Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

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5 Schluss und Fazit

Die Durchsicht der Forschungsbeiträge, die auf die These Trobischs reagieren, zeigt, dass der Diskussion ein gewisser Eklektizismus anhaftet und die Auseinandersetzung eher punktuell geführt wird.1 Es fehlt eine differenzierte Würdigung der Erklärungsleistung des Modells im Ganzen, das ja offene Fragen der gängigen Theorien zur Beschreibung der Entstehung des Neuen Testaments adressiert. Es ist auffällig, dass sich die Kritik schwerpunktmäßig auf den ersten Teil, den Nachweis einer Erstedition des Neuen Testaments aus dem Handschriftenbefund, bezieht, die Beobachtungen zum literarischen Konzept und zur Kohärenz der Ausgabe jedoch weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Ein großes Rezeptionshemmnis für die Ersteditionsthese stellt die Dominanz eines zumeist weitgehend unhinterfragten Zirkulations- und Sammlungsmodells dar, in dessen Rahmen die gottesdienstliche Lesepraxis als entscheidender Katalysator und die Gemeinden, die zumeist eine recht unspezifische Größe bleiben, als Instanz für die Entstehung des neutestamentlichen Kanons konzeptualisiert sind. Dieses Modell ist mit der Annahme einer einheitlichen Redaktion (und Publikation) unvereinbar.2 Die damit angedeutete forschungsgeschichtliche Ausgangslage verweist auf das Desiderat einer umfassenden Studie zur Interdependenz von Lesepraxis auf der einen und der Edition und Publikation von Büchern im frühen Christentum auf der anderen Seite. In jedem Fall ist zu konstatieren, dass v. a. die hier knapp diskutierte breite Bezeugung der Sammlungseinheiten und der Titel in den materiellen Zeugnissen (d. h. im Handschriftenbefund und in den Ostraka) sowie in den patristischen Texten in einer deutlichen Spannung zu einem dynamisch konzeptualisierten und regional diversifizierten Zirkulations- und Sammlungsmodell steht.

Anstelle der bisher zumeist punktuell geführten Auseinandersetzung mit Einzelaspekten der Ersteditionsthese, die eigentlich keine zwingenden Gegenargumente gegen Trobischs Ideen hervorgebracht hat, sollte die zukünftige Diskussion stärker die potentielle heuristische Erschließungskraft des Modells insgesamt fokussieren, auch wenn es im Hinblick auf die Entstehung der Sammlungseinheiten in der zweiten Hälfte des zweiten Jh. vielleicht etwas differenzierter modelliert werden muss, als Trobisch dies ursprünglich gedacht hat: Damit meine ich sowohl die Annahme möglicher Vorläufer der Sammlungseinheiten einer editio princeps (z. B. die Sammlung von zehn Paulusbriefen, die für Marcion bezeugt ist) als auch die Tatsache, dass eine zeitlich etwas entzerrtere Herausgabe der einzelnen Sammlungseinheiten und eventuell darauf reagierende Herausgabe auch griechischer alttestamentlicher Texte nach dem gleichen Editionsprinzip historisch wahrscheinlicher ist als die Annahme eines einzelnen Herausgebers. Durch letzteres wäre dann auch der weniger eindeutige Quellenbefund bezüglich der katholischen Siebenbriefesammlung besser erklärbar. Die These, dass das Neue Testament als ein Buch im zweiten Jh. herausgegeben wurde, ist eine missverständliche Zuspitzung der These Trobischs, die im Rahmen der Rezeption seiner These die heuristischen Potentiale verdeckt hat, die dadurch entstehen, wenn man die Konstanz der Sammlungseinheiten in den Hss. berücksichtigt.

