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Sahra Wagenknecht
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Ergebnis der Kungelrunden war eine Aufteilung des deutschen Energiemarktes, wie sie perfekter nicht sein konnte: An Eon fällt das faktische Gasmonopol, an RWE das nicht minder renditeträchtige der Wassersparte; das Ölgeschäft überlassen beide den in diesem Bereich ohnehin überlegenen Konzernen Shell und BP; im Strommarkt, den Eon und RWE gemeinsam zu annähernd drei Vierteln kontrollieren, müssen sie weiterhin miteinander auskommen. Die Intensität ihrer Konkurrenz lässt sich anhand ihrer Bilanz ermessen: RWE hat sein Betriebsergebnis im Stromgeschäft im ersten Halbjahr 2002 um 46 Prozent gesteigert, Eon um 62 Prozent.

Der Deal war lange festgezurrt, als eine Unbill auftrat, mit der offenbar keiner gerechnet hatte: Ein Richter am OLG Düsseldorf hatte noch nicht ganz vergessen, dass ihm im Oberseminar einst gelehrt wurde: Liberalisierung – und sinnigerweise läuft die Schieberei ja unter diesem Namen – habe etwas mit Wettbewerb zu tun. Er gab der Klage der Fusionsgegner – vor allem Energiehändler und kleine Stadtwerke – per einstweiliger Verfügung statt; Verfahrensmängel der allzu selbstsicheren Dealer machten die Begründung leicht. Seither folgt des absurden Stückes zweiter Teil. Donnerstag letzter Woche wurde zu einer neuen öffentlichen Anhörung geladen. Die gleiche Gesellschaft lauschte zum zweiten Mal den gleichen Argumenten. Im Unterschied zum Mai harrte Hartmann diesmal höflich bis zum Ende aus, und Tacke war nicht nur anwesend, sondern soll sich sogar Notizen gemacht haben.

In Wahrheit wird nur an der Ausbügelung formaler Fehler und einigen neuen Auflagen gefeilt. Es geht um viel zu viel, als dass man sich die Suppe von einem Richter versalzen ließe. Objekt der Begierde sind nämlich nicht nur die Milliarden, die sich am bundesdeutschen Markt verdienen lassen. »Wenn der angestrebte Spitzenplatz in der Europaliga der Energieversorger erobert werden soll«, erläutert das Handelsblatt die Ziellinie, »muss jetzt dynamisch gehandelt werden. … Die Felder in Russland oder Norwegen als der langfristig wichtigsten [Gas-]Lieferanten Deutschlands werden jetzt verteilt. Mit der reichlich gefüllten Eon-Kasse könnte Deutschlands größte Ferngasgesellschaft ihr internationales Engagement deutlich ausbauen.« Der Monopolprofit im Heimatraum ist Mittel, internationale Expansion und Vorherrschaft der Zweck. Eon stiege mit Ruhrgas zum größten kombinierten Gas- und Stromunternehmen Europas auf. Mit dem heimischen Wassermonopol im Rücken kann RWE den Großen im Wassergeschäft, Vivendi und Suez, Paroli bieten. Sehr bewusst ging Deutschland von Beginn an bei der Privatisierung seiner Energiemärkte einen Sonderweg: Nicht eine Regulierungsbehörde, sondern die Giganten selbst wachen hier über »wettbewerbkonformes Verhalten«.

Dennoch: Wer private Monopole am Energiemarkt kritisiert, sollte die Betonung auf privat und nicht auf Monopol legen. In Ländern, die das neoliberale Credo wörtlicher nahmen, sind die Ergebnisse um nichts erfreulicher. Die früh privatisierte britische Energiebranche etwa hat viele ausländische Wettbewerber angelockt; die Großhandelspreise für Strom sind um 30 Prozent gefallen. Rege mit im Geschäft auch dort: RWE und Eon. Letzterer sponsert Verluste seiner britischen Tochter aus der heimischen Kriegskasse: Mithalten, bis anderen die Luft ausgeht, lautet das Credo. Der größte britische Stromerzeuger, British Energy, musste dieser Tage von der Regierung Finanzhilfe in Höhe von mehreren hundert Millionen Pfund erbitten. Andernfalls drohe die Pleite des 1996 in die effizienten Hände privaten Unternehmertums übergebenen Konzerns. Der erste Steuergeld-Scheck zur Subventionierung des Privatisierungsdesasters ist auf dem Weg. Der letzte wird es nicht gewesen sein. Brisant ist das Ganze nicht nur, weil der Pleite-Konzern rund ein Viertel aller britischen Haushalte mit Strom beliefert, sondern vor allem, weil er zu dessen Erzeugung fünfzehn Atomkraftwerke betreibt, acht davon in Großbritannien.

