Die Entdeckung der Freiheit

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Modernität und Utopie

Zur Zeit des Eichmann-Prozesses, für Arendts politisches Denken eine besondere Herausforderung, waren Adorno und Horkheimer schon längst wieder zurück in Deutschland und in der deutschen Sprache der Eigentlichkeit. Aber die unerschöpfliche Vitalität der Bannwörter „Anpassung“, „Glück“ und „Selbsterhaltung“ erhielt sich in der kunstvoll konstruierten Erinnerung der amerikanischen Misere. Im Kampf gegen die westliche technokratische Massenkultur, die totale Entzauberung der Welt, an deren unvermeidbarem, endgültigem Ende „Auschwitz“ stand, dienten sie als Legitimationsbasis der Frankfurter Kulturkritik, die die intellektuelle Nachkriegsszene beherrschen sollte. Die Paranoia der Dialektik der Aufklärung hatte ihre Gründe in der sozialen und intellektuellen Marginalität der Exilierten, die sich ihrer kulturellen Vergangenheit beraubt fühlten und sie sich deshalb willkürlich und selektiv aneigneten: „Aufklärung“, beginnend mit dem Urbürger Odysseus, strebt zur (amerikanischen) Massenkultur, und deren totalitäre Herrschaft kulminiert im (deutschen) Faschismus. Dialektisch weitergetrieben ist Aufklärung die „radikal gewordene, mythische Angst“, die Paranoia des halbgebildeten, vergesellschafteten Kleinbürgers mit seiner vor allem gegen (gebildete) Juden gerichteten „Kastrationslust“.19 Damit sind identisch: der „vollendet Wahnsinnige“ und der „absolut Rationale“, Hitler und der Generaldirektor mit ungerührtem „Babygesicht“.20

Adornos 1942 in Los Angeles konzipierter Aufsatz „Aldous Huxley und die Utopie“ beginnt mit der pauschalen Abwertung der Motive früherer Immigranten im Unterschied zur zeitgenössischen intellektuellen Emigration. Der Einwanderer des neunzehnten Jahrhunderts kam nur, „um sein Glück zu machen […]. Das Interesse der Selbsterhaltung war stärker als das der Erhaltung des Selbst“.21 Brave New World, für Adorno nichts als das Produkt des amerikanischen „Schocks“ der Verdinglichung,22 war für Huxley ein Kommentar auf amerikanische Verhältnisse nur insofern, als in der Massentechnokratie des Einwanderungslandes sich neue, durch „social engineering“ gesteuerte Hierarchien abzuzeichnen begannen – auch das ein Aspekt der amerikanischen politischen Modernität. Für Adorno aber ist der Autor Huxley „unerbittlich“ der „Angepaßte“, der Verherrlicher der Natur, der Naturwissenschaften, der positivistische, puritanische Bürger,23 den er der gleichzeitigen „Freigabe und Erniedrigung des Geschlechts“ bezichtigt. Dabei ist ihm völlig entgangen die satirische Unterstreichung der modernen Symbiose zwischen Utopie und Dystopie, das Zusammenspiel von manipulierter (illusionärer) Freigabe der Lust – die mit Drogen kontrollierten Orgien, „orgy-porgy“ – und utopisch/dystopischer Stabilität – die biologische Programmierung der Brave New World erlaubt keine Veränderung. In bewährter Weise liest Adorno Huxley gegen den Strich, wenn er ihm unterstellt, in de Sades Revolution „die Vollendung der Narrheit folgerechter Vernunft“ zu sehen,24 um so seine eigene These von dem „objektiv“ notwendigen dialektischen Zusammenhang von Faschismus und amerikanischer Massengesellschaft zu untermauern.25 Dagegen setzte Huxleys kulturkritischer „Empirismus“ die Unmöglichkeit einer derartig „totalen“ Sicht (geschweige denn „Kritik“) der überwältigend pluralistischen Komponenten technokratischer Massengesellschaften voraus.

