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From the series: Fuldaer Hochschulschriften #54
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a) Revitalisierung der Ortskerne

Die bauliche, infrastrukturelle und soziale Revitalisierung der Ortskerne halte ich für eine der wichtigsten, wenn nicht für die wichtigste Aufgabe der Kommunalpolitik und der Fachpolitiken. Das Thema ist aktuell und brisant; aber auch die Wahrnehmungsschwäche. Kollegen aus dem Baden-Württembergischen Ministerium für den ländlichen Raum berichten von ihren ersten Gesprächen mit den Bürgermeistern: „Wir haben keinen Leerstand“ war die erste Reaktion. Aber letztlich betrug der Leerstand überall zwischen 20 und 35 Prozent. Mehrere Bundesländer haben inzwischen ihre Förderprogramme komplett umgestrickt auf Leerstandserfassungen und Umnutzungskonzepte und -maßnahmen, z. B. Baden-Württemberg, Saarland, Hessen, Bayern, Thüringen. Zwei Ziele will man mit der Fokussierung auf die Ortskerne erreichen: Man will die identitätsstiftende Mitte stärken und damit dem Verfall der Baukultur und der Versorgungseinrichtungen begegnen; zum anderen will man einen Beitrag zur Eindämmung des Landschaftsverbrauchs an den Rändern leisten. Das Land Baden-Württemberg nimmt derzeit viel Geld in die Hand für Leerstandserhebungen, dann aber vor allem für Beratung und Hilfestellung der Eigentümer der leer stehenden Immobilien. Hier können wir eine ganze Menge lernen. Die ersten Erfolge in den 13 Modellgemeinden sind bereits sichtbar. So sind in dem kleinen Dorf Creglingen-Münster binnen 5 Jahren 24 Maßnahmen verwirklicht worden mit bereits positiver Wirkung auf die Einwohner- und Kinderzahlen.

b) Ökonomische Stabilisierung

Es geht hier vor allem um eine ökonomische Stabilisierung des Vorhandenen in der ganzen Region, besonders aber auch in den gegenwärtig strukturschwächeren und „peripheren“ Orten und Gemeinden. Ein Bündel von Handlungsfeldern ist zu empfehlen:

– Einmal sollte die Wertschöpfung der vorhandenen Ressourcen verbessert werden: Holz und Wasser als Energielieferanten und Rohstoffe, guter Boden für Ackerbau, Viehzucht und Energiepflanzen.

– Aufträge der öffentlichen Hand sollte man in der Region belassen.

– Bürokratieabbau seitens der Kommunen, der Kammern, der Genehmigungs- und Förderungsbehörden sollte energisch angegangen werden.

– Man sollte eine vorausschauende Gewerbeflächenpolitik betreiben!

– Von größter Bedeutung sind die sogenannten „weichen“ Faktoren wie: ein wirtschaftsfreundliches Klima schaffen, z. B. durch regelmäßige Besuche von Bürgermeistern, Ortsvorstehern sowie Verwaltungsbeamten in den Betrieben, Kontakte mit Schulen. Gut für die Kontaktpflege und Imagestärkung sind auch die Regionalmessen.

c) Infrastruktur sichern, eventuell „vorhalten“ oder ausbauen

Hier geht es im Wesentlichen um die Sicherung eines immer noch hohen Standards der Infrastruktur. Im Einzelnen findet sich ein weites Feld an Aufgaben:

– Das sogenannte „Vorhalteprinzip“ ist gerade im neuen Landesentwicklungsprogramm Bayerns aufgenommen worden. Ziel ist es, Versorgungseinrichtungen wie z. B. Schulen oder Kindergärten zu halten, auch wenn diese nicht mehr voll ausgelastet sein sollten.

– Neue Formen der flexiblen Versorgung sind zu finden, z. B. Zusammenschlüsse von Schulen und Kindergärten, um lokale Standorte zu halten: Schulverbund statt Schließung lautet das positive Motto.

– Alle Arten der privaten Trägerschaft von Infrastruktureinrichtungen, z. B. in Vereinen, Stiftungen oder privaten Diensten, sind zu unterstützen.

– Der ÖPNV sollte möglichst auf dem derzeit hohen Standard gehalten werden.

