Aus der Mitte der Dunkelheit

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Aus der Mitte der Dunkelheit
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KAPITEL 1

«Besuch für Sie.»

Keine unangenehme Stimme, nicht kalt, nicht herrisch, keine Emotionen. Sie erreicht mich nicht.

Sechs Quadratmeter Wohnfläche: Klo in der linken hinteren Ecke, das Waschbecken in scheinbar gebührendem Abstand von ca. 20 cm daneben. Ich soll mir also nach der Entleerung die Hände waschen. Es ist schon komisch, dass man beim Bau meiner Einzimmerwohnung auf solche Feinheiten geachtet hat. Viele meiner Nachbarn haben diese Form von Hygiene nie eingehalten. Ich seit Jahren nicht mehr.

Ich schaue mich in meiner Wohnung um und registriere voller Selbstzufriedenheit eine gewisse persönliche Note. Ein Regal mit Büchern und exotischen Reiseandenken. Bilder, die ich gemalt und mit Tesafilm an der Wand befestigt habe. Sie sind grauenvoll. Ich kann nicht malen, aber ich liebe meine Bilder.

Über all die Jahre habe ich mir eine wunderschöne Angewohnheit aus meinem ersten Leben bewahrt. Einmal pro Woche lasse ich mir ein kleines Blumensträußchen schicken. Mein Blick bleibt an den Anemonen hängen. Sie stecken in einer Vase aus wasserdichtem Gummi und zieren meinen kleinen quadratischen Holztisch. Nein, mehr noch; sie strahlen Wärme in meine ganze Wohnung aus und lassen die Schlichtheit meines Bettes, meines Schrankes, ja sogar die schwere Eisentür vergessen.

Selbst wenn man mich ließe, hier möchte ich keinen Besuch empfangen. Hier ist meine Welt, hier ist mein Leben. Es hat lange, viel zu lange gedauert, meine Wohnung als mein Eigentum anzunehmen. Jetzt möchte ich sie mit niemandem mehr teilen.

«Kommen Sie, Frau Kello.»

Die Stimme meiner Lieblingswärterin reißt mich aus meinen Gedanken. ‹Lieblings›–Wärterin. Sie ist wohl doch kein emotionsloses Wesen. Sie hat sich mir zum Liebling gemacht. Wir leben beide noch.

«Wer ist es denn?», frage ich mit einer Stimme, die vom vielen Schweigen seltsam rau klingt und mich erschreckt.

«Es ist nicht ihr Mann», stößt sie mit einem heiseren Lachen hervor. «Ihr Besucher ist nüchtern.»

Das steht ihr nicht zu. Ich sollte sie maßregeln, darin war ich mal gut. Hier interessiert das niemanden.

«Sie kriegen ja nicht viel Besuch. Na ja, haben aber immer noch mehr Zulauf als der eine oder andere unserer ‹Gäste›», plappert sie vor sich hin.

«So einen hatten wir aber noch nicht», sinniert meine Lieblingswärterin Simone. «Er hat was und ist doch gruselig kaputt.»

Mein Interesse ist geweckt. Ich wundere mich, dass ich zu solchen Empfindungen noch in der Lage bin. Freue mich, erschrecke mich, will es von mir drängen, frage: «Hat er seinen Namen gesagt?»

«Nun kommen Sie, reden Sie mit ihm oder lassen Sie es bleiben, auch hier gibt es Freiheiten. Wollen Sie nun oder wollen Sie nicht?»

Ich betrete den Besucherraum und pralle zurück. Ich möchte schreien «bringen sie mich in meine Wohnung», bekomme jedoch keinen Laut hervor, glaube zu ersticken.

Er sitzt da, der gleiche mir ins Gedächtnis eingebrannte Blick: Abweisende Arroganz, Unnahbarkeit und hinter allem eine Spur von gefährlicher Feigheit. Ich möchte auf ihn einschlagen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich nehme die Alarmbereitschaft meiner Wärterin wahr, lasse meine Hände sinken.

Sein Oberkörper ist steil aufgerichtet, soll Tatkraft und Willensstärke ausdrücken.