Auf der Nachbarinsel ist das Vertrauen in die Sicherheit dieser Mailer so groß, dass die Iren im Sommer ungewohnte Post von ihrer Regierung erhielten: eine Packung Jodtabletten ging an jeden Haushalt der gänzlich atomfreien Insel. Man könne nie wissen, lautete der knappe öffentliche Kommentar. Auch in Kontinentaleuropa weiß man nicht, doch wer selbst im Glashaus sitzt, wirft besser nicht mit Steinen.

14. September 2002

Hundts Erwartungen

Der Dax fiel, wie seit Monaten, auch am Montag nach der Wahl. Nicht heftiger und nicht weniger heftig. Dass desolate US-Wirtschaft, drohende Weltwirtschaftskrise und Kriegsvorbereitung am Golf die börsentäglich agilen Renditejäger weit mehr interessieren als eine Bundestagswahl, die bei allen denkbaren Konstellationen in eine wenig unterscheidbare Politik einmündet, darauf hatten Händler lange vor dem zum Schicksalstag hochstilisierten Urnengang hingewiesen. »Die beiden Kanzlerkandidaten haben sich zuletzt ohnehin kaum unterschieden«, erklärt Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger Forschungsinstituts HWWA. Auch sein Kollege Joachim Scheide vom Kieler Institut für Weltwirtschaft betont, der Wahlausgang bedeute »nichts Gravierendes«. Wollte das Großkapital Rosa-Grün oder Schwarz-Gelb oder Rosa-Schwarz? Die schlichte Antwort ist wohl: Es war ihm fast schnuppe.

Allerdings nur fast. Das Handelsblatt etwa hat in den letzten Monaten mehrfach pro Schröder agitiert, während Sympathiebekundungen an den schwarzen Herausforderer – spätestens seit dessen eigentümlicher Idee, die »soziale Schieflage« der Steuerreform öffentlich anzuprangern – rar geworden waren. Westerwelle wurde als das behandelt, was er ist, ein Clown. Wahlwerbung für die »Steuersenkungspartei« FDP suchte man vergeblich. Den Grund für diese Parteinahme erläutert Arbeitgeberchef Dieter Hundt in der Mittwochausgabe der Leipziger Volkszeitung: Ein Kanzler Schröder, führt er aus, komme der Wirtschaft durchaus zugute, da »anders als bei einer unionsgeführten Regierung … die Kanzler-Partei gute Kontakte zu den Gewerkschaften« habe und dies »wichtige Einigungen« erst möglich mache. Er mag Blüms Scheitern an der Rentenfront im Sinn gehabt haben und den Umstand, dass er den gleichen Privatisierungsdurchbruch jetzt im Gesundheitswesen wünscht. Auch Zwangsleiharbeit und Ich-AG sind gegen kämpfende Gewerkschaften schwerer durchsetzbar. Entscheidend, erklärt Hundt, sei, »welche Reformsignale in Richtung Arbeitsmarkt und Sozialversicherungssysteme von der neuen Regierung ausgehen«. Und hier gäbe es Grund zur Zuversicht. Das Wahlergebnis könne daher keineswegs »die Stimmung bei den Wirtschaftstreibenden trüben«.

Bar jeder eingetrübten Stimmung tut denn auch Werner Wenning, Vorstandsvorsitzender der Bayer-AG, dem Handelsblatt seine Erwartung kund, »dass die Bestätigung der rot-grünen Bundesregierung im Amt dazu führt, dass Kanzler Gerhard Schröder und seine Mannschaft mit dem gleichen Elan wie vor vier Jahren starten und die notwendigen Reformen angehen«. Der Mann weiß, wovon er redet; der von ihm geführte Konzern verdankt Schröders »Elan« immerhin die Möglichkeit, trotz beträchtlicher Gewinne keinen Cent Gewerbesteuer mehr zahlen zu müssen. Selbst BDI-Chef Rogowski geht inzwischen davon aus, »dass man das Kriegsbeil begräbt«, und präsentiert seine Forderungsliste: »Das Kartell der Tarif-Verträge muss geknackt werden, wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, wir müssen Arbeit statt Arbeitslosigkeit unterstützen.«

Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschaftslobby gibt es allenfalls in der Frage, ob zur Realisierung dieser schönen Ziele eine Große Koalition oder die Weiterführung des Rosa-Grünen-Bunds ratsamer wäre. Für letzteren spricht, dass die Grünen ihre Rolle als Nachlassverwalter der FDP bereits in der ersten Legislatur mit Bravour ausfüllten und dank hinzugewonnener Stärke die Umsetzung profitfördernder Gruselkataloge jetzt erheblich beschleunigen könnten. Nicht nur Davon Walton, Chefvolkswirt für Europa bei Goldman Sachs, lobt die Grünen für »ambitionierte Reformziele« und »größeren Reformhunger«. Würde sich insbesondere Fischer, erläutert er, »mehr auf die Innenpolitik konzentrieren als in den vergangenen vier Jahren, könnte die Regierung es deutlich leichter haben, den Boden für strukturelle Reformen zu bereiten«. Brav haben die Grünen bereits gefordert, die »Ökosteuer« genannte Mogelpackung zur Schröpfung von Otto Normalverbraucher bei gleichzeitiger Schonung der großen industriellen Energieverschwender, deren erneute Anhebung zum 1. 1. 2003 ansteht, in Zukunft noch stärker auszubauen. Selbstredend sollen mit dem Geld auch künftig nicht Bus- oder Bahntickets subventioniert, sondern Unternehmer von Sozialabgaben befreit werden.