– Modellprojekte wie Nachbarschaftsladen, MarktTreff oder KOMM IN, die öffentliche und private Dienstleistungen in Dörfern anbieten, sollten gefördert werden!

d) Lebendigkeit und Wirksamkeit der dörflichen Vereine sichern und fördern

Die hohe Vereinsdichte und die große Akzeptanz der Vereine sind ein ganz wesentlicher Bestandteil der ländlichen Lebenskultur. Hier werden in kaum messbaren Dimensionen – ehrenamtlich – vielfältige Leistungen der Ausbildung und Betreuung, z. B. im sportlichen oder musikalischen Bereich, erbracht und außerdem mannigfache Integrationsleistungen, die noch schwerer zu gewichten sind.

Aber es gibt derzeit auch viele Unsicherheiten und Frust in den Vereinen und Verbänden, die Bürgern und Politikern teilweise nicht bekannt sind, die aber zu Erosionen führen können. So lassen sich immer schwerer Mitarbeiter gewinnen bzw. über Jahre halten. Andererseits steigen die Anforderungen sowohl hinsichtlich der Betreuung als auch der Breite der Angebote. Früher gab es z. B. in den großen Sportvereinen 2 bis 4 Fußballmannschaften, heute 10 bis 20, daneben aber auch die Angebote Judo, Ballett, Badminton, Basketball usw.

Die Vereine und Verbände haben die Mitarbeiterproblematik erkannt und machen regionale und lokale Schulungen, doch viele Vereine fühlen sich und ihre Arbeit sowohl von der Kommunalpolitik als auch von Seiten der Elternschaft der betreuten Kinder nicht richtig gewürdigt. Eine drohende Vision eines Sportfunktionärs: Wenn allein die Sportvereine einer Großgemeinde ihre ehrenamtliche Arbeit einstellen würden, könnte man 1200 Kinder und Jugendliche vor dem Rathaus aufstellen, die dann auf Betreuung durch die Stadt warten. Dann könnte die Stadt, wenn sie das übernehmen müsste – so der Funktionär –, sofort Konkurs anmelden. Offenbar ist es längst nicht allen Kommunen bzw. Ratsmitgliedern bekannt, welchen „kommunalen Mehrwert“ die Vereine ständig produzieren. Gegenüber den Eltern, die ihre Kinder bei den Vereinen abgeben, ohne sich weiter für den Verein zu interessieren, ging kürzlich ein Aufschrei eines Sportvereinsvorsitzenden durch die Presse: „Wir sind keine Kinderverwahranstalt.“ Die Vereine benötigen also dringend Aufmerksamkeit und Zuwendung, wenn man so will, moralische Unterstützung von Politikern, Parteien und Eltern, am besten regelmäßige persönliche Kontakte, damit sie erkennen, dass ihre Arbeit auch wirklich gewürdigt wird.

Um nicht zu erstarren, müssen die Vereine allerdings auch selber bemüht sein, zeitgerechte Entwicklungen aufzunehmen, indem z. B. Jugendliche bereits in kleine Führungsaufgaben eingebaut werden oder neue Aufgaben, wie z. B. die Integration von Aussiedlern, besonders intensiv betrieben werden.

e) Bürgerschaftliche Verantwortung und Engagement für das Dorf von morgen wecken: die neuen Bürgervereine

Es gibt viele tatkräftige Dorfvereine, aber oft kein breites bürgerschaftliches Engagement für die Gesamtentwicklung des Dorfes. Neben den (wichtigen!) Spezialinteressen und -aufgaben der zahlreichen Vereine bleiben häufig übergreifende Themen bzw. Querschnittsaufgaben, die das ganze Dorf betreffen, auf der Strecke. Wer kümmert sich z. B. um einen vernachlässigten Bachlauf, wer um ein leer stehendes Baudenkmal, wer um einen fehlenden Spielplatz? Es gibt bereits gute Beispiele für interessenübergreifende Vereine, die unterschiedliche Namen tragen. Einige aus meiner Heimatregion Paderborn seien angeführt: Bereits seit 1975 besteht der sogenannte „Dorfrat“ in Wewelsburg, der den Verlust des alten Dorf- bzw. Gemeindeparlaments durch die kommunale Gebietsreform mindern wollte. Dem Beispiel Wewelsburg folgten andere Dörfer in der Nachbarschaft. In Leiberg existiert seit einigen Jahren ein „Verein zur Förderung der Dorfgemeinschaft.“ In Giershagen bei Marsberg ist ein alter Verkehrsverein zu einem neuen Verein umgebaut worden, der sich „Förderverein Unser Giershagen“ nennt. Seine Ziele sieht dieser Verein laut Satzung in der Stärkung des sozialen und kulturellen Zusammenhalts der Bevölkerung; die Identifizierung der Giershagener mit ihrem Ort soll gefördert werden; alle Vereine sollen in die Aktivitäten eingebunden werden. Vielleicht werden derartige Vereine demnächst die wichtigsten in den Dörfern sein. Eine mögliche Variante wäre aber auch, dass z. B. Schützenvereine diese Querschnittsaufgabe übernehmen.