Der Motor der zutiefst ahistorischen eklektischen Argumentation der Dialektik der Aufklärung ist ein eschatologischer Geschichtsbegriff, der mit der Rolle des Zufalls in der Zukunft auch die Rolle vergangener zufallsbedingter Umstände verneint. Die Folge ist eine ideologische Verschlossenheit gegenüber der Potentialität der Zukunft – dem Unvorhersagbaren, Anderen –, die in der „theoretisch“ selbst-autorisierten Verfügungsgewalt über die Vergangenheit begründet ist. Diese zugleich omni-potente und verzweifelnde Rückblicksperspektive der Dialektik der Aufklärung auf die Zukunft mag 1944 in etwa verständlich gewesen sein. Aber das Vorwort zu der leicht revidierten Neuauflage von 1969 behauptete immer noch, daß die Thesen einer sich „unerbittlich“ selbst zerstörenden Aufklärung weiterhin gültig seien, daß die Verfasser die Zukunft im ganzen richtig gesehen hätten.

Adornos und Horkheimers aus dem Exil zurückgebrachte Klagen über die soziale Atomisierung durch den Faschismus der amerikanischen Kulturindustrie haben in Westdeutschland über Jahrzehnte ein großes Echo gefunden. Nach der Kultur- und Generationskatastrophe des Zweiten Weltkriegs haben Intellektuelle sich mit der „unter- oder hintergründigen Paradoxie“ getröstet, daß in der „Negativität die Positivität des Adornoschen Denkens beschlossen liegt“.26 Aber die aggressiven Vereinfachungen der Dialektik der Aufklärung haben das historische Verständnis zahlreicher Adepten verengt und sie davon abgehalten, sich auf die zeitliche Vielschichtigkeit, die Widersprüche und Brüche der deutschen Vergangenheit einzulassen – inbegriffen die außerordentliche kulturelle und intellektuelle Komplexität der europäischen Aufklärung und ihren Einfluß auf die politische Modernität Amerikas und damit auch Westdeutschlands. Die Kritische Theorie, dargelegt in Horkheimers Programmschrift Traditionelle und kritische Theorie (1937), bestand bereits nachdrücklich auf dem Primat der Theorie vor der Empirie – ganz zu schweigen von der Praxis. Dieses Primat verdankte sich also nicht erst dem Widerstand gegen die „Tyrannei des Empirismus“ in Amerika, obwohl es sich hier verstärkte, und sollte das Exil überdauern. Dafür zeugt zum Beispiel die scharfe Scheidung zwischen instrumentell subjektiver und dialektisch objektiver Vernunft, wie sie Horkheimers Festrede zur Übergabe des Rektorats der Frankfurter Goethe-Universität 1951 zelebrierte. In der „entzauberten“ (amerikanisierten, faschistoiden) Welt sind für Horkheimer Schönheit und Glück verschwunden, zur „hohlen Phrase“ herabgesunken „ohne den Schauer, der einmal die Menschen vor ihren Herrschern und Göttern ergriff“.27 Dieser Schauer muß in der Moderne das Kunstwerk auratisch vor den massenhaften Uneingeweihten schützen. Folgerichtig hatte sich Adorno in Amerika identifiziert mit Georges „asozialem“ Ästhetizismus der Verweigerung, so zu sein und zu sprechen wie die anderen: „Die Sprache ihnen rauben, der Kommunikation sich versagen, ist besser als Anpassung. […] Die Utopie des Ästhetizismus kündigt dem Glück den Gesellschaftsvertrag.“28