Abschießend ist eine Auswahl solcher heuristischer Potentiale der Ergebnisse der Studie von Trobisch kurz zu skizzieren: a) Möchte man die Querbeziehungen bzw. die narrative Kohärenz der neutestamentlichen Schriften nicht dadurch erklären, dass das Neue Testament insgesamt eine im historistischen Sinne exakte Beschreibung real-historischer Personenkonstellationen zeichnet, bietet das Modell von Trobisch diesbezüglich einen nicht zu unterschätzenden Erklärungswert. b) Die Idee von Trobisch, Pseudepigraphie als Redaktionsphänomen auf der Ebene der Zusammenstellung von Sammlungen (hier muss nicht zwingend an die Erstedition aller 27 neutestamentlichen Schriften gedacht sein) zu beschreiben, stellt gegenüber der schwerer zu konzeptualisierenden Einzelverbreitungsthese eine alternative Erklärungsmöglichkeit für die Akzeptanz von Pseudepigraphen im Neuen Testament dar.3 Trobischs Grundgedanke, der editorische Schritt der Zusammenstellung von Sammlungen neutestamentlicher Schriften könne mit einem Redaktionsschritt (also einem Eingriff in die Texte selbst) zusammenhängen, ist c) nicht nur für eine „finale“ editio princeps aller neutestamentlichen Schriften konzeptualisierbar, sondern als Möglichkeit auch für „vorkanonische“ Sammlungszusammenstellungen (Paulusbriefsammlung, Evangeliensammlungen, Corpus Iohanneum). Die daraus zu gewinnende Möglichkeit, verschiedene Sammlungsstadien zu unterscheiden, enthält d) das Potential, textkritisch feststellbare Varianten im Textbefund auf die Interferenz dieser Ausgaben in der Textüberlieferung zurückzuführen. Die damit verbundenen Konsequenzen für das in der Textkritik leitende Paradigma des „Ausgangstextes“ kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Anzumerken ist lediglich, dass sich viele Textkritiker bewusst sind, dass der Text der Handschriften nicht direkt auf die Autographen zurückgeführt werden kann,4 wie sich exemplarisch an der Wortwahl Barbara Alands in einem Aufsatz von 1989 verdeutlichen lässt. Aland resümiert, „daß unsere Handschriften auf eine sehr frühe Ausgabe oder autorisierte Abschrift o. ä. (der Terminus muß offen bleiben) zurückgehen“.5 Insgesamt folgt daraus e), dass die These Trobischs in methodologischer Hinsicht zu einer reflektierten Neubestimmung des Verhältnisses insbesondere von Textkritik und Überlieferungsgeschichte sowie zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und Patristik herausfordert. Und damit sind wir zurück beim Thema dieses Bandes: Im Horizont des Modells einer editio princeps ist der Text des Neuen Testaments ein Text des 2. Jahrhunderts.

Geschätzt und bezweifelt. Der zweite Petrusbrief im kanongeschichtlichen Paradigmenstreit

Wolfgang Grünstäudl

Bei der Suche nach einem spannenden und ertragreichen Dissertationsprojekt war es nicht etwa eine Vorliebe für exotische Fragestellungen, die mich die Auseinandersetzung mit 2 Petr wählen ließ,1 sondern die Anregung durch David Trobischs kanongeschichtlichen Entwurf, in dem 2 Petr, üblicherweise ein Text, dessen Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon nicht unbedingt als geschichtlich wie theologisch unverzichtbar angesehen wird, plötzlich als zentrales, formgebendes Element der neutestamentlichen Schriftensammlung fungiert.2 Im Zusammenhang eines Editorials3 der von Trobisch bereits für das zweite Jh. angenommenen Kanonischen Ausgabe der gesamten christlichen Bibel leistet der 2 Petr in der Perspektive dieser Hypothese einen wesentlichen Beitrag zur „konzeptuellen Strategie“4 des Neuen Testaments und dient damit als unübergehbarer Scharnier- und Eingangstext für dessen exegetische und bibeltheologische Erschließung.

