Abwägen und Anwenden

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Abwägen und Anwenden
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Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast

Abwägen und Anwenden

Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

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ePub-ISBN 978-3-7720-0079-9

Inhalt

 Uta Müller / Philipp ...EinleitungLiteratur

 I. Konzepte und MethodologienAbwägen als Moment klugen HandelnsLiteraturDie Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik – eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive1. Reflexivität und Ergebnisoffenheit – das Problem abschließender Antworten2. Der Topos vom „ungelösten Theorienpluralismus in der normativen Ethik“ – das Problem einer Ethik vor der Ethik3. „Bereichsspezifische Moral- und Ethikgeschichten“ – Probleme der Bereichsethik-Konzeption4. „Das Allgemeine und das Besondere“ – Probleme einer Modellierung des angewandten ethischen Urteils (nach Hegel)5. Anwendung als „Urteilskraft + X“? Das Problem normativer Ansprüche6. Perspektive eines Ausweges? Nicht „Anwenden“, sondern klugheitsethisch-topisch ArgumentierenLiteraturDas Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung bei Entscheidungen unter Unsicherheit1. Einleitung2. Teleologische und deontologische Prinzipien3. Situationen unter Unsicherheit4. Deontologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit5. Teleologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit6. Fazit und ForschungsperspektivenLiteraturZur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik – der gesellschaftliche Diskurs um biologische Altersforschung als BeispielEinleitungFallbeispiel: Das Altern abschaffen?„Für immer jung?“ – ein Beispiel für die Thematisierung von Biogerontologie in den MedienAngewandte Ethik als Mahnerin und Bremserin?Vorstellungen des Guten in der EthikAltern als integraler Bestandteil eines ganzen menschlichen LebensIndividuelle und gesellschaftliche Vorstellungen des GutenFazitLiteratur

 II. Ethik, Recht, Medizin„Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess1. Ansatzpunkte einer allgemeinen Typologie normativer Minimalstandards2. Schwellenwerte des Existenzminimums: „absolut“, „relativ“ – oder beides?Der Capability Approach: „functionings“, „capabilities“ und „freedom“Fähigkeiten und Schwellenwerte eines menschenwürdigen Lebens nach Martha C. Nussbaum3. AusblickLiteraturAnwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen RechtsI. Besonderheiten der Abwägung und im Internationalen PrivatrechtII. Die grundsätzliche Bestimmung des maßgeblichen RechtsIII. Die Ausweichklausel als AusnahmeIV. Nichtanwendung des fremden RechtsV. ZusammenfassungLiteraturWie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst: Moralpsychologische ForschungsfragenEthisches Abwägen in der beruflichen PraxisPrinzipienethikEthische ExplikationPsychologische BefundeForschungsfragenPragmatische ImplikationenLiteratur

 III. Bildung und AusbildungZur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte und Normen in der WeiterbildungEinleitungWas ist ethische Kompetenz?Was zeichnet kompetenzorientierte Weiterbildungen aus?Wie lässt sich ethische Kompetenz vermitteln?Perspektiven für die WeiterbildungFazitLiteraturDie Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit: Überlegungen zur beruflichen Weiterbildung in sozialen Organisationen1. Einleitung2. Vorüberlegungen zu ethischen Abwägungsprozessen3. Strukturmerkmale, Spannungsfelder und Herausforderungen in der Sozialen Arbeit4. Ausblick: Der Beitrag wissenschaftlicher WeiterbildungLiteraturMoralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im MedizinstudiumZiele und Realität medizinethischer AusbildungBegründung und Rechtfertigung in der EthikPotenzielle Auswirkungen von unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien und Formen des Schlussfolgerns auf Ergebnisse des MedizinethikunterrichtsFazitLiteratur