Das Losungswort „nicht mitmachen“, das Anpassungs- und Glücksverbot der Frankfurter in den USA, war ein Stoß ins Leere, denn der Trotz richtete sich gegen eine Gesellschaft, die eine andere Sprache spricht, schlechter allein darum, weil sie – ungelernt – unverständlich bleiben mußte. Die immanente Wirkungslosigkeit des von der Welt „befreiten“ Ästheten gebiert Paranoia: Die perfektionierte Herrschaft des „Kleinbürgertums“ in Amerika erschien Adorno als die gigantische Verschwörung der englischsprachigen Glücksgier gegen die Eigentlichkeit der deutschsprachigen Nichtanpassung. Meine obige Feststellung, daß Arendts Kulturkritik in Vita Activa, die direkte Auswirkungen auf ihre Argumentation in Über die Revolution hat, sich in einigen Punkten der Frankfurter Kulturkritik näherte, könnte mißverstanden werden: Bei aller in diesen Texten geäußerten Skepsis gegenüber einer wachsenden Technokratisierung bezieht sich Arendt ausdrücklich auf die mit anderen Beobachtern geteilte und mitgeteilte Erfahrung spezifischer naturwissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen. Mit dieser informierten, kritischen Perspektive ist sie Huxley näher als Adorno, der sich zufriedengibt mit der „emphatisch theoretischen“, verabsolutierten Ablehnung Amerikas als der „eingefrorenen Gesellschaft“ der Brave New World.29 Prinzipiell uninteressiert an den konkreten positiven und negativen Aspekten der amerikanischen Technokratie, hat Adorno denn auch nie die spezifische Modernität von Huxleys utopischer Konstruktion verstanden: Sie beruht auf der Kombination des utopischen Menschen, vorzüglich eine Erfindung der europäischen Aufklärung, mit der biotechnologisch utopischen Institution des zwanzigsten Jahrhunderts – des Jahrhunderts fiktionaler und aktualisierter Dystopien. Huxley, der Mores Utopia gelesen hatte („corruptio optimi pessima“) und Samjatins Wir, wußte sehr wohl, daß der dem künstlich konstruierten Gemeinwesen eigene Mechanismus der Selbst-Zerstörung als Auslöser die mitteilbare Einsicht des Dissenters in die dystopische Entwicklung des utopischen Gemeinwesens braucht. Wo aber die utopische Institution auf genetischer Kontrolle beruht, findet sich kein dystopischer, das heißt unabhängig denkender Dissident mehr, der sich Gehör verschaffen könnte, denn seine Argumente sind den utopischen Anderen, die sich alle gleich und damit unabänderlich solidarisch sind, prinzipiell nicht zugänglich. Die kollektive legitime Autorität, die solches unabhängige Denken – eine Gruppe von Dissidenten – stützen könnte, ist endgültig abgeschafft, und damit selbst die Idee politischer Freiheit und Gleichheit. Darum geht es in Brave New World, nicht um Glücksverbot oder Glücksgelöbnis. Mit seiner „unerbittlichen“ Abwehr der kulturellen Modernität Amerikas war Adorno uninteressiert an Huxleys Warnung, daß voraussehbare technologische Entwicklungen uns das Fürchten lehren könnten, aber auch an dem mit anderen geteilten, mitteilbaren Nachdenken über die Bedeutungen dieser besonders der westlichen Kultur inhärenten gefährlichen Möglichkeiten.