Das pointierte Gegenüber zweier so unterschiedlicher Verortungen des 2 Petr innerhalb des neutestamentlichen Kanons – einmal randständig, einmal zentral – reizte mich zu einer eingehenden Untersuchung der literarischen Verbindungen und der rezeptionsgeschichtlichen Karriere des 2 Petr. Aufgrund der Fülle der Fragen, die mit der historischen Einordnung dieses vermutlich jüngsten später neutestamentlichen Textes verbunden sind, lag der Schwerpunkt dabei rasch auf einleitungswissenschaftlichem Gebiet, wobei unter anderen mit der Abhängigkeit des 2 Petr von der Offenbarung des Petrus5 eine These vorgeschlagen werden konnte, die unmittelbare Folgen für die Interpretation des 2 Petr zeitigt und mittlerweile – für mich sehr erfreulich – Eingang in die Kommentarliteratur gefunden hat.6

Die Einladung zur Diskussion mit der „Dresdner Schule“ um Matthias Klinghardt, deren Anliegen es ist, die Idee einer Kanonischen Ausgabe im Anschluss an David Trobisch weiter auszugestalten und für die konkrete exegetische Arbeit fruchtbar zu machen,7 bietet nun die Gelegenheit, jenen Impuls, der mich vor Jahren zum 2 Petr geführt hatte, im vorliegenden Beitrag wieder aufzugreifen und der Frage nachzugehen, wie sich der 2 Petr in die beiden zur Zeit akzentuiertesten kanongeschichtlichen Entwürfe einfügt. Ein erster Abschnitt rekapituliert dabei sehr knapp die bekannte Rolle des 2 Petr im Rahmen des klassischen Entwicklungsparadigmas (vgl. 1), wonach dann, der Spur des vermutlich ältesten erhaltenen 2 Petr-Manuskripts (𝕻72) folgend, das von Trobisch entwickelte Editionsparadigma eingehender diskutiert wird (vgl. 2), ehe ein Blick auf die Relevanz der intertextuellen Verknüpfungen des 2 Petr diese Untersuchung beschließt (vgl. 3).

1 Der zweite Petrusbrief als Marker einer dynamischen Entwicklung

Im Rahmen der klassischen Annahme, es könne erst ab dem vierten Jh. von einem in allen seinen Teilen fest umgrenzten und mit autoritativem Anspruch versehenen neutestamentlichen Kanon gesprochen werden,1 nimmt der 2 Petr eine Sonderstellung ein, durch die im besonderen die Dynamik der angenommenen vielschichtigen Entwicklung sichtbar wird. 2 Petr greift selbst schon in ungewöhnlich hohem Maße auf unterschiedliche Text- und Traditionsbereiche zurück.2 Zum einen schafft er damit „Traditionsverknüpfungen“3, zum anderen bezeugt er die zunehmende autoritative Bedeutung genuin christlicher Texte innerhalb des frühen Christentums (besonders deutlich: 2 Petr 3,14–16) und kann somit „geradezu als ein ‚Meilenstein‘ auf dem Weg zum ntl. Kanon gelesen werden“4. Darüber hinaus – und in gewisser Weise im Kontrast dazu – wird 2 Petr nicht nur äußerst spät rezipiert (der erste sichere Zeuge ist Origenes),5 sondern bleibt zudem für lange Zeit ein Text, dessen Zugehörigkeit zum Bestand des verbindlichen christlichen Schrifttums wiederholt klar und entschieden bestritten wird. Eusebius hält etwa mit Nachdruck fest, dass die Tradition nur einen authentischen Petrusbrief kenne (vgl. h. e. 3,3,1–4) und 2 Petr als οὐκ ἐνδιάθηκος qualifiziere (vgl. h. e. 3,25,1.6), während Hieronymus berichtet, 2 Petr werde von „vielen“ ob seiner erkennbaren stilistischen Differenzen zu 1 Petr abgelehnt (vgl. vir. ill. 1, sowie ep. 120,11). Noch im sechsten Jh. formuliert der lateinische Übersetzer eines dem Didymus von Alexandrien zugeschriebenen Kommentars (enarr.) lapidar: non tamen in canone est.6

 

Da 2 Petr als einer der sieben Katholischen Briefe, die deutlich später als die Vier-Evangelien-Sammlung und die Sammlung(en) von Paulusbriefen als Schriftengruppe greifbar werden, Teil des Kanons wird,7 erlangt er jedoch zumindest indirekte kanonformative Bedeutung.8 Wichtig ist zudem, dass in der syrischen Ausprägung des neutestamentlichen Kanons die „kleinen“ Katholischen Briefe (2 Petr, 2–3 Joh, Jud) sehr spät bzw. gar nicht Aufnahme finden,9 was auch als bleibende ökumenische Herausforderung gewertet werden kann.10

