Camerarius Polyhistor

Text
From the series: NeoLatina #27
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Camerarius Polyhistor
Font:Smaller АаLarger Aa

Camerarius Polyhistor

Wissensvermittlung im deutschen Humanismus

Thomas Baier

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

[bad img format]

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0037-3

[bad img format]

Inhalt

  Vorwort

 Opera Camerarii. Eine semantische Datenbank zu den gedruckten Werken von Joachim Camerarius d.Ä. (1500–1574)Die Ausgangslage: Stand der Forschung und ErschließungDas Projekt „Opera Camerarii“LiteraturverzeichnisPrimärliteraturSekundärliteratur

 Camerarius als PädagogeDie Capita pietatis et religionis Christianae versibus Graecis comprehensa ad institutionem puerilem des Joachim Camerarius (1545) und ihre kürzere Erstfassung in Melanchthons Institutio puerilis literarum Graecarum (1525)Die Capita sacrosanctae fidei, ihr Verhältnis zu den CPERC und die AutorenfrageOrt und ZeitPublikationszusammenhang und zweisprachige AusgabeGliederungProömSprache in den CPERCIntertextualität in der CPERCAspekte literarischer GestaltungZur konfessionellen Prägung der CPERCMögliche Verwendung der CPERC im UnterrichtAnhangLiteraturverzeichnisForming an Oratio de studio bonarum literarum atque artium: Joachim Camerarius’ Conspicuous Chapter in the History of European Classical ScholarshipBibliographyDas Bildungsprogramm des CamerariusEinleitungSimon GrynaeusCamerarius’ humanistisches ProgrammCamerarius als ÜbersetzerDe imitationeDas MedizinglossarCamerarius und PlatonLiteraturverzeichnisDer Libellus gnomologicus des Joachim Camerarius (1569): Bemerkungen zur Entstehungs- und Textgeschichte sowie zur pädagogischen IntentionEinleitungBeschreibung des WerkesDer Buchdrucker Ernst VögelinDie Entstehungsgeschichte des Libellus gnomologicusInhalt des Libellus gnomologicusDer Widmungsempfänger Georg Mehl von Strehlitz und die Respublica litterariaPalladius und sein Werk über die BrahmanenCamerarius’ Libellus gnomologicus: mögliche Intention(en)Zusammenfassung und AusblickAnhangLiteraturverzeichnis

 Camerarius als Gräzist und ÜbersetzerJoachim Camerarius als Defensor Herodoti: Die Widerlegung Plutarchs und der Zweck der GeschichteI. Herodots Ruf vor Camerarius’ WirkenII. Camerarius und HerodotIII. Camerarius’ Verteidigung von Herodots FrömmigkeitIV. SchlussbetrachtungLiteraturverzeichnisCamerarius and SophoclesTexts under considerationCamerarius as an under-appreciated scholarQuotations, or sententiaeAristotle & CamerariusAristotelian moral characterConclusionBibliographyJoachim Camerarius and Xenophon’s CyropaediaDating Camerarius’ work on the CyropaediaCamerarius’ reputation as an expert on XenophonRevisions to the original translation and commentaryCamerarius’ influence on school curriculaConclusionBibliographyJoachim Camerarius e la traduzione latina del Περὶ ἱππικῆς (De re equestri) di Senofonte (1539)1. Camerarius e l’ippologia2. Delectamur equis, et suave vehi esse putamus: la passione di Camerarius per i cavalli3. Il De re equestri: alcuni esempi di traduzioneBibliografia

