann und Sohn der Maria, »der Sohn des Zimmermanns und der Maria« wurde. Möglicherweise erfolgte diese Änderung in Anlehnung an Mt 13,55: »Ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt seine Mutter nicht Maria und seine Brüder Jakobus […]?«

Im Matthäusevangelium steht diese Aussage neben der Jungfrauengeburt. Nach Mt 1,18 wird Maria während ihrer Verlobungszeit vom heiligen Geist schwanger. Ihr Verlobter, Josef, wird in V. 20 als »Sohn Davids« identifiziert, dessen Stammbaum über David bis zu Abraham zurückreicht (1,2.6.16). Sein Stammbaum ist aber zugleich der Jesu (V. 1.17). In Mt 1,16 stehen die durch Josef vermittelte Herkunft Jesu aus Israel und die Jungfrauengeburt nebeneinander: »Jakob aber zeugte (ἐγέννησεν) Josef, den Mann der Maria, aus der |126|Jesus, der Christus genannt wird, geboren wurde (ἐξ ἧς ἐγεννήθη).« Daraus ergibt sich, dass die über Josef vermittelte Davidssohnschaft nicht genealogisch begründet ist, sondern rechtlich. Denn als Verlobte waren Maria und Josef »rechtlich gesehen aneinander gebunden«.[6] Da Josef ihr keinen Scheidebrief ausstellte, war der Sohn Marias sein gesetzlicher Sohn. Zugleich aber ist der durch den heiligen Geist aus Maria gezeugte Davidssohn für das Matthäusevangelium »Immanuel, das heißt Gott-mit-uns« (V. 23). »Sohn Gottes« wird Jesus in Mt 1 aber noch nicht genannt.

In der Frage der Herkunft Jesu stimmt die lukanische Darstellung in der Geburtsankündigung Lk 1,26–38 mit der des Matthäusevangeliums überein. Auch hier stehen die Hervorbringung Jesu durch den heiligen Geist aus Maria (V. 35) und die rechtlich durch Josef vermittelte Davidssohnschaft (V. 27) nebeneinander. Dagegen heißt es in Apg 2,30 mit Blick auf David, dass einer »aus der Frucht seiner Lenden (ἐκ καρποῦ τῆς ὀσφύος αὐτοῦ) auf dem Thron Davids sitzen« werde. Die Wendung »Frucht seiner Lenden« weist auf eine biologisch-genealogisch gedachte Vermittlung der Davidssohnschaft Jesu hin, die im Horizont von Lk 1–4 mit Josef zu verbinden ist.[7] In diesen Kapiteln wird Josef wiederholt als »Vater« Jesu bezeichnet, so wie Maria als seine »Mutter«; es kann von beiden auch als den »Eltern« Jesu die Rede sein.[8] In der Nazareth-Perikope wird Jesus von den Nazarenern ausdrücklich als »Sohn Josefs« bezeichnet (4,22). Lukas sieht angesichts der offenkundigen Ambiguität der Aussagen die Notwendigkeit, den durch die Bestimmung Josefs als Vaters Jesu entstehenden Eindruck eines Widerspruchs zur Jungfrauengeburt auszuräumen. So heißt es in der Genealogie im unmittelbaren Anschluss an die Sohnesprädikation Jesu durch Gott in der Taufe (3,22), Jesus sei, »wie man annahm (ὡς ἐνομίζετο), ein Sohn Josefs« gewesen (V. 23). Damit wird deutlich, dass die Annahme einer biologischen Vaterschaft Josefs aus lukanischer Sicht unrichtig ist.[9] Das heißt aber |127|zugleich, dass es für ihn Gott ist, der Jesus ins Sein gerufen (1,35) und in diesem Sinne sein Vater ist, während Josef der rechtliche Vater ist.[10] Trotzdem bleibt der Befund im lukanischen Doppelwerk zweideutig, weil Jungfrauengeburt und eine Abkunft Jesu aus den Lenden des Davididen sich nicht harmonisieren lassen. Für das antike Denken stellt dies aber nicht zwingend einen Widerspruch dar. Hier findet sich ein solches Nebeneinander von Götterzeugung und Zeugung durch einen Mann auch sonst. In der paganen Literatur zeigt es sich in den griechisch-römischen Biographien,[11] in der biblischen-frühjüdischen Tradition im Kontext der Geburt Isaaks.[12]

 

Im Johannesevangelium stehen die Fleischwerdung des Logos (Joh 1,14) und die biologische Vaterschaft Josefs nebeneinander.[13] Der inkarnierte Logos ist der Einziggeborene vom Vater her, das ist Gott, (V. 14), der auch als der Inkarnierte auf diesen ausgerichtet bleibt (V. 18). Der dem Begriff des Vaters korrespondierende Sohnesbegriff fällt im Johannesprolog noch nicht. Von Jesus als »Sohn Gottes« ist erstmals im Kontext des Bekenntnisses des Täufers in 1,34 die Rede. Wie jedoch insbesondere aus 1,43–49 erhellt, ist der »Sohn Gottes« kein anderer als der Josefssohn. Philippus erzählt Nathanael, sie hätten den gefunden, über den Mose und die Propheten schreiben, »Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazareth« (V. 45). Nathanael bezweifelt, dass »etwas Gutes«, und das heißt hier, der Messias, aus der galiläischen Stadt kommen könne (V. 46). Die Begegnung mit Jesus führt ihn jedoch dazu, den Josefssohn aus Nazareth als »Sohn Gottes« und »König Israels« zu bekennen. Ein sachverwandter Zusammenhang ist Joh 6,41f., wo »die Juden« den Selbstanspruch Jesu, das vom Himmel herabgekommene Brot zu sein, mit den Worten hinterfragen: »Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen?« Die offenkundig unstrittige Tatsache der biologischen |128|Elternschaft Marias und Josefs steht für sie im Widerspruch zu dem Anspruch Jesu, der himmlischen Wirklichkeit zu entstammen und vom Vater gesandt worden zu sein (V. 37–40). Für Johannes zeigt sich eben darin die Fleischwerdung des göttlichen Logos.

Angesichts der Vielschichtigkeit der Darstellung spricht der Gesamtbefund des Neuen Testaments gegen die Historizität der Jungfrauengeburt. Dies gilt in eigener Weise auch für das Matthäus- und das Lukasevangelium. So sehr sie insbesondere von Lukas behauptet wird, so ist doch nicht zu übersehen, dass seine letzte Äußerung zum Thema die Herkunft Jesu aus den Lenden Davids ist. So weist die Ambiguität der Darstellung nachdrücklich darauf hin, dass die Kategorien des Historischen und Biologischen der Erzählung nicht gerecht werden. Wie im Folgenden insbesondere anhand von Lk 1 zu zeigen sein wird, handelt es sich bei der Jungfrauengeburt um eine theologische Aussage, deren Sinngehalt demgemäß theologisch erhoben sein will.