Die Entdeckung der Freiheit

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Die Symbiose, die in den Diskussionen zwischen einer nicht zionistischen Arendt und einem nicht mehr kommunistischen Blücher stattfand, faßte Arendt nach dem Krieg in der Selbstbeschreibung gegenüber Jaspers zusammen: „Meine nicht-bürgerliche oder literarische Existenz beruht darauf, daß ich dank meines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe und daß ich andererseits nicht davon abgelassen habe, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren.“19

Im Herbst 1939 wurde Blücher für zwei Monate interniert, im Mai 1940 Arendt. Blücher wurde dank guter Verbindung zur Witwe des Polizeipräsidenten von Paris freigelassen, Arendt nutzte die Wirren anläßlich der deutschen Besetzung von Paris, um Entlassungspapiere zu bekommen. Eine kurzfristige Lockerung der Flüchtlingspolitik der Vichy-Regierung im Januar 1941 ermöglichte es ihnen, mit dem Zug über Port-Bou, Barcelona und Madrid nach Lissabon und schließlich nach New York zu entkommen.

Die Begegnung mit den USA fand natürlich zunächst im Alltag statt. Als Arendt zu Beginn zwei Monate bei einer Familie in Massachusetts verbrachte, um ihr schlechtes Englisch zu verbessern, war sie beeindruckt von den „ganz einfachen Leuten“, denen sie begegnete. „Die Familie ist seit dem siebzehnten Jahrhundert im Lande. Beide Eltern von einem außerordentlich hohen moralischen Niveau, auffallend beim ersten Blick, sehr liebenswert. […] Dies dürfte der verfeinerte Kolonialtyp sein, großartig. Wenn es nur recht viele davon gäbe. Sehr puritanisch, aber ohne alle Vorurteile, ganz und gar tolerant, nicht selbstgerecht, sehr viel ‚Preußisches‘. Pflicht wird mit einem sehr großen P geschrieben. Der Mann hat alle Ehrenämter inne, die das Dorf zu vergeben hat.“20 Was sie an der Familie, in der sie wohnte, abgesehen von einem unpassenden Pazifismus und einem Vegetariertum, das sie an die Wandervogelbewegung in Deutschland erinnerte, beeindruckte, war ihr politisches Engagement. So schrieb die Frau einen wütenden Brief an ihren Kongreßabgeordneten, um gegen die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner zu protestieren.

Als Arendt nach dem Krieg den Kontakt zu Karl Jaspers wiederherstellte, schrieb sie ihm begeistert: „Über Amerika wäre überhaupt viel zu sagen. Es gibt hier wirklich so etwas wie Freiheit und ein starkes Gefühl bei vielen Menschen, daß man ohne Freiheit nicht leben kann. Die Republik ist kein leerer Wahn, und die Tatsache, daß es hier keinen Nationalstaat gibt und keine eigentlich nationale Tradition – bei ungeheurem Cliquenbedürfnis der nationalen Splittergruppen, der melting-pot ist großenteils noch nicht einmal ein Ideal, geschweige eine Wirklichkeit – schafft eine freiheitliche oder doch wenigstens unfanatische Atmosphäre. Dazu kommt, daß die Menschen sich hier in einem Maße mitverantwortlich für das öffentliche Leben fühlen, wie ich es aus keinem europäischen Lande kenne. […] Der große politisch-praktische Verstand hier, die Leidenschaft, Dinge in Ordnung zu bringen – to straighten things out – überflüssiges Elend nicht zu dulden, darauf zu achten, daß inmitten einer oft wirklich halsschneiderischen Konkurrenz die fair chance des einzelnen gewahrt bleibt, hat auf der anderen Seite zur Folge, daß man da, wo man nicht ändern kann, sich auch nicht kümmert. […] Der Grundwiderspruch des Landes ist politische Freiheit bei gesellschaftlicher Knechtschaft. Das letztere ist vorläufig nicht absolut herrschend.“21