 Camerarius und DivinationDe ostentis. Zur Verhandlung von Vorzeichen in den Werken des Joachim CamerariusAnhangLiteraturverzeichnisCamerarius’ griechische Dichtung zur Sonnenfinsternis von 1539. Edition, Übersetzung, sprachlicher KommentarTextÜbersetzungSimilienAnmerkungenDruckeHilfsmittelModerne EditionenDe generibus divinationum Camerarius und der zeitgenössische Diskurs über die Formen der MantikI. Der Widmungsbrief an Heinrich Rantzau (Bl. A2r–B4r)II. Aufbau der Schrift und programmatische AussagenIII. Inhalt des Commentarius, Einteilung der Genera und Vergleich mit dem Kommentar PeucersIII. 1. Die Einteilung der Klassen der Divination bei Cicero und PeucerIII. 2. Definition und Unterteilung der Divination bei CamerariusFazitAnhang: Joachim Camerarius an Heinrich Rantzau, 11.5.1572 (Schleswig, LASH, Abt. 127.21, Ms. 293, S. 45–47, Original mit eigenhändiger Unterschrift; in gekürzter Form abgedruckt in Camerarius 1583, 111–113)Literaturverzeichnis

 BriefeImagines amicorum Die Briefausgaben des Joachim Camerarius als literarisch gestaltete WerkeIIIIIIAusblickLiteraturverzeichnisMelanchthons Briefe an Joachim Camerarius – eine Relektüre im Horizont ihrer NeueditionI. Camerarius’ Edition von 1569 und die beiden Chigi-Kodizes J VIII 293 und 294II. Redaktionelle Eingriffe: ein Traumbild, Chiromantie und ein unliebsamer SchwiegersohnLiteraturverzeichnis

 Camerarius und das FremdeCamerarius und die TürkenfrageOratio senatoria (1542)De clade accepta (1541)LiteraturverzeichnisJoachim Camerarius on Witches, Witchcraft, and Criminal Responsibility, Or, How to Philologize with a Witches’ Hammer1. Late one restless night…2. The freakout3. Adrianus Albinus4. Pandemonium in Perleberg5. Witches in Camerarius’ Neck of the Woods6. New Worlds, Near and Far: Pico’s Strix (1523)7. Should we demonize Camerarius? Some modern parallels8. AppendixBibliography

  Sachregister

Vorwort

Joachim Camerarius d.Ä. ist bei Klassischen Philologen vor allem als PlautusPlautus-Herausgeber und als SophoklesSophokles-Kommentator bekannt und geschätzt. Doch war Camerarius nicht nur Philologe, sondern er, der das Wissen seiner Zeit überblickte, verstand sich einerseits als Vermittler von Bekanntem, andererseits als Anreger und Ermunterer, die Quellen der antiken Überlieferung nach Unbekanntem zu durchsuchen und im damals neuen Medium des Drucks zu erschließen. Der vorliegende Sammelband gibt davon einen Eindruck. Die meisten Aufsätze sind erweiterte Fassungen von Vorträgen, die anlässlich des 17. Symposiums der Reihe NeoLatina an der Universität Würzburg gehalten wurden (2.–4. Juli 2015). Das Colloquium gab den Anstoß zu einem größeren Projekt, mit dem das Ziel verfolgt wird, das Gesamtwerk des Camerarius bibliographisch und in groben Zügen inhaltlich zu erfassen. Der erste Beitrag enthält eine kurze Projektskizze der im Entstehen begriffenen Werkbibliographie. Die übrigen Studien widmen sich der Frage der Wissensvermittlung im deutschen Humanismus. Camerarius ist ein Polyhistor, der auf allen Wissensgebieten seiner Zeit tätig war. Er gab griechische und lateinische Autoren heraus und kommentierte sie, er verfasste eigene Dichtungen, er publizierte fakultätsübergreifend auf den Gebieten der Philosophie, der Theologie und der Medizin. Sein Werk enthält Schriften zur Historiographie und Biographie, zu Mathematik und Astronomie/Astrologie, zu Prodigien und Mantik. Camerarius legte umfangreiche Arbeiten zu Rhetorik, Grammatik und Lexikographie vor und fertigte eine lateinische Übersetzung der kunsttheoretischen Schriften des von ihm hochgeschätzten Albrecht DürerDürer, Albrecht an. Schließlich hat er ein gewaltiges Briefcorpus hinterlassen. Nicht zuletzt dieses erweist ihn, modern gesprochen, als einen ‚Netzwerker‘ und ‚Wissenschaftsmanager‘. Mit den hier vorgelegten Studien wird eine Schneise in das breite Œuvre des Humanisten geschlagen und der Versuch unternommen, sein wissenschaftliches Antlitz abzubilden. Das Zeitalter der Digitalisierung hat den Zugang zu den gedruckten Werken des 16. Jahrhunderts erleichtert. Es ist nunmehr an der Zeit, diesen immensen Fundus für die Frühneuzeitforschung weiter nutzbar zu machen.