Das ganzheitliche Engagement der Dorfgemeinschaft für ihr Dorf wird ganz entscheidend den Ausschlag geben, wie dieses oder jenes Dorf in Zukunft aussehen wird. Das muss allen Dorf- und Kleinstadtbewohnern klargemacht werden. Die öffentliche Hand wird sich aus immer mehr Aufgaben zurückziehen. Die Wohlfahrt der Bürger wird nicht mehr vom Staat garantiert, sondern wird zunehmend durch bürgerschaftliches Engagement hergestellt. Angela Merkel schreibt in ihrer Regierungserklärung: Wir stehen am Ende des Traums vom Staat als „Hüter und Wächter des Gemeinwohls“. Dieses Leitbild wird sich durchsetzen. Die externen Fördertöpfe werden leerer, hängen höher. Sie werden in Zukunft nur noch dort fließen, wo eine entschieden engagierte Dorfgemeinschaft vorhanden ist. Das ist im Übrigen zumindest die inoffizielle Parole in den einschlägigen Ministerien und Förderbehörden. Mein Fazit: Dörfer ohne engagierte Dorfgemeinschaften werden ausbluten. Das wird man schon in ca. 5 bis 10 Jahren sehen können!

Manchmal werden Dörfer erst durch herbe Verluste wachgerüttelt. So wurde im bayerischen Ollarzried angesichts des drohenden Verlustes des letzten Dorfgasthofs ein gesamtdörflicher Förderverein begründet, der schließlich den Gasthof rettete.

f) Jugendliche für die Region gewinnen (um deren Abwanderung entgegenzuwirken)

Die Jugendlichen sind das wichtigste Potential der Region. Der Abwanderung von (meist gut ausgebildeten) Jugendlichen in Großstädte und Ballungsgebiete entgegenzuwirken, muss ein wichtiges Handlungsfeld sein. Das Gegensteuern sollte breit und vielschichtig angelegt sein:

– In Jugendforen oder Jugendparlamenten werden die Interessen von Jugendlichen deutlich gemacht und Aktivitäten ausgelöst sowie die Identifikation mit Ort und Gemeinde gestärkt.

 

– Vereine und andere Gruppierungen, in denen ein Großteil der Jugendlichen ausgebildet und betreut wird, werden gestärkt: Sie dienen der längerfristigen Bindung an die Region.

– Preisgünstiges Bauland für junge bauwillige Ehepaare wird bereitgestellt, wenn möglich durch Umnutzung in Ortskernen.

– Es gilt, Umwelt-, Erholungs- und Freizeitwerte der Kultur- und Naturlandschaft als weiche Standortfaktoren weiterzuentwickeln.

– Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung und zur Nutzung angewandter Forschung müssen unterstützt werden.

– Den Jugendlichen muss durch Imagekampagnen klargemacht werden, dass die Region die Jugend braucht!

Ein Musterbeispiel bietet die kleine Gemeinde Ummendorf in der Magdeburger Börde mit etwa 1100 Einwohnern. Hier bietet der Bürgermeister Falke (der auch in Schloss Neuhaus vorgetragen hat) jeden Dienstag um 17 Uhr eine Sprechstunde für Jugendliche an, an der im Durchschnitt 20 bis 30 Jugendliche von 14 bis 18 Jahren teilnehmen. Die Jugendlichen tragen ihre konkreten Wünsche vor, und sie erfahren viel Entgegenkommen des Bürgermeisters. Sie verpflichten sich aber auch zu Hilfestellungen für die Gemeinde, z. B. durch Pflege der zwei Bushaltestellen des Dorfes!