Vita Activa ist Arendts dringlichstes und auch utopistischstes Plädoyer – auf dem Hintergrund der Massenvernichtungen des Zweiten Weltkrieges – für eine relative Dauer menschlicher Kultur: die Möglichkeit, eine Zeitlang in der Welt heimisch zu sein und Spuren zu hinterlassen. Der Prolog beginnt mit der Beschreibung des ersten künstlichen Satelliten, der, wie alle Himmelskörper dem Naturgesetz der Schwerkraft unterworfen, mirakulös die Erde umkreist. Arendt teilt die allgemeine Bewunderung dieser wissenschaftlichen und technologischen Leistung, aber nicht ohne zu betonen, daß ihre Bedeutung für die Zukunft gemeinsam und öffentlich diskutiert werden müsse: „Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.“30 Das ist im Kern ihre Erfahrung der politischen Modernität Amerikas. Auf die kompliziertere, verwirrendere soziale und kulturelle amerikanische Modernität hat sie sich, darin durchaus „New York intellectual“, nicht wirklich eingelassen, was wohl auch der Grund war für ihre allzu klare Scheidung zwischen den Bereichen des „Sozialen“ und des „Politischen“ und der vereinfachend idealisierenden Rekonstruktion der amerikanischen Revolution, die nicht genügend Raum läßt für Verhandeln. Aber im Unterschied zu dem verhärteten kulturellen Elitismus der Frankfurter Schule, der Heideggers Verpönung des „Man“ durchaus nicht nachsteht, verteidigte sie in Amerika das Prinzip kultureller Pluralität. Es sollte nicht verwechselt werden mit dem heutigen globalisierenden, ideologischen Multikulturalismus, der im Kern antipluralistisch ist, weil er Identitäts-Politik auf der Basis jeweiliger Erinnerungen an vergangenes Leiden stützt und damit zu kultureller Polarisierung und Nivellierung führt. Im Kampf um die Hierarchie dauernder Privilegien unter Anrufung vergangener Zurücksetzungen und Verfolgungen – unsere Ethnie ist jetzt mächtiger als eure, weil sie vorher ohnmächtiger war – haben die kultur-politischen Strategien dieses Multikulturalismus viel von der Exklusivität und Solidarität der Erinnerungsdiskurse des Holocaust gelernt. Wie diese bedrohen und schwächen sie die in die Zukunft gerichteten Prozesse – die Natalität – einer nicht-hierarchischen kulturellen Pluralität. Die politische Praxis einer artikulierten Öffentlichkeit schien Arendt zeitweilig charakteristisch für die politische Modernität Amerikas als Erbe der amerikanischen Revolution. Heute wäre sie hier wahrscheinlich skeptischer – was ihre damaligen Einsichten in die problematischen Aspekte des politischen Zionismus um so bemerkenswerter macht.

 

Harald Bluhm

Von Weimarer Existentialphilosophie zum politischen Denken. Hannah Arendts Krisenkonzept und ihre Auffassung politischer Erfahrung

Hannah Arendt ist eine unkonventionelle Theoretikerin, die einen Großteil ihrer Karriere außerhalb akademischer Institutionen realisiert hat. Sie verstand ihr politisches Denken als theoretisch geleitete Intervention in die Praxis und hat sich durch ihre Kritiken des Totalitarismus und der Moderne einen Namen gemacht. Als engagierte Intellektuelle kämpfte sie für Demokratie und zivile Gesellschaft. Der Ausgangspunkt ihres Denkweges ist allerdings unpolitisch. „Ich habe mich“, so Arendt 1964 im Interview mit Günter Gaus über ihre intellektuelle Biographie, „in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik interessiert. Wenn ich überhaupt aus etwas ‚hervorgegangen‘ bin, so aus der deutschen Philosophie.“31 Durch den Nationalsozilismus und die Judenverfolgung erzwungen, beginnt sie sich intensiv mit Politik auseinanderzusetzen, wobei zunächst die politisch-journalistische Form dominiert. In den Büchern Origins of Totalitarianism (1951), The Human Condition (1958) und On Revolution (1963) entwickelt sie ab den fünfziger Jahren eine eigene Variante politischer Theorie, die sie politisches Denken nennt32 – diese Art der Theorie formt sie im Kontext der amerikanischen Politikwissenschaften und in deutlicher Distanz zu empirisch orientierter politischer Theorie aus. In späten Arbeiten, wie der Schrift Vom Leben des Geistes, die ich außer Betracht lasse, wendet sich Arendt zurück zur Philosophie.

Will man Arendts Weg von der Philosophie zum politischen Denken begreifen, so sind eine Reihe Fragen aufzuwerfen, etwa danach, was sie aus der Philosophie mitnimmt, wie sich ihr Denken im Exil verändert, wie sie sich in eine andere Wissenschaftslandschaft einfügt und wie sich Arendt zur politischen Ordnung der USA verhält. Theoretisch ist vor allem die Frage interessant, in welchem Verhältnis ihre dekadenztheoretische Moderne-Kritik zur Akzentuierung des Neuen, das heißt zum kreativistischen Zug ihres Politikkonzeptes steht, in dem Freiheit als Möglichkeit gemeinsam Neues zu beginnen das entscheidende Merkmal von Politik bildet. Diese vielfach miteinander verbundenen Fragen können im folgenden freilich nur exemplarisch behandelt werden.