Der Rollstuhl steht ihm nicht.

«Warum sitzen Sie im Rollstuhl?», presse ich fiebernd hervor. Warum habe ich nicht gefragt Was wollen sie hier? Habe ihn nicht angeschrien, verschwinden sie, auf Rollen oder auf eigenen Beinen.

Sein Blick verändert sich. Meine Frage hat ihn getroffen. Schwäche zeigen war ihm schon immer verhasst.

Nach endlos schmerzendem Schweigen beantwortet er meine nicht gestellte Frage.

«Ich möchte Ihnen die Wahrheit der Ereignisse aufzeigen.»

«Ihre gefühlte Wahrheit ist nicht meine gelebte», zische ich ihn an.

Jetzt endlich kommt der Satz: «Verschwinden Sie», brülle ich.

Meine Lieblingswärterin hebt die Augenbrauen.

«Ich werde wiederkommen, oft wiederkommen. Wie sind hier die Besuchsregeln? Gibt es eine zeitliche Begrenzung?», fragt er ohne auf mein Hausverbot einzugehen.

Warum klärt sie ihn so ausführlich auf? Warum nimmt sie nicht wahr, dass ich diesen Menschen nie wieder empfangen möchte.

«Um Ihr Interesse zu wecken, habe ich ein paar Gedanken festgehalten. Lesen Sie! Ich bin morgen wieder hier.»

Wie bin ich in meine Wohnung zurückgekommen? Die eng beschriebenen Seiten liegen zerrissen vor meinem Bett. Warum habe ich sie überhaupt mitgenommen? Einzelne Wortfetzen starren mich an. Tu es nicht, sagt meine innere Stimme, bin hypnotisiert von einem Namen, der längst ausgelöscht ist, durch mich. Er sollte mich nicht mehr verfolgen und tut es doch immer wieder. Wieso ist ausgerechnet dieser Name von meiner Zerstörungswut verschont geblieben?

Langsam beginne ich die einzelnen Fragmente wieder zusammenzusetzen.

Mit jedem Wort wird mir schmerzhaft bewusst, dass ich mich meinem Besucher nicht entziehen kann, ja, dass ich seinem Besuch sogar entgegenfiebere. Ich werde mich auf seine Version der Geschehnisse einlassen, ohne mich ihr anzuschließen, schließlich war er, mein Kollege Wolter, einer der Hauptbeteiligten.

Nach einer qualvoll langen Nacht schleppe ich mich in die Druckerei, meinem Arbeitsplatz und verrichte die gleichen stereotypen Arbeiten wie jeden Tag. Ich will es nicht anders, habe geistig anspruchsvollere Tätigkeiten abgelehnt ebenso wie Formen der Weiterbildung. Ich habe Bildung genossen, weitere Bildung bringt mir für meine Zukunft hier an diesem Ort nichts ein.

Das Mittagessen schmeckt mir heute nicht. Scheinbar bin ich aber die einzige deren Geschmacksnerven auf Abschalten gestellt sind. Meine Tischnachbarn schaufeln in sich hinein, die üblichen lauten Gespräche sind verstummt. Ich fiebere dem Besuch von Wolter entgegen. Das Gefühl macht mich wütend, möchte es wegdrücken, kann es nicht.

Plötzlich steht meine Lieblingswärterin vor mir: «Haben Sie keinen Hunger? Sie haben ja kaum was gegessen; schmeckt doch lecker, Frau Kello», spricht sie mich fast fürsorglich an.

«Das hat der Rollstuhltyp, Wolter, Walter oder wie auch immer der heißt für Sie abgegeben.

Sie sollen es lesen. Er will in zehn Tagen wiederkommen. Komischer Kauz.» Meine Wärterin schüttelt den Kopf und legt mir eine provisorisch zusammengeheftete Mappe mit eng beschriebenen Seiten auf den Tisch.

Ich schiebe meinen Teller zur Seite, starre lange auf die Mappe. Nehme sie wie in Trance, halte sie mit gespreizten Fingern weit von meinem Körper entfernt und schleppe mich in meine Wohnung.