g) Integration von Aussiedlern und anderen Zugewanderten

In unseren Dörfern und Kleinstädten lebt heute ein teilweise sehr hoher Anteil an Aussiedlern, z. T. bis zu 30 Prozent der Bewohner. Die Bilanz der Integration fällt sicher zwiespältig aus: Einerseits haben es viele, wenn nicht die meisten, aus ihrer persönlichen Sicht „geschafft“, d. h., sie haben einen Arbeitsplatz und oft auch Eigentum erworben, sind fleißig, haben große Familien, d. h. auch viele Kinder und Jugendliche. Aber es gibt ohne Zweifel noch Integrationsdefizite zur alteingesessenen Bevölkerung. Offenkundig sind z. B. Defizite in der Mitarbeit in Vereinen und der Kommunalpolitik, obwohl gerade in den Vereinen viele Versuche unternommen worden sind. Vielleicht sind die eben genannten „Vereine zur Förderung der Dorfgemeinschaft“ am ehesten in der Lage, gegenseitige Schwellen und Ängste abzubauen. Auch aus Eigennutz sollten die Bemühungen nicht nachlassen. Man sollte aber nicht nur die steigenden sozialen Kosten einer fehlenden Integration sehen. Man sollte vielmehr erkennen, dass hier ein großes Humankapital vorhanden ist, das dem Dorfleben zugute kommen könnte. Ein Blick auf die Nachkriegsjahre zeigt an, dass vielerorts gut integrierte Vertriebene wesentlich zur Bereicherung des Dorflebens beigetragen haben.

h) Vielfalt und Identität unserer Kultur- und Naturlandschaften erhalten und entwickeln

So lautet eines der neuen „Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland“ von 2006. Da praktisch alle ländlichen Regionen in Deutschland über bedeutende und vielfältige Kulturlandschaften verfügen, sollten sie sich dieses Leitbild des Bundes unbedingt zu eigen machen. Wertvolle und gepflegte Kulturlandschaften gehören zu den sogenannten weichen Standortfaktoren, die sowohl für die Wirtschaft als auch für die Zufriedenheit und Identität der Bewohner von großer Bedeutung sind. Im Einzelnen geht es um

– die Pflege des kulturellen Erbes, Brauchtum, Sprache, Ortsbildpflege,

– die Sicherung der landschaftlichen Unterschiede,

– die Sicherung der vorhandenen Ökosysteme und ihrer Funktionsfähigkeit.

Angestrebt wird ein harmonisches Nebeneinander der unterschiedlichen Landschaftstypen, bei dem die ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Funktionen dauerhaft erhalten bleiben. Die jeweilige Kulturlandschaft sollte als weicher Standortfaktor in die regionalen Entwicklungskonzepte zur Stabilisierung ländlicher und stadtnaher Räume integriert werden. Es wird angeregt, für jede ländliche Region konkrete Leitbilder für die dort vorhandenen unterschiedlichen Kulturlandschaften zu entwickeln, an denen man sich dann in der Zukunft orientieren kann.

i) Kommunalpolitik wird als „aktivierender Staat“ zum ständigen Moderator und Impulsgeber der Bürgerkommune

Als ein roter Faden aus den bisherigen Handlungsfeldern zeichnete sich bereits ab, dass der Kommunalpolitik eine entscheidende (neue) Rolle in der sich entwickelnden Bürgerkommune zukommen wird. Deswegen kann ich mich nun hier etwas kürzer fassen. Die in Abb. 3 gezeigte Übersicht zeigt den langen Weg vom Leitbild „Papa Staat“ mit dem Bürger als Untertan über das Leitbild „Unternehmer Staat“ mit dem Bürger als Kunde hin zum heutigen bzw. zukünftigen Leitbild „Aktivierender Staat“ mit dem Bürger als Partner.

Mit den Begriffen „Bürgerkommune“ und „Aktive Bürgergesellschaft“ wird zum Ausdruck gebracht, dass im Wesentlichen aktive Bürger das Gemeindeleben tragen und prägen. Generell sind Bürgermeister, Rat, Verwaltung und Bürger gleichgewichtige Partner, zwischen denen ein ständiges Geben und Nehmen stattfindet. Daraus resultieren sowohl für Bürgermeister und Gemeinderäte als auch für die Kommunalverwaltung innovative Vorgehensweisen und Einstellungen. Unter anderem wird es die folgenden Handlungsfelder geben:

Abb. 3: Der Wandel zur Bürgerkommune (NGO = Nichtgemeindeorganisationen)

– Die Kommunalpolitik muss die sich entwickelnde Bürgerkommune aktivieren, unterstützen und moderieren.