Während in der interpretativen Literatur häufig Einflüsse existentialistischer Philosophie von Heidegger und Jaspers für begriffliche Unklarheiten und Widersprüche bei Hannah Arendt verantwortlich gemacht werden,33 möchte ich – ohne solche Schwächen in Abrede zu stellen – eine gegensätzliche Sicht verfolgen. Es sind nämlich gerade Motive existentialphilosophischen Denkens, die Arendts Weg zum politischen Denken und ihr Verständnis der amerikanischen Demokratie prägen. Mehr noch, so meine These, solche Denkmotive und ihre Transformation in eine handlungstheoretisch fundierte Krisenauffassung erlaubten es, das politische Denken als eine distinkte Form von Theorie zu entwerfen. Arendt hat allerdings kein politiktheoretisches Hauptwerk verfaßt, sondern ihr Konzept ist, wie Margaret Canovan zu Recht betont, im Zusammenhang des Totalitarismus-Buches, mit Vita Activa (der deutschen Fassung von The Human Condition) und dem Band über die Revolution zu finden.34 Ihren spezifischen Republikanismus formt Arendt in der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Revolution aus und expliziert deren paradigmatische Bedeutung für das Verständnis von Politik.

Für meine rekonstruktive Überlegung will ich erstens einige existentialphilosophische Motive skizzieren, die für Arendts Handlungskonzept und ihre Deutung von Krisen wichtig sind. Beide Themen werden über ein spezifisches Verständnis von Erfahrung verbunden, das ich zweitens knapp umreiße. Arendt überträgt und modifiziert einen Zusammenhang von Krise und Erfahrung aus der Philosophie in den politischen Bereich und reichert ihn dabei sukzessive durch eine Unterscheidung von Tätigkeitsformen sowie durch eine Verbindung mit Strukturen und Institutionen an. Um dies zu zeigen, charakterisiere ich drei Schritte von Hannah Arendt auf dem Weg zum politischen Denken und versuche dabei einen grundlegenden Zusammenhang herauszustellen, der die Totalitarismuskritik (drittens), das Handlungsmodell aus Vita Activa sowie die Deutung der amerikanischen Revolution kennzeichnet (viertens). Die Verbindung des Krisenkonzeptes mit dem, was als genuin politische Erfahrung begriffen wird, ist dabei insgesamt entscheidend.

1. Fortwirkende Motive der Existentialphilosophie

Die mit Kierkegaard und Nietzsche erfolgende Rückwendung der Philosophie zum Philosophieren, zum Denkprozeß ist ein Leitmotiv der Existentialphilosophie.35 Es ist dieser Neuansatz, der Arendt prägt. Dabei sind ihre akademischen Lehrer, Martin Heidegger und Karl Jaspers, von ausschlaggebender Bedeutung. Durch diese Autoren wird sie auf eine philosophische Auseinandersetzung aufmerksam, in der grundbegriffliche Fragen, Lebensprobleme und Erfahrungen verknüpft werden konnten. Dabei sind verschiedene Aspekte, wie das prozessuale Verständnis von Philosophie, die Methode der Destruktion, das Weltkonzept und die Bedeutung von Grenzsituationen hervorhebenswert.

Der erste Aspekte des prozessualen Verständnisses der Philosophie impliziert eine Abwendung von philosophischen Systemen und von erkenntnistheoretisch-methodologischen Fragen, wie sie lange durch den Neukantianismus dominierten. Philosophie hat es nach Heidegger und Jaspers mit dem Denken als einem unaufhörlichen Prozeß zu tun. Statt auf Metaphysik und Systembauten sei das Denken auf die lebendige Erfahrung, auf den Alltag zu fokussieren, dessen Existentiale im Sinne von Strukturen alltäglichen Lebens und deren lebensweltlichen Voraussetzungen begriffen werden. Philosophieren erscheint darüber hinaus als eine besondere Art des Denkens, die nicht instrumentell auf Praxis abzielt und die auch nicht mit den Wissenschaften, inklusive der Sozialwissenschaften, die auf bestimmte Ergebnisse aus sind, verglichen werden kann. Es handelt sich also um einen emphatischen Begriff des Philosophierens, der Arendt Zeit ihres Lebens leiten wird, und in diesem Rahmen wird sie ihr Verständnis von politischem Denken formen.