2 Der zweite Petrusbrief als Zentralelement einer gezielten Publikation

Im Unterschied zur soeben skizzierten klassischen Perspektive1 steht für das Editionsparadigma eine distinkte Größe „Neues Testament“ nicht am Ende, sondern am Anfang der neutestamentlichen Kanongeschichte, die somit nicht mit der sukzessiven Entstehung, sondern mit der fortschreitenden Rezeption eines Buches zu verknüpfen ist. Die christliche Bibel (Altes und Neues Testament) verdankt sich dabei in ihrer Gestalt einem singulären Editions- und Publikationsakt, verantwortet durch Polykarp von Smyrna,2 dem „dritte[n] Gründer des Christentums“3, zur Mitte des zweiten Jh., wobei allerdings das Fehlen jeglicher frühchristlicher Erinnerung an ein solch umfassendes Unternehmen (vgl. z. B. Eusebius, h. e. 4,14) erstaunen muss.4 Besonders markant ist im Unterschied zum Entwicklungsparadigma die Annahme, bereits im zweiten Jh. bildeten neben Evangelien und Paulusbriefen auch die Katholischen Briefe mit der Apostelgeschichte eine erkennbare überlieferungsgeschichtliche Einheit („Praxapostolos“5). 2 Petr tritt in dieser Perspektive nicht zur neutestamentlichen Überlieferung hinzu, sondern ist von Anfang an ein Konstitutivum der Endredaktion des Neuen Testaments, ja seine vielfältigen intertextuellen Verknüpfungen lassen ihn überdies als Schlüsseltext einer solchen Endredaktion erscheinen.

2.1 Methodologische Grundentscheidungen

Da es bislang nicht gerade einen Überfluss an umfassenden kritischen Diskussionen der Editionsthese gibt1 und zudem die Konzeption einer Kanonischen Ausgabe meines Erachtens nicht selten aus unzutreffenden Gründen zurückgewiesen wurde,2 ist es nötig, im Folgenden etwas auszuholen, wenn die Auseinandersetzung mit einem solchen innovativen (und damit auch provokativen) Entwurf diesem auch gerecht werden soll.

Zu beginnen ist mit der Grundstruktur des Argumentationsgangs, die drei für die weitere Diskussion entscheidende Merkmale aufweist. Den Dreh- und Angelpunkt bilden die großen Majuskelhandschriften des vierten und fünften Jh. (Sinaiticus, Vaticanus, Alexandrinus, Ephraemi Syri rescriptus), in denen Trobisch die vier ältesten „Gesamtausgaben der christlichen Bibel“3 findet, die trotz ihrer deutlichen Unterschiede hinsichtlich mise en page, Anzahl und Reihenfolge der enthaltenen Schriften sowie ihrer Textgestalt so viele Übereinstimmungen bieten, dass sie, da sie nicht in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen,4 nach Trobisch auf eine gemeinsame Vorlage zurückverweisen. Von diesen vier Kodizes ausgehend, schließt Trobisch durch die Untersuchung neutestamentlicher Manuskripte aus den ersten sieben Jahrhunderten auf die Existenz dieser prägenden Vorlage bereits im zweiten Jh. zurück.5

Sodann ist wichtig zu beachten, dass die Kanonische Ausgabe als eine Gesamtausgabe der christlichen Bibel gedacht ist und aus zwei Teilen, die von Anfang an ἡ καινὴ διαθήκη und ἡ παλαιὰ διαθήκη heißen, gebildet wird. Da Trobisch seine These besonders im Hinblick auf das Neue Testament entfaltet und sie folglich vor allem im Bereich der neutestamentlichen Exegese diskutiert wird, kann dieser für die Bewertung des Entwurfs nicht unwichtige Punkt leicht übersehen werden (vgl. unten 2.5.2).