– Die Eigenverantwortung und Kooperationsbereitschaft lokaler Akteure und Gruppen muß durch Intensivierung von Informationsvermittlung, durch ständigen Dialog und Partizipation gefördert werden.

– Innerkommunale Netzwerke müssen ausgebaut und gepflegt werden.

j) Regionalen Zusammenhalt stärken

Durch vielfache Mobilitäten und ständigen Austausch von Waren und Dienstleistungen sind Regionen heute mehr denn je das Handlungsfeld der meisten Bürger. Regionen sind Verantwortungsgemeinschaften zwischen Stadt und Land. Auch im Bewusstsein der Bevölkerung ist die Region inzwischen verankert, z. B. das Bördenland, das Emsland, das Paderborner Land. Deswegen ist es auch sinnvoll, Regionen als Markenzeichen zu benutzen und Slogans sowie Bildzeichen für die Imagegestaltung und Außendarstellung zu entwerfen.

Die Stärkung des regionalen Zusammenhalts ist insgesamt eine Aufgabenstellung für alle politischen, ökonomischen und kulturellen Kräfte der Region. Sie dient dem regionalen Selbstbewusstsein und strahlt und wirbt nach außen.

Ausblick

Wie unsere Dörfer und Kleinstädte in 10, 20, 30 oder gar 50 Jahren aussehen werden, vermag niemand zu sagen. Werden diejenigen am besten dastehen, die am meisten von den angeführten 10 Punkten verwirklicht haben? Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es neben den sich wandelnden Rahmenbedingungen immer auch auf die handelnden Menschen, die Bürgermeister, die Ortsvorsteher, die Gemeinderäte, die Vereinsvorstände usw. angekommen ist, die darüber entschieden haben, ob ein Ort stagniert oder wächst, wie ein Dorf kulturell und ökonomisch heute dasteht. Und so wird es auch in Zukunft sein. Deshalb wird es auf Sie alle ankommen, die Bürger und Politiker vor Ort. Vertrauen Sie nicht zu viel auf auswärtige Kräfte, auf Wissenschaftler und Experten. Diese haben Ihren Ort immer nur partiell im Visier, niemals ganz. Sie aber sind immer zur ganzheitlichen Sicht verpflichtet. Sie haben die Verantwortung und die Kompetenz für die Gesamtentwicklung des Dorfes!

Der ländliche Raum braucht aber auch die Unterstützung von außen bzw. oben. Deshalb ein Appell an die hohe Politik in Bund und Ländern: Geben Sie den aktiven Bürgern und Politikern in den Dörfern und Kleinstädten die Chance, den Respekt und die Unterstützung, damit sie sich nicht alleingelassen fühlen. Kraft und Kompetenz ist in den Dörfern und Kleinstädten genug vorhanden. Der ländliche Raum tut viel für das Gesamtwohl des Staates. Deshalb darf er ein ausgewogenes Geben und Nehmen erwarten.

1 Der Stil des Vortrags wurde weitgehend beibehalten. Wichtige wissenschaftliche Grundlagen bilden folgende Veröffentlichungen: Gerhard HENKEL (Hrsg.): Das Dorf im Einflussbereich von Großstädten. Essen: Institut für Geographie, Universität, 2000 (Essener Geographische Arbeiten; 31); DERS.: Der ländliche Raum: Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland. Berlin: Bornträger, 42004; DERS.: Das Dorf: Landleben in Deutschland – gestern und heute. Stuttgart: Konrad Theiss-Verlag, 2012.

2 Siehe Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „Doch Landliebe!“ vom 20. 6. 2005 und Frankfurter Rundschau „Das Dorf lebt“ (FR-PLUS-Politik) vom 17. 1. 2007, S. 27.

Der ländliche Raum im Wandel von der Industrialisierung bis zur Globalisierung1

Alois Glück

Ich wurde 1940 auf einem Bauernhof geboren. Es war Kriegszeit, der Vater ist 1944 in Frankreich im Krieg gestorben. Mit 17 Jahren habe ich die Leitung des elterlichen landwirtschaftlichen Betriebes übernommen und diesen sieben Jahre geführt. Mit 16–17 Jahren habe ich immer mehr Kontakt und Beziehung zu katholischen Jugendgruppen bekommen, insbesondere dann zur Katholischen Landjugendbewegung, was meinen weiteren Lebensweg geprägt hat.