  Kurzbiographien der Autoren und Autorinnen

Einleitung

Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast

Seit den 1960er Jahren hat die sog. „Angewandte Ethik“ einen beachtlichen Aufschwung erfahren und sich in Form verschiedener Bereichsethiken wie Umwelt‑, Bio-, Medizin- und Wirtschaftsethik etc. institutionalisiert (Steigleder/Mieth 1991). Das Projekt einer „Angewandten Ethik“ oder „Ethik in den Wissenschaften“ ist dabei mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, dass sie bei konkreten und offenen Problemstellungen, z.B. bei Moralfragen in Wissenschaft und Technik, einen methodisch gesicherten Beitrag zur gesellschaftlichen Orientierung leisten kann (Düwell 2000). Dass diese methodische Basis allerdings keineswegs einfach ist und sich für die anwendungsbezogene Ethik insbesondere die Frage stellt, wie sich allgemeine Normen und Werte überhaupt auf konkrete Problemstellungen beziehen lassen, zeigt sich allein schon an der (unabgeschlossenen) Suche nach ihrer angemessenen Bezeichnung (Düwell 2011). Der auch durch Handbücher und Lexika-Einträge etablierte Begriff einer Angewandten Ethik (Nida-Rümelin 2005) scheint, so die Kritik, eine allzu einfache Konzeption von „Anwenden“ einer Theorie nahezulegen, bei der die Rationalität der Übergänge zwischen den Aussagen von verschiedenen Allgemeinheitsgraden letztlich unklar bleibt und zugleich das jeweils Besondere des konkreten Einzelfalls zu verschwinden droht. Eine zu einfache, subsumtive Konzeption von Anwendung verstellt jedoch nicht nur die konzeptionellen Probleme, mit denen das Projekt einer Konkretisierung philosophischer Ethik in spezifischen Fallfragen zu konfrontieren wäre. Vielmehr besteht auch die Gefahr, dass theoretische Überlegungen der Ethik sich „unter Anwendungsdruck“ an der sozialen Erwünschtheit ihrer Ergebnisse orientieren könnten, und so keine philosophisch-ethische Klärung leisten, sondern lediglich spezifische Vorstellungen der herrschenden Moral „rationalisieren“ und reproduzieren würden. Eine reflexive Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ scheint daher erforderlich, nicht zuletzt um auch die zweifellos sachlich ergiebigen Forschungsprojekte, die unter dem Titel „Angewandte Ethik“ durchgeführt werden und wurden, hinsichtlich ihrer methodischen Basis weiterzuentwickeln.

Dass nun die langjährigen Diskussionen um eine „Anwendung“ ethischer Theorie bislang noch nicht im Sinne einer konzeptionellen Klärung entscheidend vorangekommen sind, kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Erstens werden häufig ganz verschiedene Fragestellungen und interdisziplinäre Problemfelder unter dem Begriff der „Anwendung“ zusammengefasst. So kann zum Beispiel bereits die Frage „Wie kommt die Erkenntnis allgemeingültiger, theoretisch begründeter Normen im Einzelfall zur Anwendung?“ empirisch-psychologisch, pädagogisch-didaktisch, sozialwissenschaftlich oder normativ philosophisch, rechtswissenschaftlich oder theologisch untersucht und durch entsprechend disziplinäre Theoriebildung unterschiedlich beantwortet werden. Zweitens hat die starke Ausdifferenzierung der sog. Angewandten Ethik dazu geführt, dass in den verschiedenen Bereichsethiken eine Vielzahl von spezifischen Untersuchungsergebnissen und Urteilsbildungsmodellen entwickelt wurde, die den Anforderungen der jeweiligen Praxisfelder wohl genügt, aber nicht mehr übergreifend methodologisch diskutiert wird. Hier fehlt bislang eine Zusammenführung der einzelnen ethischen Diskurse unter eine gemeinsame, philosophisch reflexive Forschungsperspektive zur Klärung ihrer methodischen Leistungsfähigkeit im Allgemeinen. Drittens wird dem Anwendungsaspekt im Rahmen verschiedener ethischer Theorieansprüche eine unterschiedliche Relevanz und Verortung gegeben: Während zum Beispiel das Subsumtionsproblem hauptsächlich ein Problem für Ethiken des Kantischen Typs darstellt (vgl. Wieland 1989; Werner 2004: 81f.), tritt dieses in klugheitsethischen Konzeptionen nicht auf (vgl. Luckner 2005). Überlegungen im Modus einer Klugheitsethik sind dagegen mit dem Problem der Vagheit und Unsicherheit hinsichtlich ableitbarer Direktiven im Sinne konkreter Gebote bzw. Verbote belastet – Argumente gegen einen absoluten, epistemischen und normativen Relativismus sind daher dringend erforderlich. Bereits diese kurze Andeutung mag exemplarisch ersichtlich machen, dass das Erfordernis einer methodologischen Klärung von „Angewandter Ethik“ auch und gerade einen Rückgang zu den begrifflichen Grundlagen der philosophischen Ethik sowie deren vertiefte Reflexion erforderlich macht. Die Unterscheidung einer (nur) allgemeinen Ethik als reiner Theorielieferantin einerseits und einer problemorientierten Angewandten Ethik andererseits, wie sie von manchen Einführungswerken zum Thema nahegelegt wird (Fenner 2010; Vieth 2006), erscheint daher fraglich und wenig zielführend (vgl. auch Salloch 2016: 36f.).