Diese politische Freiheit anzutreffen, die auf der Abwesenheit eines Nationalstaats und der Verwirklichung einer Föderation beruhte, wie sie Arendt unter den entsprechenden Bedingungen für Europa erhoffte, erschien ihr wie die positive Umkehrung ihrer Kritik an der politischen Tradition der europäischen Nationalstaaten, wie ein Beweis ihrer Kritik durch die politische Praxis. Dabei erschien ihr der angelsächsische Pragmatismus als eine zusätzliche Überraschung, als eine Mentalität, die den Institutionen der Republik am besten zu entsprechen schien. Als Arendt später dieser Mentalität auch in England begegnete, schrieb sie an Blücher: „England: the most civilized country on earth, aber auch das langweiligste! […] Dabei bewundere ich kein Volk so wie die Engländer, als Volk nämlich. Alles, was wir an Amerika so gern haben, die decency, der Mangel an Verlogenheit, sic kein Getue, fairness etc. ist angelsächsisch.“22

Während sich Arendt in Massachusetts aufhielt, marschierte Hitler in der Sowjetunion ein und begannen die kontroversen Diskussionen in den USA über den Kriegseintritt, der dann im Dezember 1941 erfolgte. Blücher arbeitete als Forschungsassistent beim „Committee for National Morale“ und plädierte für den Kriegsbeitritt der USA. Später instruierte er amerikanische Offiziere über den Aufbau der deutschen und französischen Armee und gab schließlich Geschichtsunterricht für deutsche Kriegsgefangene. Arendt verdiente ihren Lebensunterhalt mit Zeitschriftenartikeln und einem Lehrauftrag über europäische Geschichte am Brooklyn-College. Vor allem aber kämpfte sie in ihrer Kolumne im Aufbau mit schneidender Schärfe für eine unabhängige und gleichberechtigte jüdische Politik der jüdischen Organisationen und ab 1943 bis zur Staatsgründung Israels gegen einen Nationalstaat und für eine jüdisch-arabische Föderation. Doch ohne jeden Erfolg. Es waren die Ergebnisse der Diskussionen in Paris, die sie hier zu politisch-programmatischen Forderungen erhob: für den Mut der Parias, für eine jüdische Armee, gegen die Weltfremdheit einer „Schnorrer- und Philanthropen-Internationale“23, gegen die verschiedenen Erscheinungsformen einer jüdischen Ausnahme durch Privilegien oder selbsternannte Auserwähltheit und gegen die Pläne, einen zionistischen Separatstaat zu gründen. „Der Versuch, nationale Konflikte zu lösen, indem man einerseits souveräne Staaten schafft und andererseits in Staatsgebilden, die sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen, Minderheitenrechte gewährt, hat in unserer jüngsten Geschichte eine derart spektakuläre Niederlage erlitten, daß man eigentlich erwarten müßte, niemand käme auch nur auf den Gedanken, diesen Weg wieder einzuschlagen.“24 Doch diese Bemühungen scheiterten vollkommen an den realpolitischen Interessen Englands, der USA und der zionistischen Organisationen.

Während dieser Zeit setzte Arendt ihre Studien zur jüdischen und europäischen Geschichte aus der Zeit in Paris fort und erweiterte sie im Lauf der folgenden Jahre unter dem Eindruck der für sie zunächst kaum zu glaubenden Nachrichten von der beginnenden Ermordung der Juden. Zwei weitere Themenbereiche sollten die Grundlagen des Totalitarismus beleuchten: das Zeitalter des Imperialismus und die Elemente der totalen Herrschaft. Alle drei Themen veröffentlichte sie als eine Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Jahr 1951.

Arendt begegnete in Amerika der Wirklichkeit einer anderen politischen Tradition, die ihren in Paris gewonnenen Einsichten über die politische Krise Europas nahekam und die sich nicht nur als Lösung der Krise der europäischen Nationalstaaten anzubieten schien, sondern auch die Hoffnung nährte, Teil einer Tradition zu sein, an der sich eine nachtotalitäre Politik orientieren könnte.