Die Welt meiner Kindheit und der Jugendzeit, also die 1950er–1960er Jahre, war eine in sich weitgehend geschlossene ländlich-katholisch-bäuerliche Welt, in der auch die kirchliche Welt und die gesellschaftliche Welt weitgehend eine Einheit waren.

Für den Ausgangspunkt ist festzuhalten: Der ländliche Raum war im Gesamtgefüge des Staates und der gesellschaftlichen Leitbilder primär ein Ergänzungsraum und „Zulieferer“ für die Stadt. „Zulieferer“ nicht nur für die Nahrungsmittel, sondern auch in der ständigen Zuwanderung aus dem ländlichen Raum in die Städte. Die Stadt war der Raum des Fortschritts, exemplarisch für diese Sicht war die Position „Stadtluft macht frei“. Mit einem gewissen Minderwertigkeitskomplex sahen wir in die Stadt und waren geneigt ihre Leitbilder nachzuahmen, von der Kleidung bis zur Ausstattung der Wohnung und zum Bau der Siedlungen.

Ende der 1950er–Anfang der 1960er Jahre begann mit dem Wiederaufbau, mit der Industrialisierung und insbesondere auch durch den Zustrom vieler Flüchtlinge ein Prozess der wirtschaftlichen Dynamik, des Wachstums, getragen vor allem durch die Weiterentwicklung der Technik. In der Landwirtschaft begann der Prozess der Mechanisierung und damit der Ersatz von Arbeitskraft durch Maschinen. Mit dem Prozess der Mechanisierung in der Landwirtschaft, verbunden mit der Sogwirkung von Gewerbe und Industrie auf die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, entwickelte sich der Zwang, mit einer weithin klein- und mittelbäuerlichen Agrarstruktur die Antwort auf den wirtschaftlich sinnvollen und möglichen Einsatz moderner Technik in diesen Strukturen zu finden. Die Antwort der EU-Agrarpolitik, verkörpert durch den damaligen EU-Agrarkommissar Sicco Manshold, war die Forderung nach einer grundlegenden Umstrukturierung der Struktur der Landwirtschaft in große Einheiten, die einen wirtschaftlichen Einsatz der Technik ermöglichen. Das hätte eine radikale Umstrukturierung in der Landwirtschaft erfordert, nicht nur ökonomisch sondern vor allem damit verbunden auch gesellschaftlich.

Andererseits war der Zwang zu einem möglichst wirtschaftlichen Einsatz der modernen Technik unabweisbar. Unter diesem Druck und mit vielen Geburtswehen und heftigen Auseinandersetzungen verbunden, entwickelte sich in dieser Situation das Konzept einer überbetrieblichen Zusammenarbeit innerhalb der Landwirtschaft auf der Basis eines entsprechend organisierten überbetrieblichen Einsatzes von Maschinen. Die überbetriebliche Zusammenarbeit mit verbindlichen Regeln im Maschinenring, in Erzeugerringen für die Qualitätsproduktion und anderen Formen für die Vermarktung gaben der bäuerlichen Landwirtschaft auch unter diesen veränderten Bedingungen die Zukunftschancen. Die entscheidende Weichenstellung und große Pionierleistung war dann das 1969 vom Bayerischen Landtag verabschiedete Bayerische Landwirtschaftsförderungsgesetz, in dem die überbetriebliche Zusammenarbeit, die Integration der Landwirtschaft in die Entwicklungsstrategie für ländliche Räume und neue Aufgaben für die Landwirtschaft im Sinne des Umweltschutzes zu einer neuen Agrarpolitik führten. Das war der Vorläufer zu den späteren Veränderungen in der europäischen Agrarpolitik. Politik für die Landwirtschaft, Landwirtschaft ist damit mehr als Nahrungsmittelproduktion, Politik für Ernährung und Landwirtschaft. Sie ist integrierter Teil eines gesellschaftspolitischen Konzepts und dabei eng verbunden mit den Entwicklungsstrategien für den ländlichen Raum. Mit diesem umfassenden und in sich elastischen Konzept der Entwicklung und Veränderung konnte auch der unaufhaltsame Strukturwandel sozial weit erträglicher gestaltet werden, als es mit jedem anderen Konzept möglich wäre. Heute bekommt die Landwirtschaft im System einer umweltverträglichen Energieversorgung eine neue, wichtige Aufgabe.