 

In Bezug auf Anwendungsfragen allgemeiner Theorieansprüche und Normen auf das „wirkliche Leben“ stellt insbesondere auch die Kooperation der Philosophie mit anderen normativen und auch empirisch-erklärenden Disziplinen ein Desiderat dar. Beispielsweise steht die juristische Methodenlehre vor dem ähnlichen Problem einer Sicherung der „kleinteiligen“ Rationalität der Subsumtion von Einzelfällen unter allgemeine rechtliche Normen und Gesetze. Pädagogik und Psychologie arbeiten ähnlich wie die philosophische Ethik, freilich methodisch auf andere Weise, an Konzepten, wie allgemeine Erkenntnisse, Normen und Werthaltungen im Handeln (am besten) zur Geltung gebracht werden können. In diesem interdisziplinären Forschungsfeld ist jedoch klar zu unterscheiden, ob angesichts von „Anwendungsfragen“ der Fokus auf der begrifflichen Klärung von anerkannten und anerkennungswürdigen Regeln und auf den expliziten Begründungen liegt, die Überlegungen in bestimmten Praxisbereichen als gut bzw. angemessen erscheinen lassen – im Sinne eines Qualitätsurteils auf Grundlage einer rationalen Reflexion. Oder ob es in empirisch-erklärender Hinsicht darum geht, die gedanklichen Vorgänge des ethischen Überlegens empirisch-experimentell überprüfbar zu machen und das praktische Entscheidungsverhalten in seinen individual- oder sozialpsychologisch erklärbaren Aspekten weiter zu erforschen. Beide Forschungsperspektiven scheinen zur Klärung der Methode und Leistungsfähigkeit einer „Angewandten Ethik“ erforderlich, jedoch ist die begrifflich-reflexive Klärung primär und muss logisch vor einer empirischen Erforschung anwendungsbezogener Überlegungen und dem entsprechenden Entscheidungsverhalten durchgeführt werden. Die begriffliche Klärung und methodische Ausrichtung wird dabei freilich „unterwegs“ immer wieder produktiv durch empirische Erkenntnisse irritiert werden. Diese Irritationen sollte die philosophische Auseinandersetzung zulassen und konstruktiv aufnehmen.

In gewisser Hinsicht stellt dieser Sammelband neben der Darstellung neuer möglicher Forschungsperspektiven im „Anwendungsfeld der Ethik“ auch einen Zwischenbericht über die Diskussions- und Untersuchungsergebnisse eines Forschungsnetzwerkes dar, das am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (Universität Tübingen) von Julia Dietrich und Philipp Richter 2016 initiiert und von Uta Müller, Thomas Potthast und Philipp Richter über zwei Jahre hinweg organisiert und mit zahlreichen interdisziplinären Kooperationspartnerinnen und -partnern im gemeinsamen Austausch gepflegt wurde. An dieser Stelle möchten die Herausgebenden des Bandes für die rege Beteiligung durch Diskussion, Texte und Vorträge unseren Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen danken, die sich gerne bereit erklärt haben, an zwei größeren Workshops zur Sichtung und Klärung des interdisziplinären Forschungsfeldes einer „Anwendung von Ethik“ am Ethikzentrum der Universität Tübingen mitzuwirken.