Das Würzburger Symposion wurde durch die großzügige Unterstützung der Fritz Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung ermöglicht. Die Stiftung Pegasus Limited, St. Gallen, hat einen namhaften Druckkostenzuschuss gewährt. Beiden Förderinstitutionen schuldet der Herausgeber größten Dank.

Die Herstellung der Druckvorlage hat Dr. Tobias Dänzer übernommen. Ihm sei an dieser Stelle für seine Sorgfalt gedankt. Dank gebührt schließlich dem Narr Francke Attempto-Verlag und seinem Lektor Tillmann Bub, der die Reihe in bewährter Manier betreut.

Würzburg, im September 2017 Thomas Baier

Opera Camerarii. Eine semantische Datenbank zu den gedruckten Werken von Joachim Camerarius d.Ä. (1500–1574)

Thomas Baier, Marion Gindhart, Joachim Hamm, Sabine Schlegelmilch, Ulrich Schlegelmilch (Würzburg)

 

Joachim Camerarius d.Ä. gilt als „einer der vielseitigsten und einflußreichsten Gelehrten des deutschen Protestantismus des 16. Jahrhunderts“, der seinem Freund Philipp MelanchthonMelanchthon, Philipp mit allem Recht an die Seite gestellt werden kann.1 Seinem außerordentlich umfangreichen und breiten Œuvre widmet sich das Projekt „Opera Camerarii“, das am 1.1.2017 an der Universität Würzburg die Arbeit aufgenommen hat und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für drei Jahre gefördert wird. Die beteiligten Wissenschaftler aus der Klassischen Philologie, Germanistik und Frühneuzeitforschung, der Medizingeschichte und den Digital Humanities2 werden die gedruckten Werke des Camerarius sichten und in einer semantischen Datenbank erschließen. Ziel ist dabei nicht nur, diese Werke erstmals vollständig zu verzeichnen und zu erfassen, sondern vielmehr auch, die diversen Konstellationen und Denkräume zu eruieren, die ein solches Gesamtwerk ermöglicht haben. Mit Hilfe einer differenzierten Datenbankstruktur und der Vergabe definierter Attribute lassen sich die Entstehungs- und Wirkungskontexte, in denen die Opera Camerarii zu verorten sind, abbilden und für weitere konstellationsanalytische Forschungen nutzen.

Die Ausgangslage: Stand der Forschung und Erschließung

Ungeachtet seiner Wertschätzung als „hervorragendster deutscher Philologe des 16. Jahrhunderts“ nach ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius von Rotterdam1Stählin, Friedrich hat Joachim Camerarius d.Ä. in der Forschung nicht die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden. Eine aus den Quellen gearbeitete Gesamtdarstellung seiner Vita, die über die Leichenrede seines Leipziger Kollegen FreyhubFreyhub, Andreas (1574) und über die neueren (Kurz)biographien2 hinausginge, fehlt bis heute.3 Ähnlich lückenhaft ist der Forschungsstand zu seinem Œuvre, das sich auf über 880 Drucke (bis zum Jahr 1700, mit Neuausgaben) in lateinischer bzw. griechischer Sprache verteilt und durch seine Vielfalt beeindruckt: Camerarius besorgte Editionen und Kommentierungen vor allem antiker Autoren, er übersetzte aus dem Griechischen und Deutschen ins Lateinische, er schrieb Lehrbücher für den Sprach- und Rhetorikunterricht sowie pädagogische Abhandlungen, verfasste ein breites Spektrum an griechischen und lateinischen Dichtungen und ist Autor naturkundlicher, theologischer (insbesondere katechetischer), (kirchen-)historischer und biographischer Schriften. Als Beiträger ist er an zahlreichen Publikationen Dritter beteiligt, zudem ist von ihm ein großes, nur teilweise gedrucktes Briefcorpus erhalten.