Der zweite Aspekte ist komplexer Art und schließt verschiedene Momente in sich. Für Arendt ist die Idee einer Destruktion der Tradition, die Heidegger in seiner Metaphysik-Kritik entfaltet hat, von zentraler Bedeutung. Die Methode der Destruktion ruht bei Heidegger auf zwei Prämissen, er nahm an, daß alles wahrhafte Philosophieren in Systemen und Schulen erstarrt und es daher immer wieder aus diesen Hülsen befreit werden muß. Darüber hinaus war er überzeugt, daß es in der Geschichte der Philosophie Weichenstellungen gibt. Eine solche Weichenstellung habe Platon durch das ontologische Verstellen der Seinsfrage vorgenommen. Seit dieser Zeit laufe die Philosophie in eine problematische Richtung und die Begrifflichkeit kopple sich zunehmend von den ursprünglich mit ihr verbundenen Erfahrungen ab. Um wieder neu ansetzen zu können, müsse diese Denktradition destruiert werden. Das heißt, man muß gleichzeitig die Tradition auflösen und hinter Platon zurückgehen, wenn man einen wirklichen Neuansatz finden will, und man muß die eigentlichen Fragen und Erfahrungen wieder aufdecken. Arendt ist von dieser Sicht beeindruckt und wird sie, im Unterschied zu Heidegger, in einer kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie fruchtbar machen. Der politischen Philosophie von Platon bis Marx wirft sie vor, Politik an einem ihr äußerlichen Maßstab, nämlich dem der Philosophie, zu messen. Um Politik als Politik zu begreifen, müsse man bis zu Sokrates und Homer zurückkehren. Erst dort ließen sich die Fragen und Probleme des politischen Bereiches in unverstellter Form wiedergewinnen und Einsichten in genuin politische Erfahrungen erzielen. Das Fortwirken und die Variation von Motiven Heideggers ist hier offenkundig.

Verfallsdiagnosen setzen eine Maßstab und eine Methodik voraus. Wenn Heidegger Verfall diagnostiziert und eine Entkopplung von Begriffen und Erfahrungen erkennt, so wird unterstellt, daß es authentische Erfahrungen und adäquate begriffliche Repräsentationsformen gibt. Um zu ihnen zu gelangen, ist es in der phänomenologischen Perspektive nötig, die verschiedenen Tätigkeiten bzw. Dinge auf ihre elementare Form zu reduzieren. Dabei kann sich eine Diskrepanz zwischen der Perspektive der philosophischen Analyse und dem Akteur auftun. Bei dieser Analyse wird paradigmatisch vorgegangen, und es reicht aus, wenn exemplarische Übereinstimmungen zwischen den Begriffen und Erfahrungen aufgewiesen werden können. Die exemplarische Korrespondenz dient dann als Grundlage dafür, Verfall diagnostizieren zu können, den Akteure wiederum gar nicht als einen solchen wahrnehmen müssen. Es ist diese Herangehensweise, die Arendt bei ihrer Analyse von Tätigkeiten aufnimmt. Arendt hält die Destruktion der Tradition für eine Aufgabe, die es fortzusetzen gilt, um der Gegenwart auf die Spur zu kommen. Marx, Kierkegaard und Nietzsche gelten als Theoretiker, die sich im neunzehnten Jahrhundert aus der Tradition lösen wollten, aber nicht von ihr und ihren grundlegenden Prämissen freikamen.36 Allerdings ist die Destruktion der Tradition kein rein innerwissenschaftliches Thema, da im Ersten Weltkrieg beginnend und mit dem Totalitarismus sich vollendend der faktische und evidente Bruch mit der abendländischen philosophisch-humanistischen Tradition erfolgt ist.