Diese republikanische Tradition erachtet Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ohne jede weltanschauliche oder metaphysische Rechtfertigung als Grundlage des Gemeinwesens. Sie ermöglicht das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten, weil Staat und Nation nicht miteinander identisch sind, weil die föderative Struktur keine Unterscheidung in Minderheiten und Mehrheiten kennt, weil die politische und rechtliche Gleichheit von der gesellschaftlichen und individuellen Verschiedenheit und Ungleichheit geschieden ist und das Recht durchgesetzt wird (das Recht, Rechte zu haben, ist dabei, wie Arendt in ihrem Kapitel über die Menschenrechte in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausführt, die Voraussetzung jeglicher Existenzsicherung) und weil schließlich die Machtteilung die Republik in ihrem Bestand sichert. „Die Teilung der Gewalten“, notierte sie in ihr Denktagebuch, „als Teilung der Souveränität. Entscheidend hierfür ist nicht die Montesquieusche Formel von Exekutive, Legislative und Judiciary, sondern die unbekümmerte Aufteilung von Befugnissen zwischen Federal Government und Staaten.“25

Diese Realität mit dem Hintergrund einer verborgenen Tradition wurde für Arendt zum Katalysator für die Entwicklung ihrer eigenen politischen Theorie. Nach Abschluß ihres Buches über die totale Herrschaft wandte sie sich Montesquieu zu, mit dem sie zugleich die USA „las“ und ihre eigene politische Theorie weiterentwickelte. Über Monate hinweg trug sie „diese komischen Montesquieu-Reflexionen“26 in ihr Denktagebuch und erwog, sie zur Grundlage eines längeren Textes zu machen, der aber nicht zustande kam. Die gleichzeitige Arbeit an den totalitären Elementen im Marxismus, an dem Phänomen der Pluralität in der Politik im Unterschied zur Philosophie und an den Fragen nach dem Neuen in der Politik und der Gründung der Freiheit ließ sie statt dessen an ein Buch in Form von drei Essays denken, in dem alles vereint wäre: „Staatsformen – Vita activa – Philosophie und Politik. Im 1. Polis, römische Republik etc. inklusive Montesquieu und Ableitung des Herrschaftsbegriffs. Auch Ideologie und Terror. – 2. Arbeiten, Animal laborans, Herstellen, Homo faber, Handeln. Moderne Gesellschaft als Arbeits- (und nicht Produktions-) Gesellschaft. 3. Philosophie und Politik. Inklusive ‚common sense‘ (Hobbes) und Geschichte als ‚Ersatz‘ der Polis.“27 Daraus wurde dann aber das Buch über die menschlichen Tätigkeiten Vita activa oder Vom tätigen Leben und der kritische Vergleich der revolutionären Gründungen in Frankreich und Amerika in Über die Revolution. Auch das Spätwerk Vom Leben des Geistes findet hier seinen Ursprung. Übrig blieben Fragmente, die erst posthum unter dem Titel Was ist Politik? veröffentlicht wurden.

 

Mit der Lektüre von Montesquieu entwickelte Arendt eine politische Theorie dessen, was sie in ihrer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin schon als vita socialis, als Erfahrungszusammenhang mit dem Nächsten beschrieben hatte. Jetzt ließ sie diesen Gedanken als politischen Kern der republikanischen Freiheit, als gemeinsame, zwischenmenschliche, quasi föderale und auf institutioneller Ebene föderative Freiheit wiederkehren. In der Art und Weise der Machtbildung und der Gesetzgebung kommt der ganze Unterschied zu den souveränen Nationalstaaten zutage: „Die zentrale Frage einer künftigen Politik wird immer wieder das Problem der Gesetzgebung sein,“ notierte sie. „Die Antwort des Nationalstaats war, daß Gesetze gibt, wer Souverän ist. […] Impliziert ist, daß Gesetze vom Willen abhängen und daß bestimmte Körperschaften oder Menschen mit der Macht zu wollen, für Andere zu wollen, ausgestattet sein müssen. […] Daß ich Macht haben muß, um wollen zu können, macht das Machtproblem zum zentralen politischen Faktum aller Politik, die auf Souveränität gründet – also aller mit Ausnahme der amerikanischen“.28 Anders das gewaltenteilige, föderative System, bei dem Macht „wieder ursprünglicherweise dadurch“ entsteht, „daß ‚in concert’ von mehreren [Gewalten, W.H.] gehandelt wird. Dadurch ist das eigentlich Destruktive der Macht, ihre Subjektivität, ausgeschaltet.“29