Obwohl die Forschung seit jeher die Bedeutung des Camerarius als Philologe, als Polyhistor sowie als Schul- und Universitätsreformer4 erkannt hat, setzt sie sich mit seinem Gesamtwerk bisher nur selektiv auseinander.5 So liegen zu seiner Tätigkeit als Herausgeber, Kommentator und Übersetzer mehrere Einzelstudien, aber keine umfassende Darstellung vor: Beachtung gefunden haben u.a. die PlautusPlautus-Editionen,6 seine DürerDürer, Albrecht-Schriften und -Übersetzungen7 oder der SophoklesSophokles-Kommentar,8 daneben auch die vielfach aufgelegte Sammlung der Fabulae AesopAesopicae,9 die Interpretationen zu HomerHomer,10 die lexikalisch-terminologischen Hilfsmittel11 oder die Lehrbücher zur griechischen und lateinischen Sprache12. Aus der Vielzahl an Dichtungen hat das kleine Corpus der Eklogen eine überproportionale Aufmerksamkeit erfahren.13 Von weiteren Einzelstudien (etwa zu den NoricaCamerarius d.Ä., JoachimNorica sive de ostentis)14 abgesehen, ist der Großteil der Werke kaum ansatzweise untersucht. Ein Gesamtprofil zeichnet sich nur umrisshaft ab.

Vor diesem Horizont hat die neuere Forschung versucht, das unwegsame Terrain zu vermessen und Wege zu seiner Erschließung aufzuzeigen. Nach der Pionierarbeit von Frank Baron, dessen Sammelband wesentliche Impulse setzte,15 haben Rainer Kößling und Günther Wartenberg mit der Leipziger Tagung im Jubiläumsjahr 2000 die aktuelle Forschung gebündelt und neue Perspektiven eröffnet.16 Jüngste Publikationen gelten der Stellung des Camerarius in der Leipziger Universitätsgeschichte;17 neuere Lexikonartikel fassen den Forschungsstand zusammen und benennen Desiderate.18 Den Blick auf Camerarius’ Werkvielfalt jenseits der bekannten ‚Meilensteine‘ richtete schließlich die Würzburger Tagung „Camerarius Polyhistor“, welche 2015 die internationale Camerarius-Forschung zusammengeführt hat.

Trotz dieser intensivierten Bemühungen steht die Forschung weiterhin vor pragmatischen Schwierigkeiten: Sie sieht sich mit einem außergewöhnlich umfänglichen, thematisch vielfältigen und sprachlich nicht leicht zugänglichen Œuvre konfrontiert, und es mangelt an grundlegenden heuristischen Vorarbeiten.