Erschöpft schmeiße ich mich auf mein Bett. Es stört mich, dass die Eisentür nicht verschlossen ist, um diese Zeit nicht verschlossen sein darf.

Ich kralle mich in meinem Kopfkissen fest, versuche mich zu wehren und taste doch langsam die Ränder meines Tisches ab, bis ich die Mappe erfühlen kann. Langsam fange ich an zu lesen und bin schockiert, wie schnell mich bereits die ersten Sätze in die Vergangenheit katapultieren.

KAPITEL 2

«Sie ist da.»

«Wer?», fragte Herr Schiesser, scheinbar eher gelangweilt als interessiert. An Spekulationen, Intrigen, Grüppchenbildungen, die nur dem jeweiligen inneren Kreis etwas zu bieten hatten, nahm er nie teil. Man täuschte sich jedoch, wenn man annahm, dass er die jeweiligen Strömungen nicht genau wahrnahm. Auf ihn war Verlass. In schwierigen Situationen blieb er ruhig, auch wenn man ihm ansah, dass auch er mit zunehmendem Alter an seine Grenzen stieß.

«Na, unsere neue Chefin, Frau Kello», flüsterte Frau Retlaw. Aufgeregt fistelte sie an ihrem Rocksaum herum, ein Rock, den sie selbst genäht hatte, der aber bei ihren Schülern, wie auch ihre gesamte Art sich zu kleiden, nicht ankam. Hektische rote Flecken breiteten sich vom Hals über ihr Gesicht aus.

«Sie sollten sich bei Veränderungen nicht immer gleich so aufregen, überhaupt sollten sie alles viel gelassener sehen. Ein paar Jahre wollen oder müssen Sie doch noch durchhalten», sprach Frau Ehlers beruhigend auf sie ein. Sie unterschied sich nicht nur durch ihre besonnene Art von Frau Retlaw, sondern hatte sich bei Schülern mit ihrer Frische und pragmatischen Art Sympathien erworben.

«Für mich ist die nicht neu. Kenne die schon vom Studium her. Viel Spaß kann ich nur sagen», murmelte Wolter und gab sich keine Mühe, seine grenzenlose Abneigung gegen Menschen zu verbergen. Gut gekleidet, heute mal nicht overdresst, saß er kerzengrade auf seinem Stuhl, den er immer einnahm. Kein anderer wagte darauf Platz zu nehmen. Seine Arme, sein Nacken ließen erahnen wie er seinen Körper zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Die Verfallserscheinungen waren jedoch nicht zu übersehen.

«Die ist cool», gluckste Selina aus Klasse 8 in der Pausenhalle pubertär hervor.

«Na, wenigstens nicht so’n alter Knacker», war der einzige Kommentar von Jan.

Frau Kello war aufgeregt, sehr aufgeregt. Sie hatte sich auf ihren ersten Tag als Schulleiterin nicht wirklich vorbereitet. Wie sollte sie auch. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Sie wollte heute nur nett sein. Machtansprüche würde sie später stellen.

Auch alle anderen wollten nur nett sein. Wäre Frau Kello nicht so aufgeregt gewesen, wären ihr schon an diesem Tag die kleinen Unterschiede zwischen nett sein und nett sein wollen in ihrem neuen Umfeld aufgefallen.

Sie beendete den aufregenden Tag mit dem Gefühl, zukünftig mit einem kompetenten Kollegium und Dezernenten die schulpolitische Landschaft gestalten zu können.

 

Alles andere was sie beabsichtigte, würde sich zeigen und brauchte Zeit. Es gelang ihr, die Beklemmung, die sich schwer um ihre Brust legte, zu ignorieren.

Der Alltag nahm brutal von Frau Kello Besitz.

«Kannst du nicht mal früher nach Hause kommen? Es geht mir auf die Nerven, stundenlang deine Mutter um mich herum wuseln zu sehen. Vielleicht fällt dir hin und wieder mal ein, dass du eine kleine Tochter hast», brüllte Herr Kello.