Eine wichtige Ausgangsfrage der Workshops war, wie sich allgemeine Normen auf konkrete Einzelfälle beziehen lassen können und welche Relevanz ihnen dabei für die konkrete Handlungsorientierung zukommen kann. Ziel war die Ermittlung interdisziplinärer Forschungsperspektiven, um zur Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ beitragen zu können. Sowohl in philosophisch immanenter als auch methodisch interdisziplinärer Konstellation erwies sich das Forschungsfeld als äußerst divers und die verschiedenen Fragestellungen und Zielsetzung als methodisch und inhaltlich sehr heterogen. Diese Heterogenität wurde bei Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der adressierten Praxisbereiche nochmals gesteigert (man denke an Ethiklehre an Schule oder Hochschule, politisches Engagement auf Grundlage ethischer Argumente, Umsetzung von Reflexion in Organisationen oder auch an juristisches Denken auf Grundlage des gebräuchlichen Rechts in einzelnen Ländern, im deutschen Strafrecht, im Richterrecht oder in allgemeiner rechtswissenschaftlicher Perspektive). Eine kreuzklassifikatorische Matrix, die alle wichtigen Forschungsmöglichkeiten erfassen sollte, stieß bald an die Grenzen der graphischen Darstellbarkeit. Jedoch konnte nach weiterer interdisziplinärer Vertiefung das gemeinschaftliche Forschungsinteresse der Beteiligten fokussiert werden auf die Beantwortung der Frage: „Was macht moralische Urteile in Praxisbereichen gut?“ Dabei ist die Leitdifferenz zu beachten zwischen der „Güte moralischer Urteile“ (methodologisch-reflexive Perspektive) und der „moralischen Güte von Urteilen“ (lebensweltliche Fundierung und Angemessenheit eines konkreten moralgeleiteten Handelns).

Es hat sich schließlich ergeben, dass es für eine methodische Klärung des Phänomens „Ethik in Anwendung“ zielführend ist, das ethische Überlegen als Tätigkeit ins Zentrum der Auseinandersetzung zu stellen. Wie alle deutschen Substantive, die auf „-ung“ enden, lässt sich hierbei „Überlegung“ zum einen prozessual im Sinne einer Tätigkeit (das Überlegen) und zum anderen resultativ bzw. als ein Ergebnis (die Überlegung) auffassen. Während der interessante, argumentative und philosophisch reflexive Aspekt des Überlegens beim Blick auf seine bloßen Resultate, die in Form von Propositionen vorgetragen werden, nicht mehr klar ersichtlich ist, wird dieser Aspekt bei der Fokussierung auf Überlegungen, die explizit und zugleich das Überlegen selbst hinsichtlich seiner Form und Methode betreffen, deutlicher. Der zu einfache und letztlich unklare Begriff einer „Anwendung“ von ethischer Theorie wird so – um eine Formulierung Hegels zu verwenden – aufgehoben (also hinsichtlich seiner Einseitigkeiten identifiziert, diese Einsicht „aufbewahrt“ und für die weitere Differenzierung durch Reflexion verfügbar gemacht). Auf diese Weise wird nun die Tätigkeit des konstruktiven Anwendens ethischer Vorüberlegungen angesichts konkreter Probleme zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Diese Tätigkeit des Konkretisierens und Weiterführens kann, das schien den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Diskussion sinnvoll, auch als ein prozessuales Abwägen unterschiedlicher theoretischer und praktischer Anforderungen im Einzelnen verstanden werden. Mit Abwägung ist hier der gesamte Vorgang der reflexiven Urteilsbildung gemeint, der den eine Praxis leitenden Regeln und impliziten Normen folgt oder sich kritisch zu diesen positionieren kann, nicht nur der Extremfall einer „Güterabwägung“ bei einer offensichtlichen Pflichtenkollision oder bei Dilemmata. In der deutschsprachigen Diskussion hat sich zur Adressierung des Letztgenannten die Rede von „Güterabwägung“ etabliert. Darunter wird eine argumentative Entscheidungsfindung verstanden, die auf Fälle von nicht-trivialen Güterkonflikten oder Dilemmata beschränkt ist und zum Ziel hat, entweder das kleinere Übel oder einen Ausgleich zwischen Nutzen und unvermeidlichen Schaden zu ermitteln (vgl. Horn 2011: 391f.). Dieser sehr engen Bezeichnung von Abwägung soll hier, so auch das Ergebnis der Diskussion im Forschungsnetzwerk, ausdrücklich nicht gefolgt werden. „Abwägung“ und „Abwägen“ sollen vielmehr insgesamt als Konzepte – oder zunächst einmal als Titelworte – für einen argumentativ angeleiteten Reflexionsprozess verstanden werden; dabei ist sicherlich fraglich, inwieweit dieser Prozess in klare Begrifflichkeit übersetzbar ist oder ob es sich bei der gedanklichen Tätigkeit des Abwägens doch um „absolute Metaphern“ für das ethische Überlegen handelt (vgl. Luckner 2008: 157).1