Drittens hat für Arendt das Heideggersche Weltkonzept eine enorme Bedeutung.37 Welt bedeutet die Konstituierung von Gemeinsamkeiten in Interaktion. Das so konstituierte Gebilde wird aus einer Vielzahl von Perspektiven getragen. Anders als Heidegger, der in der Öffentlichkeit und der modernen Gesellschaft nur die Herrschaft des Man und der Entfremdung sieht, hält Arendt positiv an der weltkonstitutiven Möglichkeit des Menschen im gemeinsamen Handeln fest. Sie greift die Kritik an der Subjektphilosophie, am Muster des souveränen Individuums auf und betont, daß gemeinsames Handeln verschiedener Akteure auf Sprache und geteilte Deutungsmuster angewiesen ist.38 Auf diesen Überlegungen basiert Arendts Verständnis von politischen Erfahrungen, für das Pluralität, Öffentlichkeit und die narrative Bewahrung gemeinsamer Deutungsmuster die wesentlichen Bezugsgrößen bilden.

 

Für die existentialphilosophischen Prägungen von Arendt sind noch zwei Punkte zu beachten, die für ihre Verknüpfung von Krisensituationen und Erfahrungen bedeutsam waren. Der erste Punkt betrifft Karl Jaspers’ Konzept der Grenzsituation. Danach kann der Mensch in Grenzsituationen zu seinem Sein vorstoßen, sich selbst transzendieren und dabei die Erfahrung der Freiheit machen. Solche Grenzsituationen sind etwa die Erfahrung von Liebe und Tod. Arendt nimmt diese Sicht in verallgemeinerter Form auf. Mit Jaspers ist sie davon überzeugt, daß der Mensch nicht auf substantielle Weise definiert werden kann. Was er ist, genauer, was er sein kann, zeige sich in seinem Tun, und zwar innerhalb verschiedener Konstellationen. Diese Überlegung wird für Arendts expressivistisches Konzept der Öffentlichkeit wichtig. Nach ihrem Verständnis enthüllt sich der Bürger im öffentlichen Tun, im dramaturgischen Handeln vor Publikum. Er kann öffentlich agierend über sich hinauswachsen. Damit ist bereits der zweite Punkt angesprochen: Indem Arendt den Gesichtspunkt der Grenzsituation und der Freiheit von Jaspers aufnimmt, löst sie sich schon früh von Heideggers Fixierung auf die Sterblichkeit und stellt auf Möglichkeiten der Generierung von Neuem ab. Arendt wird später für den Eintritt von Personen bzw. von Generationen in die Öffentlichkeit den Ausdruck zweite Geburt verwenden.

Die skizzierten existenzphilosophischen Motive, die Arendt transformiert hat, fließen nicht nur in ihr Krisenverständnis ein, sondern tragen es geradezu. Im Rahmen von Krisendeutungen denkt sie nämlich nicht nur politische Probleme, sondern entfaltet auch ihre spezifische Form politischer Theorie. Arendt macht dabei auf die Bedingungen von politischen Erfahrungen in zweifacher Hinsicht aufmerksam. Zum einen bedarf es in struktureller Perspektive bestimmter Handlungsräume für Erfahrungen, wobei die Öffentlichkeit den Raum für politische Erfahrungen bildet. Zum anderen akzentuiert sie Voraussetzungen kognitiv-hermeneutischer Art. Erfahrungen bedürfen, um als solche buchstabiert werden zu können, subjektiver Voraussetzungen, nämlich bestimmter Begriffe und Urteilskraft. Oft sind diese Voraussetzungen nicht einfach gegeben, weil eine Öffentlichkeit erst geschaffen werden muß und die überkommene Denktradition die Möglichkeit, neue Erfahrungen angemessen zu deuten, verstellt. Jedoch in Krisensituationen tritt die Unzulänglichkeit der Tradition hervor. Die Überwindung von Krisen setzt demnach die Schaffung neuer Begriffe voraus, mit denen die Erfahrungen und Situationen gedeutet werden können. Von daher verwundert es nicht, daß Arendt ähnlich wie Heidegger, der die Philosophiegeschichte zum Kern von Geschichte gemacht hat, der politischen Theorie einen hohen Stellenwert zuschreibt.

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