«Vielleicht fällt dir hin und wieder ein, dass du Vater bist. Dann müsstest du meine Mutter nicht ertragen», schrie Frau Kello zurück. «Und noch etwas, hättest du ein bisschen mehr Format, würde es mich nach Hause ziehen. Stattdessen muss ich mir intelligente Gesprächspartner außerhalb dieser vier Wände suchen.»

Die zehnjährige Tochter klammerte sich am Arm der Mutter fest. Es war nicht auszumachen, ob sie die Wucht dieses Satzes verstanden hatte, den Streit aber sehr wohl.

Frau Kello machte gute Arbeit, sehr gute sogar.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich die Anerkennung der Kollegen erkämpft. Sie vertrauten ihrem Drang zum selbstauferlegten Perfektionismus. Er verlieh ihnen persönlich Sicherheit, denn er ließ nicht zu, dass Kollegen mit unerwarteten Problemen konfrontiert wurden.

Sie hatte sich stets unter Kontrolle. Ihre sportliche, schlanke Figur gab ihr die Kraft, auch in außergewöhnlichen Situationen Haltung zu bewahren. Nur selten wurde ihre Stimme laut. In solchen Fällen war man jedoch fest davon überzeugt, dass sie die richtige Tonlage der jeweiligen Situation angepasst hatte. Frau Kello verstand es, sich den Anlässen entsprechend von sportlich bis elegant zu kleiden. Dafür wurde sie von vielen ihrer Schülerinnen geliebt, aber auch dem Kollegium gefiel dieser selbstsichere Stil, denn man sprach sehr schnell in anderen Schulen, Institutionen, Ämtern, ja auch in der Presse von der neuen Chefin, was der Schule positive Aufmerksamkeit einbrachte.

Frau Kello war machtbesessen. Dessen war sie sich voll bewusst und sie war bereit, jedes Mittel einzusetzen, um ihre Machtposition weiter zu festigen und auszubauen. Man sollte ihr voll vertrauen, musste ihr voll vertrauen, um ihren gut durchdachten Plan umsetzen zu können. Sie war eine Meisterin der Manipulation, der Manipulation von Menschen.

Sie war davon überzeugt, dass niemand sie wirklich durchschaute. Aber da irrte sie sich. Ihrer ausgezeichneten Wahrnehmung hatte sich ein Mensch entzogen. Vielleicht beschlich sie deshalb in ruhigeren Stunden ein beklemmendes Gefühl, das sie nicht einordnen konnte.

KAPITEL 3

«Ich schlag dir dein Hirn vorwärts durch die Fresse. Na komm schon, komm, komm, ich reiß dir die Eier ab. Ohne deine Eier ist der Menschheit sowieso gedient. Noch so’n Arschloch wie dich, verträgt die Welt nicht.»

«Los Jan, los, gib ihm den Rest. Der ist doch schon fertig. Ja, jetzt hast du ihn. Mach ihn kalt.»

Die Schläge von Fäusten, die auf bereits freiliegende Knochen trafen waren nicht zu hören. Sie wurden von den frenetischen Kampfanfeuerungen der Mitschüler übertönt.

Kello rannte durch die Halle. Vor ihr tat sich ein Pulk von Schülern auf, kreisförmig angeordnet, mit einer Dichte von Schülern, die scheinbar die Gesamtschülerzahl übertraf.

«Aufhören, aufhören, lasst mich durch», schrie sie laut aber sehr beherrscht und von Autorität besetzt dem Pulk entgegen. Wo ist die verdammte Aufsicht, dachte sie sich.

Selbst in höchster Anstrengung ging ihr durch den Kopf, dass sie daraus für sich und ihren Plan Profit schlagen könnte. Die Aufsicht hatte sich aufgrund der Brutalität wahrscheinlich in den hintersten Teil des Gebäudes verzogen, um später sagen zu können, nichts gehört zu haben.

Wie naiv, dachte sie und welche Chance für mich.

«Lasst mich durch», sagte sie nun nochmals laut aber mit deutlich ruhigerer Stimme, selbst überrascht, dass ihr das gelang.

Langsam bahnte sich eine Gasse für sie. Der Durchgang wurde schnell größer, denn die Gaffer flüchteten in alle Richtungen. Die Handys, sensationsgeil im Einsatz, verschwanden blitzschnell in Hosentaschen. Aber auch der harte Kern machte Platz, zog sich allerdings nur langsam zurück.