Konzeptionelle Überlegungen finden sich z.B. bei Luckner (2008: 156), der „Erwägen“ in Anschluss an Aristoteles als das erste von drei Momenten einer „klugen Handlung“ bestimmt: Vor dem Urteilen (Erkennen der richtigen Handlungsoption) und dem Entschließen (Realisierung der Handlungsoption) finde das „Erwägen“ oder „Abwägen“ von Handlungsgründen statt, wobei sich diese sowohl auf die Zwecke als auch die Mittel der Handlung beziehen. Dabei wird betont, dass Erwägungsprozesse nur „im Bereich des Kontingenten“ stattfinden und die Klärung ihrer „übersituativen“ Relevanz ein theoretisches Problem darstellt (vgl. ebd.: 157). Nadia Mazouz (2012: 359) expliziert „Abwägen“ in ähnlicher Hinsicht als das „subjektive Verfahren der Relevanz- und Wichtigkeitszuweisung“ im Unterschied zum „Begründen“ als dem expliziten Schlussfolgern. Im Kontext der politischen Theorie und Philosophie ist der Begriff „Deliberation“ gebräuchlich: Juan Carlos Velasco (2010: 360) bestimmt ihn als ergebnisoffene Entscheidungsfindung durch Klärung relevanter Gegenstände und Sachverhalte sowie Prüfung möglicher Argumente und Gegenargumente für bestimmte Handlungsoptionen. Typischerweise beziehe sich „Deliberieren“ auf vergleichsweise komplexe Fragen und Probleme, die sich nicht durch einfaches Deduzieren aus allgemeinen Normen lösen lassen.

Auch in der Rechtswissenschaft und in der Rechtspraxis ist das Konzept der Abwägung von großer Bedeutung. Das positive Recht wird heute nicht mehr nur als ein „konsistentes System von Normen“ verstanden, das gleichsam „alle Antworten für den Prozess der Rechtsanwendung“ bereit hielte (Luf 2014: 1f.). Vielmehr finden sich im Rahmen des positiven Rechts ganz unterschiedliche Problemsichten, differenzierte methodische und auch ethische Perspektiven, unterschiedliche Bestimmtheitsgrade von Normen, Spannungsfelder und Konflikte zwischen verschiedenen Normen, so dass „harmonisierende“ Abwägungsprozeduren nötig sind. Diese stellen nun keine Ausnahme dar, sondern vielmehr den Normalfall der Rechtsanwendung (ebd.). Große Beachtung gefunden hat hier die Abwägungslehre von Robert Alexy (1983; 1985), der Prinzipien als „Optimierungsgebote“ charakterisiert (Alexy 1985: 75f.), die nicht wie Regeln oder Normen in einem vollständig disjunktiven Verhältnis zueinander stehen (Jestaedt 2007: 256f.; Luf 2014: 5). Ähnlich wie im Falle der Abwägungslehre des positiven Rechts und einer Idee von Gerechtigkeit bei Gustav Radbruch (1946; „Radbruchsche Formel“) können auch hier Verbindungen zur philosophischen Klugheitsethik hergestellt werden. Zwar gilt die binäre Entgegensetzung, entweder Subsumtion oder Abwägung, und auch ein zu einfaches Modell des Rechtsanwenders als „Subsumtionsautomat“ als überwunden (Jestaedt 2007: 272f.), jedoch besteht in der Rechtswissenschaft nach wie vor das Desiderat einer differenzierten Ausarbeitung und methodologischen Diskussion des Vorgangs des Abwägens (ebd.: 275).