Dieses föderative Prinzip übertrug Arendt auf das Handeln als einem gemeinsamen Handeln, in dessen Dazwischen als einem Zusammenwirken Macht erst erzeugt und Welt im Sinne einer gemeinsamen Erfahrungswelt erst geschaffen wird. Die zweite ‚große Entdeckung‘, die sie von Montesquieu übernahm, war die Unterscheidung von Wesen und Prinzip einer Regierungsform, durch die sie erst zu einer historisch handelnden Körperschaft wird. Diese Entdeckung im Werk Montesquieus ermutigte sie zu dem Essay Ideologie und Terror: eine neue Staatsform, den sie der zweiten Auflage ihres Buches über die totale Herrschaft quasi als Krönung der ganzen Untersuchung anfügte.

Bei Machiavelli hatte Arendt den Schlüssel dafür gefunden, die philosophischen Grundlagen der Republik auf das Handeln selbst und die Freiheit auf die Verbindung von Pluralität und politischen Institutionen zurückzuführen. In ihrem Essay über die neue Staatsform verband sie Ideologie und Terror als Wesen und Prinzip der totalen Herrschaft mit der Erfahrung der Verlassenheit, und in Vita activa oder Vom Tätigen Leben und in Über die Revolution entwarf sie die Welt und die Institutionen des Handelns, von der aus sie solche Tätigkeiten und Institutionen kritisieren konnte, die diesen Zusammenhang auflösen und die Freiheit bedrohen. Kurt Blumenfeld kündigte sie diesen Essay mit den Worten an, „daß ich mit einem Bein bei Montesquieu gelandet bin und das andere wieder fest in meinem guten alten Augustin plaziert habe.“30 Die Kontinuität ihres Denkens fand hier eine entscheidende Fortsetzung.

Je mehr Arendt in die Fragen nach den philosophischen Grundlagen der Republik „hineingeriet“, um so mehr erschienen ihr die geistigen Grundlagen der amerikanischen Republik angesichts von McCarthy-Ära, Massengesellschaft und Politik der Parteimaschinen wie eine verborgene Tradition, die es wiederzubeleben gelte. „Die Passion, ‚to make the world a better place to live in‘, hat erst einmal die Welt wirklich verbessert, aber auch zur Folge gehabt, daß im Prozeß der Weltverbesserung alle vergessen haben, was es heißt ‚to live‘. So stehen die Amerikaner heute wirklich in einer ‚besten aller möglichen Welten‘ und haben das Leben selber verloren. Das ist eine Hölle.“31

1Hannah Arendt, „Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘“ (1946), in: Dies./Hermann Broch, Briefwechsel 1946 bis 1951, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1996, S. 169.

2Ebd., S. 170.

3Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929, S. 75.

4Hannah Arendt, „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“, in: Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, München 1996, S. 48.

5Ebd., S. 56.

6Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, S. 194.

7Ebd., S. 199.

8Hannah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 55.

9Brief vom 26. Juli 1941, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, hg. von Lotte Köhler, München 1996, S. 117.

10Brief vom 14. Februar 1950, in: ebd., S. 211.

11Brief vom 25. November 1936, in: ebd., S. 62.

12Walter Benjamin, Gesammelte Schriften VI, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 540.

13Brief vom 21. August 1936, in: Arendt/ Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 52f.

14Hannah Arendt, „Zur Minderheitenfrage. Brief an Erich Cohn-Bendit“ (Paris, Januar 1940), in: Dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941–1945, hg. von Marie Luise Knott, München 2000, S. 229.

15Ebd., S. 228.

16Ebd., S. 229.

17Ebd., S. 228.

18Ebd., S. 231f.

19Brief vom 29. Januar 1946, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Sauer, München 1985, S. 67.

20Brief vom 28. Juli 1941, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 120f.

21Brief vom 29. Januar 1946, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, a.a.O., S. 66f.

22Brief vom 26. Juni 1952, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 297.