Na bitte, geht doch, dachte sie und erfreute sich ihrer Autorität.

Dieses Gefühl ging jedoch augenblicklich verloren, als sie in die Arena des Geschehens vorgedrungen war.

Jan blickte sie lange an. Der Blick machte sie unruhig, löste Gänsehaut aus, keine Gefühle, keine Autorität ihr gegenüber erkennbar. Er hatte getan, was er tun wollte. Langsam wischte er seine Hände auf dem Teppich ab.

Vor ihr lag Kai, blutüberströmt, in unmittelbarer Nähe erbrach sich jemand.

Von Anatomie hatte Kello nur wenig Ahnung. Die verpflichtenden Erste-Hilfelehrgänge reichten jedoch aus, um ihr zu sagen, dass das, was da so ekelig in Kais Gesicht brachlag, sein Jochbein war. Sein Unterkiefer war seltsam verschoben, Haut- und Fleischfetzen hingen herab, Blut sickerte nicht, sondern floss wie ein Rinnsal langsam aber beständig aus seinem Mund. Auch der Oberkörper wies seltsame Verrenkungen auf. Sein rechter Unterschenkel stand in einem eigenartigen Winkel zum Knie. Kai war nicht bei Bewusstsein.

Sie beugte sich über ihn und Panik hätte sie befallen wäre nicht die Aufsichtskraft wie aus dem Nichts aufgetaucht.

«Rufen sie den Notarzt und die Polizei, verdammt nochmal.» Wir sprechen uns später, dachte sie gleichzeitig.

Jan schritt langsam Richtung Ausgang. Seine Bewegungen erinnerten an die selbstbewusste Darstellung eines Models.

«Du bleibst hier», schrie Kello und wusste doch gleichzeitig, dass sie bei ihm ihre Macht verloren, nie besessen hatte. Er drehte sich um und zeigte sein unverschämtes, aufreizendes Grinsen.

Der Notarzt kam schnell. Kello konnte ihm ansehen, dass er schockiert war. Sein Schock beruhte nicht auf dem Anblick der Schwere der Verletzungen, die er nun zu behandeln hatte, ganz bestimmt hatte er schon Grausigeres gesehen, sondern auf seinem Unvermögen, sich vorzustellen, welche Brutalität Jugendliche entwickeln konnten.

Behutsam aber doch schnell und mit geübten Griffen legten die Sanitäter Kai auf die Trage, rannten mit ihm aus dem Gebäude, rasten mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene davon.

Kello hatte dafür gesorgt, dass kein Schüler mehr in unmittelbarer Umgebung anwesend war. Ruhig und selbstsicher gab sie, von ihrem Auftritt scheinbar berauscht, Anweisungen und überzeugte somit erneut das Kollegium von ihren Fähigkeiten.

Wieder war sie ihrem unausweichlichen Vorhaben einen Schritt weiter gekommen und empfand den Problemschüler Jan als wahres Geschenk. Jan der Kiffer, Jan der Brutalo, der zu allem Fähige, Jan der Einsame.

KAPITEL 4

«Ich bin da», rief sie in den Flur. Erschöpft schmiss sie ihre Schuhe von sich. Erschöpfung ließ sie nur zuhause zu.

«Es war grauenvoll. Du glaubst gar nicht wozu Kids im Stande sind. Die haben sich so geprügelt, dass wir Notarzt und Polizei rufen mussten. Ich war als Erste vor Ort. Stell dir vor, der olle Kulm hatte Aufsicht und hat sich in die letzte Ecke verpieselt. Sieht aus wie ein Affe, aber dass er nun auch Affe spielt, nichts hören, sehen, sprechen ist schon zum Totlachen. Alle Kollegen haben versagt. Hysterie war angesagt. Frau Retlaw hat sogar in den Flur gekotzt. Von Verunreinigung teurer Auslegeware kann man ja Gott sei Dank bei diesem Schrott nicht mehr sprechen», lachte Kello laut und trocken.