Auch wenn bisher keine einheitliche Bestimmung des Begriffs „Abwägung“ zur Verfügung steht, wird diesem auch in der praktischen Philosophie eine zentrale Stellung eingeräumt. Ein wichtiger Grund dafür könnte sein, dass häufig ein enger Zusammenhang von Abwägen und praktischer Rationalität postuliert wird. Das Forschungsthema „Abwägung“ steht dabei für das Konzept eines dynamischen Vorgangs, der als Inbegriff der Prozesse des Überlegens unter Problemdruck schließlich zu einer konkreten Bewertung oder Handlung im Einzelfall führt. Insofern könnte das „Abwägen“ auch als ein konstitutives Moment von praktischer Rationalität bezeichnet werden (vgl. Kettner 1996a: 15; Rindermann 2006: 251; Gosepath 2002: 51). Der Begriff signalisiert bereits, dass ein schablonenartiges Rezeptwissen zur Lösung von moralischen Konflikten im Einzelfall nicht zu haben ist und womöglich auch nicht zielführend wäre. Jedoch scheint das Abwägungskonzept gerade auch geeignet, ethische oder rechtlich allgemeine Anforderungen in nicht-relativistischer bzw. nicht-partikularistischer Weise mit in den Vorgang des Überlegens einzubeziehen, wie es die Rechtsmethodologien und die Diskussion über praktische Rationalität zeigen. Der Begriff „Abwägung“ ist insofern gut geeignet, um im Ausgang von „typischen“ Fällen und beispielhaften Entscheidungskonflikten in den Praxisbereichen nach einer verallgemeinerbaren Methodologie der Urteilsbildung zu fragen.

Die Beiträge des Bandes führen die skizzierte Diskussion der Workshops fort und nehmen verschiedentlich das Problem einer Anwendung von Ethik bzw. allgemeiner Normen im Einzelnen als einen Prozess des gedanklichen Abwägens verschiedener Anforderungen in den Blick.

Der erste Themenblock widmet sich konzeptionellen und methodologischen Fragestellungen zur Rolle von Abwägung und Anwendung in der Ethik. Im ersten Beitrag untersucht Andreas Luckner die über eine bloße „Anwendung“ oder Mittelkalkulation hinausgehende Konkretisierung ethischen Überlegens. Dieses Abwägen ist, was Luckner im Ausgang von Aristoteles entwickelt, rational, obwohl nicht nur deduktive Logik oder der Umgang mit übersituativ gültigen Normen als Paradigma dienen. Philipp Richter diskutiert Konzepte von Angewandter Ethik und weist diesen immanente Widersprüche nach, die vor allem daher resultieren, dass die betreffenden Modelle statisch und isoliert gedacht werden – ohne dass ein Bezug zur Reflexivität einer philosophischen Auseinandersetzung und Begründung hergestellt wird. Zur Bewältigung dieser Problematik bietet Richter die Grundzüge einer Methodologie der Konkretisierung ethischen Überlegens an, die sich am Argumentationsmodus der Klugheitsethik und Topik orientiert. Eugen Pissarskoi untersucht die Problematik einer argumentativen Entscheidungsfindung in deontologischen und konsequentialistischen Ethikansätzen, auf die diese angesichts der Unsicherheit über die empirischen Konsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen notwendig stoßen. Diese Dimension des Umgangs ist besonders relevant für die rationale Klärung und Begründung des Vorsorgegedankens. Der Beitrag von Uta Müller und Lieske Voget-Kleschin versucht zu zeigen, dass sich die anwendungsbezogene Ethik in vielen umstrittenen Fällen zu sehr auf die Frage konzentriert, was Menschen tun dürfen, anstatt darüber zu reflektieren, was Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, eigentlich wollen. Diese Diskussion wird am Beispiel des aktuellen Diskurses über den Umgang mit der biologischen Altersforschung geführt.