Schließlich gilt es auf der begrifflichen Ebene zu beachten, dass die Bezeichnung „Kanonische Ausgabe“ nicht eine als Kanon (im Sinne einer mit Autorität gesetzten Norm) geschaffene Ausgabe meint. Vielmehr ist sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung „ein christliches, literarisches Werk unter vielen“6 und erlangt erst im Laufe der Rezeption (rasch) breite Akzeptanz und schließlich auch normative Geltung. Anders gewendet: Das Neue Testament entsteht als Buch (genauer: als [zweiter] Teil eines Buches) und wird später zum Kanon.7 Um Missverständnisse zu vermeiden, wäre es – im Sinne Trobischs – vielleicht sinnvoller, von der „Kanonisch gewordenen Ausgabe“8 oder (mit dem Titel der englischen Übersetzung9) konsequent von der „Erstedition“ der christlichen Bibel zu sprechen.

Mit der genannten Grundstruktur (vier Majuskelkodizes als Basis, Kanonische Ausgabe aus AT und NT, Kanongeschichte als Rezeptionsgeschichte eines Buches) werden Beobachtungen zu vier Bereichen der materialen Überlieferung frühchristlicher Literatur (Kodexform, nomina sacra, Titel, Reihenfolgen) verknüpft, mit deren Hilfe Trobisch den „Nachweis“10 einer editio princeps der christlichen Bibel im zweiten Jh. zu erbringen trachtet. Ehe nun diese vier Bereiche und ihre Auswertung mit der Überlieferungssituation des 2 Petr in Beziehung gesetzt werden (vgl. 2.2–2.5), ist noch auf eine weitreichende methodologische Grundentscheidung hinzuweisen.

Am Ende seiner Argumentation formuliert Trobisch diese rückblickend folgendermaßen:

„Daraus ergab sich, daß die Geschichte der Kanonischen Ausgabe von ihren ältesten sicheren Belegen bis zu ihrem ersten Erscheinen zurückverfolgt werden sollte. Es mußten also vor allem die griechischen Handschriften untersucht werden. Die alten Kanonslisten, Zitatreihen, Echtheitsdiskussionen, Bibelübersetzungen usw., die für die dogmengeschichtliche Bewertung des Kanons wesentlich sind, brauchten nicht berücksichtigt zu werden.“11

So wertvoll der damit gesetzte Fokus auf die handschriftliche Überlieferung ist und als unhintergehbarer Impuls für die Kanongeschichtsschreibung wie die neutestamentliche Exegese meines Erachtens den bleibenden Ertrag von Trobischs Studie darstellt, so sehr ist eine solche radikale Beschränkung auf den Handschriftenbefund methodologisch kaum nachzuvollziehen.12 Eine Geschichte der christlichen Bibel respektive des Neuen Testaments kann meines Erachtens (um der Manuskripte willen!) auch dann, wenn sie als Geschichte einer Edition aufgefasst und geschrieben wird, nicht auf die Evidenz der Manuskripte beschränkt bleiben und muss ihre Vereinbarkeit mit der vielfältigen Rezeptionsgeschichte christlicher Texte samt der jahrhundertelangen Diskussion um deren Geltung und Normativiät nicht nur postulieren,13 sondern auch erweisen.14

Zu ergänzen ist, dass Trobisch selbst die geforderte radikale Beschränkung auf den handschriftlichen Befund nicht durchhält, sondern die Verwendung des Titels „Neues Testament“ für den zweiten Teil der Kanonischen Ausgabe vor allem auf der Basis frühchristlicher Literatur erschließt.15 Diese Vorgehensweise ist durchaus nachvollziehbar, da dieser Titel, wenn ich richtig sehe, in der neutestamentlichen Manuskripttradition bis zum siebten Jh. nur im möglicherweise sekundären16 Inhaltsverzeichnis des Codex Alexandrinus (dort aber mit Einschluss von 1–2 Clem)17 bezeugt ist.18