«Ich habe alles super gemeistert. Daraus mache ich was, lasse mich zur Heldin auferstehen. Warte nur ab, wie ich die erforderlichen Maßnahmen für Jan umsetze. Souverän, und mit Beschlüssen, die mein Kollegium mit Ehrfurcht vor mir erzittern lassen.» Wieder lachte sie auf, dieses Mal war es aber eher ein gepresstes Glucksen.

«Spaß beiseite. Es ist gut, dass es so Schüler wie Jan gibt. An solchen Typen kann man seine pädagogischen Fähigkeiten oder welche auch immer beweisen. Ich werde daraufhin arbeiten, dass er nicht der Schule verwiesen wird. Ich brauche ihn noch,--- für mich. Aber ein bisschen unheimlich ist er mir schon.»

Sie stand in der Küche, ihr letzter Satz klang ihr noch in den Ohren. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie keinerlei Geräusche aus der Wohnung wahrgenommen hatte, geschweige denn einen Kommentar zu ihren Ausführungen.

Ihr Rücken spannte sich, ihr Magen, wie so oft in letzter Zeit, verkrampfte, die Stille fing an zu schmerzen.

Nicht schon wieder, dachte sie und bewegte sich langsam auf das Wohnzimmer zu.

Ihr Mann saß auf dem Sofa und grinste sie dämlich an. Er war sichtlich bemüht, einen nüchternen Eindruck zu übermitteln, war jedoch so betrunken, dass er bei dem Versuch sich zu erheben, langsam vom Sofa auf den Boden rutschte.

Kello beugte sich über ihn und diagnostizierte aus langjähriger Erfahrung, dass die nächsten Stunden nicht mehr mit ihm zu rechnen war. Voller Verachtung trat sie ihm mit voller Wucht in die Seite. Sollte er morgen über Schmerzen klagen, würde sie es auf einen Sturz zurückführen. Vielleicht würde sie ihm aber auch die wahre Ursache ins Gesicht schleudern und noch einmal zutreten. Angst auf Gegenwehr hatte sie nicht zu befürchten. Die vielen Alkoholexzesse hatten seinen Körper geschwächt und Gegenwehr war noch nie seine Stärke gewesen. Ein Zettel auf dem Tisch informierte sie, dass die Tochter von der Oma abgeholt worden war.

Gut, dass es sie gibt und sie keine Fragen stellt, schoss es Kello durch den Kopf. Was für Fragen bei so eindeutigen Verhältnissen sollten denn auch gestellt werden, beendete sie ihren Monolog.

Eigentlich sollte er jeden Tag stinkbesoffen sein, dachte Kello angewidert. So viel versaufen wie er im nüchternen Zustand verspielt ist gar nicht möglich.

«So 'n Quatsch», sprach sie zu ihrer eigenen Beruhigung laut vor sich hin.

Mühsam schleppte sie sich ins Schlafzimmer, ließ sich ins Bett fallen und rollte sich hilfesuchend in Embryostellung zusammen.

«Das Casino-Verbot hat bundesweit Bestand und außerdem, was soll denn noch verspielt werden?» Kello schreckte hoch. War sie wirklich eingeschlafen? Waren das ihre eigenen Worte?

«Scheiß Traum», schrie sie heraus. Schreien konnte sie hier, nur hier und sie war sich sicher, dass niemand sie wahrnehmen würde.

Irgendetwas stimmte nicht. Warum war er bis zur Bewusstlosigkeit betrunken? Nüchtern war er selten, aber doch ansprechbar und hin und wieder ein guter Gesprächspartner, hingebungsvoller Liebhaber, was all ihre Vorsätze, sich zu trennen immer wieder zunichte machte.

Erschöpft fiel sie in ihr Kissen zurück, unfähig sich von ihren Gedanken zu lösen. Schweißgebadet versank sie in einen Alptraum, der doch nichts anderes als die Wahrheit war. Unfähig sich der Gegenwart zu stellen, ließ sie den Erinnerungen freien Lauf. Sie würde später wieder eingreifen.