23Hannah Arendt, „Ceterum Censeo“ (26. Dezember 1941), in: Dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, a.a.O., S. 32.

24Hannah Arendt, „Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?“ (17./31. Dezember 1943), in: ebd., S. 199f.

25Heft VI, September 1951, in: Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München 2002, Bd. 1, S. 131.

26Brief vom 6. Juni 1952, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 282.

27Heft XX, Mai 1954, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 482f. – Vgl. auch ihren Brief an Heidegger vom 8. Mai 1954 mit einer ähnlich lautenden Beschreibung, der sie die Bemerkungen anfügt: „Ich bin da so hineingeraten, als ich Zeit hatte, den Dingen nachzugehen, die mich schon während des Buches über totalitäre Herrschaft ständig beunruhigten. […] Den Mut dazu hole ich mir unter anderem aus den bösen Erfahrungen in diesem Lande in den letzten Jahren [die McCarthy-Ära, W.H.] und aus dem komisch-hoffnungslosen Stand der politischen Wissenschaften“; in: Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925–1975, hg. von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998, S. 146.

28Heft VI, September 1951, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 141.

29Heft VIII, Februar 1952, in: ebd., S. 184.

30Brief vom 6. August 1952, in: Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld, „… in keinem Besitz verwurzelt“, hg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg 1995, S. 62.

31Heft V, Juli 1951, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 105.

2. Deutsche Kulturkritik und amerikanisches politisches Denken

Dagmar Barnouw

Autorität und Freiheit: Hannah Arendt und die politische Modernität Amerikas

Die Frage der politischen Modernität Amerikas in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Arendts politisch-philosophischem Essayismus wird hier in der Situation nach den Ereignissen des 11. September 2001 gestellt. Das ist weniger anachronistisch, als es zunächst scheinen mag, denn diese Entwicklung begann mit Arendts kritischen Aufsätzen zum politischen Zionismus (1944–48), und hier fanden sich schon die Hauptansätze ihres politischen Denkens, vor allem die wichtige Rolle eines zukunftsorientierten politischen Handelns. Ihre in diesen Texten geäußerten Bedenken gegen die Gründung eines jüdischen Staates in der Region, zu der Zeit und unter den Umständen analysierten bereits Probleme einer theokratischen, vergangenheitsbezogenen Politik des zukünftigen Staates und eine mögliche reaktive religiopolitische Radikalisierung der Araber. Am Ende des Weltkrieges argumentierte Arendt, daß die Erinnerungsdiskurse extremer Verfolgung als Gründungsmythos des neuen Staates ein affirmativmythisches Geschichtsverständnis zur Folge haben würden, das eine Politik der kritiklosen Solidarität nicht nur duldete, sondern verlangte. Die kulturelle Zentralität des Holocaust in Fragen der Staatsgründung verstärkte auch den gefährlichen Glauben politischer Zionisten an das dem erwählten Volk – und nur diesem – verheißene Land in Palästina. Gestützt auf das prä-moderne, religio-politische Konzept „Eretz Israel“ und die ökonomischmilitärische Macht der USA, konnten die moralisch erhärteten territorialen Ansprüche des jüdischen Staates einer flexiblen, zukunftsorientierten Geopolitik im Nahen Osten nur hinderlich sein, und das auf Dauer.1