Die editorische Erschließung der Camerarius-Schriften ist rudimentär. Neben einzelnen Faksimilia19 und Teilveröffentlichungen20 liegen neuere Ausgaben lediglich zu den drei großen Biographien,21 zu den Eklogen,22 zur Geschichte der Böhmischen Brüder23 und zu einem kleinen Teil des Briefwechsels24 vor. Zumindest sind dank der jüngsten Digitalisierungsprojekte inzwischen gut 90 % der relevanten Drucke als Scans verfügbar. Am schwersten aber wiegt, dass bis heute kein vollständiges Schriftenverzeichnis von Joachim Camerarius existiert, obwohl man sich schon früh um ein solches bemüht hat.25 Auf der Grundlage eines avitorum scriptorum catalogus aus dem Besitz der Camerarii hatte Georg SummerSummer, Georg 1646 eine chronologische Übersicht über die Werke des Joachim Camerarius publiziert.26Summer, Georg Sie wurde von Johann Albert FabriciusFabricius, Johann Albert für die Bibliotheca Graeca ausgewertet, korrigiert und ergänzt,27 und dieses Verzeichnis wurde seinerseits durch August Wilhelm ErnestiErnesti, August Wilhelm (Leipzig 1782/86) fortgeführt.28Ernesti, August Wilhelm Im 20. Jahrhundert kamen mit dem Index Aureliensis und Frank Barons Liste der Erstdrucke zwei Schriftenverzeichnisse hinzu.29 Gegenüber diesen Aufstellungen, die v.a. bibliographische Daten aus zweiter Hand kompilieren, bietet das alphabetische Corpus der Camerarius-Drucke im VD16 einen breiteren Überblick,30 ist aber ebenfalls weder fehlerfrei noch vollständig.

Demgegenüber übertreffen die Online-Versionen von VD16 und VD17 (http://www.vd16.de und http://www.vd17.de) alle vorgängigen Bibliographien an Umfang. Aktuell sind dort insgesamt 863 Drucke verzeichnet, an denen Joachim Camerarius d.Ä. als Verfasser, Beiträger oder Bearbeiter beteiligt war. Allerdings beschränken sich VD16/17 auf Drucke aus dem deutschen Sprachbereich und verweisen nur auf Digitalisate deutschsprachiger Bibliotheken. Es wird zwar die Art von Camerarius’ Beteiligung an den Drucken genannt, aber nicht, worin seine Beiträgerschaft genau besteht. Wie viele und welche Werke Camerarius verfasst hat, lässt sich bisher also nur annäherungsweise feststellen.

Das Projekt „Opera Camerarii

Hier setzt das Projekt „Opera Camerarii“ an: Es hat zum Ziel, ein datenbankgestütztes, vollständiges Verzeichnis von Camerarius’ Werken zu liefern, das die Drucküberlieferung bis ins 17. Jahrhundert berücksichtigt. Die Drucke und die in ihnen enthaltenen Opera Camerarii werden als Datensätze bibliographisch und prosopographisch erfasst. Die Werke erhalten eine inhaltliche Kurzbeschreibung (mit Verschlagwortung), die auch Aspekte ihrer Entstehung, ihrer Funktion und Wirkung berücksichtigt. Zu den Werken zählen dabei alle von Camerarius verfassten (auch unselbständig überlieferten) Texte, einschließlich der von ihm verantworteten Kommentare, Übersetzungen und Editionen, die durch ihre paratextuelle Ausstattung Werkcharakter gewinnen. Auch der Briefwechsel gehört dazu. Er stellt mit über 3000 Exemplaren eine der größten Humanistenkorrespondenzen im deutschsprachigen Raum dar und gewährt umfängliche Einblicke in gelehrte Netzwerke des 16. Jahrhunderts.1 Das bisher nur punktuell analysierte Corpus2 liegt zum einen in insgesamt sieben teils posthum gedruckten Sammelausgaben vor, deren Auswahl Camerarius selbst oder seine Nachfahren vorgenommen haben.3 Zum anderen existieren handschriftliche Briefbestände, insbesondere in der Collectio Camerariana (UB Erlangen, Sammlung Trew; BSB München), die sich teilweise mit den gedruckten Sammlungen überschneiden, deren Zahl aber weit über diese hinausgeht. Ihre Erschließung würde eine eigene hochkomplexe Forschungsaufgabe darstellen.4 Daher konzentriert sich das Projekt „Opera Camerarii“ zunächst auf die im Druck publizierten rund 1500 Briefe zuzüglich der in den anderen Teilen des Œuvres paratextuell überlieferten Widmungsbriefe. Die Briefe enthalten zum einen Informationen zur Genese und Rezeption von Werken des Camerarius;5 zum anderen sind sie für das self-fashioning humanistischer Persönlichkeiten besonders aufschlussreich: Denn Camerarius hat in seinen gedruckten Sammlungen immer wieder handschriftliche Briefe – sowohl seine eigenen als auch diejenigen seiner Briefpartner – überarbeitet, neugedeutet und umgeschrieben, so dass er bisweilen als redaktioneller Bearbeiter des eigenen Briefwechsels hervortritt.6 Die Verzeichnung und der Vergleich der gedruckten Briefe mit erhaltenen handschriftlichen Vorlagen (ca. 200 Briefe), die im Projekt angestrebt werden, versprechen neue Einblicke in die Konstruktion des Selbstbildes, das Camerarius von sich und den gelehrten Freundeskreisen entwarf. Der wichtige Briefwechsel zwischen Camerarius und MelanchthonMelanchthon, Philipp wird an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Projekt „MelanchthonsMelanchthon, Philipp Briefwechsel“ (MBW) erschlossen.7