‹Casino-Verbot›---gemeinsam hatten sie diese Maßnahme beschlossen, eine Maßnahme, die einer Entmündigung gleichkam. Er war bereit gewesen, sich dieser Demütigung zu unterwerfen. Eine andere Wahl schloss sich ihm aus.

Er liebte seine Frau, sein Kind und eigentlich auch seine finanzielle Situation. Schon lange wollte ihn niemand mehr als Jurist einstellen, zu sehr war sein Gesicht vom Alkohol gezeichnet. Er war davon überzeugt, dass das Gehalt seiner Frau zum Überleben reichte, selbst wenn man seine Spielschulden abzog. Um finanzielle Angelegenheiten kümmerte er sich schon lange nicht mehr, hatte keinerlei Überblick über die Summen, die er verspielte. Selbst wenn er wüsste, wie hoch die familiäre Verschuldung war, hätte das an seiner Spielsucht nichts geändert.

Unruhig schmiss sich Kello im Bett hin und her.

«Los, komm zu dir», flüsterte sie. Langsam setzte sie sich auf, strich die Haare glatt und schlug mehrmals mit der Hand in ihr Gesicht. Sie schleppte sich ins Badezimmer und starrte die Dusche an. Kaltes Wasser war ihr ein Gräuel aber in ihrem jetzigen Zustand wahrscheinlich die einzige Möglichkeit wieder zu klarem Verstand zu finden.

In Zeitlupentempo zog sie sich aus und ließ ihre Kleidungsstücke achtlos auf den Boden fallen. Widerwillig drehte sie die Dusche auf und stellte den Temperaturregler auf lauwarm, kalt schaffte sie nicht.

 

Es tat gut, sich den ganzen emotionalen Dreck von der Haut zu waschen. Entsetzt stellte sie fest, dass an ihrem linken Arm Blut klebte, nicht ihr Blut. Hatte sie bei der Schlägerei mit Jan doch tatkräftiger eingegriffen als ihr in Erinnerung war? Angeekelt schrubbte sie auf ihrem Arm herum.

Vorsichtig stieg sie aus der Dusche und entnahm einem Schrank ein frisches Handtuch. Langsam, sehr langsam, einer Zelebrierung gleichkommend, trocknete sie sich ab.

Es schien so, als sei ihr linker Arm besonders nass, denn sie trocknete ihn bereits zum dritten Mal ab. Dann jedoch schmiss sie wie elektrisiert das Handtuch im hohen Bogen durch den Raum.

«Wie konnte ich nur so naiv sein, zu glauben, dass ein Casinoverbot dich und unsere Familie schützt? In welcher Hinterzimmerspelunke bist du gewesen? Hast du Arsch jetzt auch noch mein letztes Geldversteck gefunden, bist zu feige es mir zu sagen und betrinkst dich sinnlos?», schrie sie in Richtung Wohnzimmer, ohne sich in dem Moment bewusst zu machen, dass ihre Worte ihn nicht erreichen würden.

Sie stürzte ins Schlafzimmer, riss die Schublade mit ihrer Unterwäsche auf und wühlte zwischen Slips, BHs und Hemdchen herum. Vergeblich suchte sie nach dem, was sie sicher versteckt geglaubt hatte. In Panik zog sie die Schublade vollkommen heraus und kippte den Inhalt auf den Teppich. Da war er, der Umschlag, dessen Inhalt so überlebenswichtig war. Er war aufgerissen, leer und achtlos unter die Wäsche gestopft als hätte er nie eine besondere Bedeutung gehabt.

Kello ließ sich auf den Boden sinken und weinte haltlos.

Nur langsam gelang es ihr, sich zu beruhigen. Sie richtete sich auf und ging schwankend ins Wohnzimmer. Ihr Mann lag noch immer so da, wie sie ihn verlassen hatte.

Sie betrachtete ihn lange, drehte sich von ihm weg und bemerkte erst jetzt, wie kalt ihr war.

Sorgfältig suchte sie ihre Kleidung aus. Freizeitkleidung sollte es sein; leger und doch edel. Sie brauchte einen freien Kopf, frische Luft, vielleicht sogar ein bisschen Regen. Die Kleidung sollte von ihrem verquollenen Gesicht ablenken.