 

Die Wirtschaft entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren immer stärker und es bestand ein Bedarf an neuen Arbeitskräften. Dies war auch verbunden mit einem starken Strukturwandel in der Wirtschaft. Jahrhundertealte Handwerksberufe verschwanden zunehmend und neue Berufsfelder entwickelten sich.

In dieser Situation stand die Politik vor einer Grundsatzentscheidung mit weitreichenden Folgen: Soll man das wirtschaftliche Potential in bestimmten Räumen konzentrieren und damit ökonomisch ein Höchstmaß wirtschaftlicher Dynamik fördern oder soll man diese Entwicklung nutzen, um durch Dezentralisierung auch die ländlichen Räume in ihrer Entwicklung zu fördern? Anders formuliert war die Fragestellung: die Arbeit zu den Menschen oder die Menschen zu den Arbeitsplätzen? Die Politik in Deutschland, in Bayern in besonderer Weise, aber letztlich im gesamten deutschsprachigen Raum entschied sich für die Richtung: die Arbeit zu den Menschen. Gewerbe und Industrie konnten aber nur für Standorte im ländlichen Raum gewonnen werden, wenn es dafür auch entsprechend geeignete Arbeitskräfte gab. Also wurden großflächig entsprechende Umschulungsprogramme für bisherige Landarbeiter entwickelt und angeboten. Um diesen Entwicklungsprozess entsprechend zu steuern, wurden die Kriterien der Raumordnung und der Landesplanung entwickelt, ein System zentraler Orte mit Kleinzentren, Unterzentren, Mittelzentren und Oberzentren entstand entlang von Verkehrsschienen, Entwicklungsachsen.

Es wurde schnell deutlich, dass für die Entwicklung der ländlichen Räume eine gute Verkehrserschließung unabdingbare Voraussetzung ist. Der Bau von Autobahnen und anderen Straßen und der Ausbau von Verkehrsschienen waren wichtig. Das ist auch heute wichtig. Im Zeitalter der Informationsgesellschaft ist aber die aktuelle Thematik und Aufgabe insbesondere der Anschluss der ländlichen Gebiete an die modernen Kommunikationsmittel, das sogenannte schnelle Internet, das heute eine Grundbedingung für viele Betriebe und damit deren Standortentscheidung ist.

Mit der Schwerpunktbildung im System der zentralen Orte wurden verbunden die Planungen für den Ausbau der Infrastruktur für Bildung, also weiterführende Schulen, Fachhochschulen, Universitäten. Wohnstandorte im ländlichen Raum wurden zunehmend auch von Städtern als besonders reizvoll, als Orte besonderer Lebensqualität entdeckt. Damit geschah eine ganz wesentliche innere Veränderung: Die Landbevölkerung entdeckte insbesondere durch Impulse von Städtern den Eigenwert des eigenen Lebensraumes, der eigenen Kultur und man entwickelte mit der Zeit ein eigenständiges Selbstbewusstsein. Dies ist ein ganz entscheidender Faktor! Ohne ein entsprechendes Selbstbewusstsein ist es nämlich auch nicht möglich, die Bevölkerung zu mobilisieren.

Eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der ländlichen Räume haben dabei die Kommunen, die Gemeinden, die kleineren und größeren Städte im ländlichen Raum und die Landkreise. Das kann man in der sehr unterschiedlichen Entwicklung von Gemeinden, Städten und Landkreisen bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen sehr konkret feststellen. Die Qualität der Kommunalpolitik und ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind für die Zukunft der jeweiligen ländlichen Räume von überragender Bedeutung. Es ist an dieser Stelle festzuhalten: Ohne sachgerechte Schwerpunktbildung innerhalb des ländlichen Raumes sind Entwicklungen ländlicher Räume nicht möglich! Angesichts der heutigen Anforderungen ist es ein besonderer Fortschritt in der Kommunalpolitik, wenn Kommunen beispielsweise bei der Ansiedlung von Betrieben durch die gemeinsame Ausweisung von Gewerbegebieten und Verkehrserschließung zusammenarbeiten. Das erfordert natürlich die Überwindung der Kirchturm-Perspektive.