Die Erfassung der Werke verfolgt das Ziel, das „Phänomen Camerarius“ in seiner zeitgeschichtlichen Verortung zu erklären und sich dabei von der traditionellen ‚Heroengeschichte‘, von dem individuenzentrierten Ansatz der Literaturgeschichte und von dem bisweilen zu sehr auf ‚Höhenkamm‘-Literatur verengten Blick der Humanismusforschung abzuheben. Camerarius ist kein autark-monolithischer Gelehrter. Seine Werke und die ihnen zugrundeliegenden Denkprozesse und Anliegen sind vielmehr geprägt von bestimmten personellen, diskursiven und historisch-kulturellen Konstellationen, in denen sie entstanden sind und in die sie hineinwirken.8 Die Erfassung und Analyse des umfänglichen Datenmaterials und die sukzessive und systematische Verknüpfung neu gewonnener Erkenntnisse sollen etwa Aufschlüsse darüber geben, welche Konstellationen zum Zustandekommen seines vielfältigen Œuvres beitrugen; welche thematisch-diskursiven und methodischen Schwerpunktsetzungen und Entwicklungen erkennbar sind; welche Formen von Autorschaft dabei begegnen, wie sich Camerarius als Humanist präsentiert und welchen Wirkungsradius seine Schriften besaßen.

Die im Projekt verwendete Open-Source-Software „Semantic MediaWiki“ (SMW) eignet sich für diese Zwecke besonders. Sie erlaubt es nicht nur, alle werkrelevanten Informationen kleinteilig zu erfassen, zu strukturieren, miteinander zu verknüpfen und mit diversen Filtern abfragbar zu machen. Sie ermöglicht es vielmehr auch, die Datensätze mit definierten Attributen auszustatten und mit Hilfe dieser semantischen Struktur übergeordnete Zusammenhänge abzubilden. So lassen sich etwa für historische Personen Attribute vergeben (z.B. Widmungsempfänger, Brief- und Gesprächspartner, Schüler des Camerarius usw.), die das Wiki auf den jeweiligen Personenseiten nach Kategorien geordnet zusammenführt und mit entsprechenden Werklisten verknüpft (z.B.N.N. ist Widmungsempfänger folgender Werke; N.N. wird als Schüler des Camerarius in folgenden Werken genannt etc.).

Diese Aufbereitungsmöglichkeiten der Daten werden helfen, die Gelehrtenzirkel, in denen sich Camerarius bewegte und mit denen er sich austauschte, als epistemische Kultur-, Aktivitäts- und Kreativitätszentren genauer zu fassen. Die inhaltliche Erschließung wird es ermöglichen, das breite Œuvre in Genese, Funktion und Wirkung zu überblicken und die programmatische Selbstverortung und -stilisierung des Gelehrten in der res publica litteraria zu bestimmen. Die Ergebnisse des Projekts werden über den Server der Universitätsbibliothek Würzburg in Form eines CamerariusWiki dauerhaft zugänglich gemacht.