Arendt entwickelte ihre Kritik des politischen Zionismus unter dem Eindruck einer von ihr zu dieser Zeit sehr positiv gesehenen amerikanischen politischen Modernität, womit sie sich deutlich von der ebenso scharfen wie summarischen Kritik der Frankfurter Schule an der modernen Massenkultur der technokratischen Massendemokratie Amerikas unterschied. Aber bereits in The Human Condition (Vita Activa) zeigten sich Ansätze einer Kritik der westlichen Konsumkultur inklusive Technologie und Naturwissenschaften, die in manchen Aspekten derjenigen der Frankfurter ähnelt. Arendts Argumente gingen dabei von dem wichtigen Aufsatz „What Was Authority?“2 aus, in dem der Gesetzlosigkeit tyrannischer und später totalitärer Herrschaft die Gesetzmäßigkeit von Herrschaftsformen gegenübergestellt wurde, die sich auf legitime Autorität stützen können. In Vita Activa wurde dieses Thema dann weiterentwickelt zur Vorstellung des Politischen als des Bereichs der Interaktion zwischen Freien und Gleichen, in dem neue Formen der Autorität gelten – zum Beispiel in der Zuordnung von Freiheit und Autorität. Wichtig ist im Konzept des Politischen die Autorität, die es dem Individuum ermöglicht, politisch verantwortlich zu handeln. Diese Position sollte sich in Über die Revolution auf ein hier in gewisser Weise transzendierendes Verständnis des Politischen auswirken: Arendt sah die positive Besonderheit der amerikanischen Revolution eher in ihrer Motivierung durch das Ideal unbehinderter politischer Interaktion als in der utopischen Vorstellung eines besseren Lebens im ökonomischen und sozialen Bereich. Folgerichtig stützte sie sich denn auch nicht auf Jeffersons und Madisons realistischere Sicht politischer Repräsentation, für die soziale und ökonomische Impulse notwendigerweise eine Rolle spielen würden. Ihr Modell war vielmehr John Adams’ ideologisch gestrafftes Revolutionsverständnis mit seiner „positive Passion for the public good, the public Interest, Honor and Glory“, „the Principle of Virtue“.3 Mit Adams teilte sie die Vorliebe für die klassische politische Philosophie und damit das Bedürfnis für klare Unterscheidungen, auch zwischen der Freiheit politischen Handelns und der Notwendigkeit des Verhandelns, das „Prinzipien“ hinterfragen kann und oft muß.

 

Gerade die Notwendigkeit politischen Verhandelns hatte aber in Arendts früher Kritik des politischen Zionismus eine große Rolle gespielt. In der gegenwärtigen Krisensituation, außerordentlich verschärft durch die zunehmende Verbreitung von religiös-politischem Radikalismus auf israelischer und reaktiv auf arabischer Seite, sowie angesichts der Existenz von Massenvernichtungswaffen auf der ganzen Welt, ist diese Rolle noch wichtiger geworden. Wie damals geht es auch heute um Verhandeln als eine zwischen feindlichen Positionen vermittelnde Absage an alle absoluten Ansprüche und Versprechungen, inklusive machtpolitisch nützlichen „göttlichen“ Verheißungen, ob sie nun Land betreffen oder Leben. Das in Kriegs- oder kriegsähnlichen Situationen übliche Transzendieren und Abstrahieren der Todeserfahrung hat sich häufig auf solche absoluten Ansprüche gestützt, mit denen dann die radikale moralische Umwertung von Akten des Tötens verhüllt werden kann. Hinterfragt man dagegen solche Ansprüche kritisch, dann kann sich unter Umständen die im Krieg kulturell autorisierte Umkehr des Tötungsverbots auch enthüllen als krimineller Zwang zur Selbstzerstörung der eigenen Gruppe – ganz zu schweigen von der Zerstörung der restlichen Welt.4

Die Aufwertung physischer Gewalttätigkeit, die unvermeidlich zu einer generellen Abwertung individueller und kollektiver Lebenszeit führt, ist charakteristisch für extreme Situationen, und zwar in der Offensive wie in der Defensive, auf seiten der Mächtigen wie auf der der Ohnmächtigen, der eigenen und der feindlichen Gruppe. Jahrtausendelang ein ebenso vertrauter wie entsetzenerregender Mechanismus machtpolitisch motivierter Aggression, ist die moralische Inversion des Krieges im Kern irrational, denn sie leugnet die Grundvoraussetzung des menschlichen Bewußtseins: die erfahrene Realität des Todes und damit der begrenzten Lebenszeit. Im „Krieg“ gegen den Terrorismus nach den Ereignissen vom 11. September 2001 müßte der angeblich „unvermeidliche“ „Kollateralschaden“ der Zivilbevölkerung bei den militärischen Aktionen der allmächtigen USA und ihres Klientenstaates Israel ebenso ernsthaft hinterfragt werden wie die terroristischen Reaktionen der ohnmächtigen „Selbstmordattentäter“. In beiden Fällen scheint das moderne Verständnis einer mit allen anderen geteilten, begrenzten Lebenszeit aufgehoben, und damit die moderne Einsicht in die zeit- und zufallsbedingte Historizität der menschlichen Existenz, auf die sich die Bereitschaft zu politischem Verhandeln weitgehend stützt. Durch jahrzehntelange Unterdrückung ihrer Gruppe in religiösen Fundamentalismus getrieben, verlassen sich die „Selbstmordattentäter“ auf die Verheißung ihrer umstandslosen Beförderung ins Paradies, ohne Rücksicht auf die endgültige Realität ihres Sterbens und der toten und verletzten Opfer ihres Selbstopfers. Die von amerikanischen und israelischen Soldaten kollateral Getöteten und Verstümmelten werden ebenso einfach einem religiös abgeschirmten, machtpolitisch opportunen Verlangen nach dauernder Sicherheit geopfert.