Der Strukturwandel in der Arbeitswelt veränderte auch die innere Struktur der Gesellschaft. Mit wachsender Mobilität wurden Freiheitsräume gewonnen, die oft sehr einengende und nicht immer sehr menschliche massive So-zialkontrolle verlor immer mehr ihre prägende Kraft, andererseits waren damit natürlich auch negative Entwicklungen verbunden.

Besonders stark wirkten sich diese Veränderungen auf die Kirche im ländlichen Raum aus. In der geschlossenen Welt des ländlichen Raums war die Kirche milieuprägend und vom Milieu getragen. Man wurde in das kirchliche Leben hineingeboren und es bedurfte einer bewussten Entscheidung, sich davon fernzuhalten oder sich zu verabschieden. Wie sehr sich diese Welt verändert hat, hat nun schon vor 30 Jahren einmal ein Pfarrer in meinem Heimatlandkreis so formuliert: „Früher sind bei uns diejenigen aufgefallen, die nicht regelmäßig am Sonntag zum Gottesdienst gingen, heute fallen die auf, die jeden Sonntag gehen.“

Die für die gesamte Entwicklung maßgebliche politische Grundsatzentscheidung hieß: Unser Ziel sind gleichwertige Lebensbedingungen in allen Landesteilen! Diese Grundsatzentscheidung wurde verstanden als Ausformung der Chancengerechtigkeit für die Menschen im ganzen Land.

Damals wie heute gilt dabei: „Das Land“ im Sinne eines einheitlich geprägten Lebensraumes gibt es nicht. Schon immer und auch heute sind die ländlichen Räume sehr unterschiedlich strukturiert und bieten damit auch unterschiedliche Angebote und Entwicklungschancen und damit auch unterschiedliche berufliche und wirtschaftliche Möglichkeiten. Besonders attraktiv waren und sind ländliche Räume im Einzugsbereich der größeren Städte.

Die Gesamtbilanz der Entwicklung der ländlichen Räume in den letzten Jahrzehnten heißt für den deutschsprachigen Raum: Diese Entwicklung ist eine große Erfolgsgeschichte mit einem Zuwachs an Lebenschancen für den Menschen, wie es vorher unvorstellbar war.

Mit dem Prozess der Globalisierung und der weiteren inneren Entwicklung der Industriegesellschaften haben sich einige Rahmenbedingungen verändert, die nun zur großen Herausforderung für viele ländliche Räume wurden. Unsere erste Lektion über veränderte Rahmenbedingungen erhielten wir mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Prozess der Wiedervereinigung. Zu diesem Zeitpunkt war uns zu wenig bewusst, dass die Wiedervereinigung und damit der Aufbau Ost bereits voll in die Situation der Globalisierung hineingestellt waren.

In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg und damit auch der Entwicklung der ländlichen Räume hatten wir eine weitgehende Steuerungsmöglichkeit durch die nationale Politik, durch die Nationalökonomie, durch entsprechende Weichenstellungen in der Förderpolitik, der Steuerpolitik und in anderen politischen Bereichen. Deshalb ist es heute ungleich schwieriger, Regionen zu entwickeln, als in der Zeit nationaler Entscheidungsmöglichkeiten. Generell gilt eben für die innenpolitischen Entscheidungen im Zeitalter der Globalisierung zum Beispiel in der Wirtschafts- oder der Hochschulpolitik: Der Maßstab für das Notwendige und Richtige ist nicht mehr, worauf wir uns innenpolitisch verständigen können, sondern welche Maßstäbe die internationale Entwicklung setzt.

Trotzdem hat sich der ländliche Raum auch in diesen Jahrzehnten gut gehalten. Seine besondere Stärke sind die Menschen, ihre oft hohe Motivation auch in ihrer Arbeitswelt, ihre innere Verbindung und damit Identifikation mit ihren Aufgaben in der Arbeitswelt, ihre Bereitschaft, sich zu verändern und dazuzulernen. Die Wettbewerbssituation im Rahmen der Globalisierung wirft immer wieder aufs Neue die Frage auf, welche Bündelung der Kräfte, welche Konzentration womöglich auch auf Standorten notwendig ist, um im Innovationsprozess der globalen Welt Schritt halten zu können.

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