Leise öffnete sie die Haustür und warf noch einmal einen Blick auf ihren Mann. Sie hatte sich überzeugt, dass er keine Hilfe benötigte, glaubte wieder einmal, sich nicht von ihm trennen zu können.

Es regnete tatsächlich leicht, warmer Regen, der sich auf der Haut besser anfühlte als kaltes Wasser aus der Dusche. Mit gesenktem Kopf ging sie die Straße bis zum Feldweg hinunter. Erst hier straffte sie die Schultern, warf den Kopf in den Nacken und fing mit der Zunge die Regentropfen auf. Sie mischten sich mit ihren Tränen, die ihr haltlos über die Wangen liefen.

Je länger sie nachdachte, desto deutlicher wurde ihr die ausweglose Situation in der sie sich befand.

Die Konten waren schon seit einer Ewigkeit leergeräumt. Die Schuldenlast war immens. Kello unternahm alles, ihre Familie am Überleben zu halten, indem sie die unbequemsten Gläubiger mit Ratenzahlungen ruhig zu stellen versuchte. Immer wieder setzte sie Charme und Überredungskunst ein, um Rückzahlungen hinauszuzögern. Durch ihr Gespür für die Manipulierbarkeit einzelner Menschen setzte sie die Schwachen ganz hinten auf ihre Liste. Manchmal musste sie lächeln, wenn sie mitbekam von wem sich ihr Mann Geld geliehen hatte. Kreativität besaß er, dass musste sie ihm schon lassen.

Erdrückend waren ihre Bankschulden. Sie war klug genug, ihre Kraft nicht an einen kleinen Bankangestellten zu vergeuden. Die Banken wollten ihr Geld; Punkt, und sie konnte die Forderungen seit einem Monat nicht mehr begleichen. Ihre Schulden ließen sich scheinbar nicht abtragen. Nur ein geringer Teil ihres Gehaltes blieb zum täglichen Leben. Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft, jeden Monat eine kleine Summe unter ihrer Unterwäsche zu verstecken. Sie betrachtete es als Überlebensreserve.

Kello blieb stehen und lauschte dem Geräusch eines Mähdreschers. Es hatte aufgehört zu regnen. Komisch schoss es ihr durch den Kopf, dass der Bauer bei dieser Nässe auf seinem Feld rumkurvt. Vielleicht hat er auch Schulden, braucht frische Luft, vielleicht ist ja auch nur seine Frau betrunken. Sie musste selber über ihren Fatalismus lächeln.

Die Schätze unter ihrer Unterwäsche waren unwiderruflich weg. Sie hatte lange nicht gezählt und wusste nicht, welche Summe sie betrauern sollte.

«Jetzt ist der Schatz unter meiner Unterwäsche nur noch mein Körper», prustete sie laut heraus und erschreckte sich gleichzeitig, wie frivol sie in dieser Situation sein konnte.

Sie musste handeln. Ihr Plan, an das Budget der Schule heranzukommen stand unwiderruflich fest. Sie befürchtete jedoch, dass es noch zu früh war, ihn umzusetzen. Noch war sie sich nicht sicher, ob ihre Machtposition auch mit so viel Vertrauen bei den Kollegen verbunden war, dass sie ihr keinen Missbrauch zutrauten, wenn der Verlust des Geldes aufflog.

Sie hielt sich Situationen vor Augen, in denen sie geglänzt hatte und puschte sich dadurch hoch.

«Es muss jetzt beginnen, einen anderen Ausweg gibt es nicht. Ich ziehe noch die Maßnahmen mit Jan durch. Das müsste reichen, um auch den letzten von meiner Seriosität zu überzeugen. Gut das erst einmal das Wochenende vor mir liegt», sprach sie laut vor sich hin, um sich Mut zu machen.

Das beklemmende Gefühl, dass sich wieder einmal zeigte, führte sie nicht auf einen einzelnen Kollegen zurück, sondern auf ihre verzwickte Situation.

Sie drehte sich um und legte den Rückweg mit erhobenem Kopf zurück.