Arendt entwickelte ihre spezifische Perspektive auf die amerikanische Revolution in einem Stadium ihres politischen Denkens, in dem sie sich auch mit den Implikationen des Eichmann-Prozesses auseinandersetzte. Die amerikanische erschien ihr als die einzige unter den modernen Revolutionen, die die römische Autorität der Gründung reklamierte, denn sie endete in der Constitution als Grundlage klaren und distinkten politischen Handelns in der Gegenwart und der Zukunft. Diese Gründung als Auf-Dauer-angelegt-Sein ist aber in Arendts Szenario immer noch der Kontingenz menschlicher Lebenszeit unterworfen, der für menschliche (politische) Kultur wichtigsten aller Kontingenzen: Dauer im menschlichen Maß, für eine Zeit. Auch wenn sie die amerikanische Revolution außerhalb des Bereiches sozialer Notwendigkeit ansiedelt und sie als Kampf für Freiheit (freedom) eher denn für Freiheiten oder Freizügigkeit (liberties) sieht, ist der durch Freiheit ermöglichte signifikante Neubeginn ein Neubeginn in der „Tradition“, der kulturgeschichtlichen Zeit, nicht im Mythos: die Modifizierung, nicht die Negation der historischen Notwendigkeit durch das politische Konstrukt der Constitution, der Verfassung. Hier ist die Verbindung zu dem Konzept der „Natalität“, dessen Wichtigkeit Arendt zuerst in ihrer Kritik des politischen Zionismus klar wurde, das sie in Vita Activa ausführlich thematisieren sollte und in der Gründung eines jüdischen Staates gefährdet sah. Anders als der jüdische Staat basiert die Verfassung der Vereinigten Staaten nicht auf einem Gründungsmythos, sondern auf einer für kontinuierliche Interpretationen und Neuanfänge offenen „story“, deren Sinn, Sinnhaftigkeit, Vernünftigkeit einsichtig sein, das heißt sich immer neu beweisen, neu durchsetzen muß. In dem Vortrag „Thinking and Moral Considerations“ (1971) – später die Einleitung zu Thinking (Das Denken) – wird dann epistemologisch ein Aspekt des Problemkomplexes „Autorität“ weiterentwickelt, der in Eichmann in Jerusalem psychologisch-politisch untersucht wurde: Denken als Nicht-Identifizierung, als Markierung der modernen intellektuellen Unabhängigkeit im Gegensatz zu Eichmanns totalitaristischer Unfähigkeit, für sich selbst zu denken. In der Einleitung zu Das Denken wird denn auch noch einmal explizit auf die Verbindung der „Banalität des Bösen“ mit dieser Unfähigkeit hingewiesen.5 Die Möglichkeit nicht nur zur Freiheit, sondern auch zum unabhängigen Denken wird von einer „kollektiven“ Autorität gestützt, nämlich der Autorisierung durch eine politische Gemeinschaft. Diese beruft sich explizit nicht auf von vornherein abgesprochene Solidarität und dauernde Identität, wie es zum Beispiel der politische Zionismus tut, sondern auf offene Prozesse gegenseitiger Verständigung und die sich in dieser Verständigung etablierende Gleichheit (equality).