Blickt man nun auf die frühchristliche Literatur, so ist es sicher richtig, dass Clemens von Alexandrien, Origenes und Tertullian bereits den Begriff ἡ καινὴ διαθήκη zur Bezeichnung von autoritativen christlichen Schriften verwenden.19 Die Feststellung, „Clemens von Alexandrien, Irenaeus, und im frühen dritten Jh. Tertullian und Origenes benutzen mit Sicherheit die Bezeichnung Neues Testament im Sinne der Kanonischen Ausgabe“20, setzt allerdings das zu Beweisende in zweierlei Hinsicht voraus: Erstens in der Annahme, dass zu dieser Zeit eine Kanonische Ausgabe existiert und zweitens in der Annahme, dass die genannten Autoren, wenn sie die Bezeichnung ἡ καινὴ διαθήκη auf christliche Texte anwenden, dies im Hinblick auf die Kanonische Ausgabe – bestimmte 27 Texte in einem bestimmten Layout und einer bestimmten Anordnung – tun. Zudem wäre auch unter diesen Voraussetzungen der seine Polykarp-Schülerschaft betonende Irenäus von Lyon aus der zitierten Aufzählung zu streichen, da er, wie Trobisch selbst richtig anmerkt, den Begriff ἡ καινὴ διαθήκη gerade nicht in Bezug auf eine Textsammlung verwendet:21 Seit der Ankunft Christi ergeht das neue Testament über die ganze Erde (adv. haer. 4,34,4: A domini autem adventu novum testamentum ad pacem reconcilians et vivificatrix lex in universam exivit terram…) und durch den Heiligen Geist vollzieht sich zu Pfingsten die adapertio novi testamenti (adv. haer. 3,17,2).22

Allzu optimistisch urteilt Trobisch auch im Hinblick auf die bei Eusebius erhaltenen Belege aus Melito von Sardes (h. e. 4,26,13f) und einem anonymen Antimontanisten (h. e. 5,16,3). Sicherlich lässt sich die Rede des Antimontanisten vom „Evangelium des Neuen Bundes“, dem nichts hinzugefügt, noch weggenommen werden dürfe (vgl. Offb 22,18f), als Referenz auf einen geschriebenen Text verstehen – „[e]indeutig“23 ist dies nicht24 – , doch auch dann ist nicht automatisch davon auszugehen, dass der Antimontanist an die Kanonische Ausgabe denkt. Gleichfalls kann man, wenn Melito die Wendung τὰ τῆς παλαιᾶς διαθήκης βιβλία gebraucht,25 vermuten, dass ihm der komplementäre Begriff eines Neuen Testaments ebenfalls vertraut ist – allerdings sollte man beachten, dass die anschließende Aufzählung von wesentlich geringerem Umfang als die LXX-basierte Kanonische Ausgabe ist.26 Überdies ist bemerkenswert, dass der Kleinasiate Melito sich erst nach Palästina begeben muss, um sichere Auskunft über das alttestamentliche Schrifttum zu erlangen.

Um am Ende dieser wenigen grundsätzlichen Überlegungen zum 2 Petr zurückzukehren, sei an das bereits oben erwähnte Urteil des Eusebius erinnert. Als Schriften der καινὴ διαθήκη nennt Eusebius die vier Evangelien, Apg, Paulusbriefe, 1 Joh und 1 Petr, sowie mit Einschränkung Offb (h. e. 3,25,1f),27 bemerkt hingegen zu 2 Petr, er habe diesen Brief, der gleichwohl als χρήσιμος („nützlich“) gelte, als οὐκ ἐνδιάθηκος (h. e. 3,3,1; vgl. 3,25,6) empfangen. Mit dem vom Substantiv διαθήκη gebildeten Adjektiv ἐνδιάθηκος verwendet Eusebius dabei einen Begriff, welcher der Bedeutung „kanonisch“ im Sinne „einer Gruppe autoritativer christlicher Schriften zugehörig“ zumindest sehr nahe kommt.28 Unter der Annahme, dass Eusebius bezüglich des 2 Petr nur den theologischen Status einer schon seit fast zwei Jahrhunderten als Teil eines Buches namens καινὴ διαθήκη überlieferten Einzelschrift diskutiert, wäre dieser Sprachgebrauch einigermaßen überraschend.29 Vielmehr müsste Eusebius, um das, was er sagen will, korrekt auszudrücken, dann in etwa formulieren: „Zwar ist 2 Petr Teil der (καινὴ) διαθήκη, er wird aber nicht als authentischer Petrusbrief und normativer christlicher Text bewertet. Gleichwohl gilt es als nützlich, ihn zusammen mit den anderen Schriften zu verwenden.“30