 

Im zweiten Themenblock werden Fragen von Anwendung und Abwägung in den Praxisbereichen Ethik, Recht und Medizin behandelt. Jens Peter Brune und Micha Werner diskutieren in ihrem Beitrag einige Modelle ethischer Abwägung in politischen Gerechtigkeitsfragen mit Blick auf das Problem einer Konkretisierung von Ethik. Diese – aktuell viel diskutierten – Modelle postulieren nicht nur die Existenz von generalisierenden, auf Situationstypen oder typische Anspruchsqualitäten bezogenen Werte, Normen, Rechte oder Pflichten, sondern nehmen zusätzliche Kategorisierungen und Priorisierungen vor, um ethische Entscheidungen begründen zu können. Martin Gebauer und Felix Berner erörtern typische Abwägungskonstellationen im Kollisionsrecht. Nicht selten ergeben sich nämlich bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Prinzipienkonflikte, die nur durch die Methode der Abwägung zu lösen sind. Dabei sind auch kollisionsrechtliche Ausweichklauseln und Anpassungsfragen als Grundlage für Abwägungsentscheidungen zu bedenken. Im Bereich der Medizinethik stellen Michael von Grundherr und Orsolya Friedrich aktuelle psychologische Befunde vor, die nahelegen, dass in manchen konkreten Abwägungsfällen in der Medizin bewusstes verbales Überlegen und Argumentieren nicht immer dabei helfen, ein Ergebnis zu finden, das im Einklang mit gegebenen normativen Richtlinien steht – seien es die eigenen allgemeinen moralischen Überzeugungen der ethischen Entscheiderinnen und Entscheider, weithin akzeptierte berufsethische Prinzipien oder die Vorgaben einer ethischen Theorie. In vielen Fällen scheinen Forschungen zu belegen, dass intuitive Prozesse in dieser Hinsicht zu besseren Entscheidungen führen.

Der dritte Themenblock befasst sich mit Abwägungsfragen im Bildungsbereich. Bernhard Schmidt-Hertha widmet sich der Frage, welche Rolle in den Kompetenzdiskursen zur Erwachsenenbildung ethische Werte und Normen spielen. In seinem Beitrag werden – gestützt auf Konzepte zur Entwicklung ethischer Kompetenz im Schulunterricht und den Diskursen um Kompetenzorientierung in der Weiterbildung – grundlegende Überlegungen zur Vermittlung von ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten angestoßen. Der Beitrag von Christiane Burmeister und Uta Müller konzentriert sich auf Berufstätige in der Sozialen Arbeit. Die Autorinnen diskutieren die Problematik, vor welche charakteristischen Herausforderungen sich die in der Sozialen Arbeit tätigen Personen gestellt sehen, wenn sie das „gute Abwägen“ in normativen Fragen des beruflichen Alltags praktizieren wollen. Der Blick richtet sich auf die professionseigenen Strukturbedingungen Sozialer Arbeit und erweitert dann die Fragestellung dahingehend, worauf Weiterbildungen in Sozialen Organisationen besonderen Wert legen sollten. Der Ausbildung von Medizinstudierenden widmet sich der Beitrag von Orsolya Friedrich und Michael von Grundherr. Dabei gehen die AutorInnen von Studien aus, die zeigen, dass die ethische Kompetenz von Studierenden der Medizin im Verlauf ihres Studiums deutlich abnimmt. Aus einer konzeptionellen Perspektive wird diskutiert, ob und warum unterschiedliche ethische Begründungsstrategien in der Medizinethikausbildung die angestrebte moralische Kompetenz in unterschiedlicher Weise fördern könnten.

Die HerausgeberInnen danken der Universität Tübingen, die das Forschungsprojekt „Ethische Abwägung in Recht, Medizinethik und normativen Fragen der Bildung – konzeptionelle und empirische Perspektiven“ im Rahmen ihres Zukunftskonzepts „Research – Relevance – Responsibility“ (Exzellenzinitiative) gefördert hat.