Andere Wirtschaftsfürsten allerdings befürchten, dass die Fortführung von SPD-Grün (mangels Chance, sich wirtschafts- und sozialpolitisch rechts von dieser Regierung zu profilieren!) die Union aus purem Selbsterhaltungstrieb dazu bringen könnte, es »links« zu versuchen und Schröder mit der ein oder anderen sozialpopulistischen Attacke zu ärgern. Mit einer Fraktionsvorsitzenden Merkel dürfte dies leichter fallen als mit Merz, zumal die Union das Feld jetzt nahezu allein beackern kann. Denn die Strategie, die linke Opposition in der Umarmung zu zerquetschen und am Ende parlamentarisch zu entsorgen, ist ja vorerst leider aufgegangen. Was die Konzernchefs an einem Wildern der CDU auf Sozialterrain beunruhigt, ist nicht die Sorge, dass Merkels Mannen es ernst meinen könnten, sondern die Hemmschwellen, die solche Aktivitäten Schröder unvermeidlich auferlegen. Dass auf diese Weise »die starke Opposition nun Reformvorhaben der Sozialdemokraten« blockieren könnte, befürchtet etwa Rolf Elgeti von Commerzbank Securities in London. Und wen solche Ängste umtreiben, der ruft nach Großer Koalition.

Was des einen Angst, sollte freilich längst nicht automatisch des anderen Hoffnung sein. Wirkliche Hemmschwellen sind nur durch den Druck einer spürbaren gesellschaftlichen Widerstandsbewegung aufzubauen. Als deren Teil könnte die PDS verlorenes Vertrauen und verlorene Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. Das setzt allerdings nicht zuletzt voraus, soziale Verbrechen künftig wieder soziale Verbrechen und nicht »Gerechtigkeitsdefizite« zu nennen und Kriegstreibern à la Bush nicht länger so zu begegnen, als handele es sich bloß um Andersdenkende in Fragen Terrorbekämpfung.

28. September 2002

Umverteilung via Börse

Sie haben die »Der-Markt-hat-immer-recht«-Melodie gepfiffen, bis sie ihnen im Hals steckenblieb. Die hilflosen Kommentare der einst so selbstsicheren Leitartikler zum steilen Bergab von Kursen und Wirtschaft, der Anblick verzweifelter Börsenyuppies, deren smart-überlegenes Dauerlächeln von gestern grauen Sorgenfalten gewichen ist, all das mag bei manchem in einem unbeaufsichtigten Winkel seines Gemüts eine gewisse Genugtuung auslösen. Immerhin: Wenn, wie in Deutschland, ein Prozent der Haushalte siebzig Prozent des privat gehaltenen Aktienbestandes in ihren Depots versammeln, trifft der Börsencrash, scheint’s, in der Hauptsache doch nicht die Falschen. Von den 240 Mrd. Euro, die Bundesbürger in den Jahren 2000 und 2001 in diversen Anlageformen investierten, waren laut Zählung der Bundesbank Ende 2001 noch ganze 80 Milliarden übrig. Wer aber so üppig sparen konnte (und verlor), gehörte, möchte man meinen, mitnichten zu den Ärmsten.

Aber eben auch nicht zu den Reichsten, wie uns der jüngste World Wealth Report von Merrill Lynch belehrt. Das Finanzhaus untersucht darin die Vermögensentwicklung der sogenannten High Networth Individuals (HNWI), eine Spezies, von der es weltweit etwa 7,1 Millionen Exemplare gibt – davon in der Bundesrepublik rund 730 000 –, und die sich dadurch kenntlich macht, dass sie pro Kopf über ein liquides Vermögen von mehr als 1 Million US-Dollar verfügt. (Die Betonung liegt auf liquide; die Summe berechnet sich also abzüglich Betriebs-, Immobilien- und sonstigem festangelegten Vermögen.) HNWI sind Leute, vor denen jedes Bankhaus den roten Teppich ausrollt und für die sich jeder Vermögensverwalter in den Staub beziehungsweise mit Ehrgeiz ins Zeug legt.

Letzteres offensichtlich mit Erfolg. Denn während der DAX seit März 2000 von über 8000 auf unter 3000 Punkte schrumpfte und der Sturz des Dow Jones das Vermögen der US-Bürger um 5000 Milliarden Dollar dezimierte, erfreuten sich die HNWI bisher in jedem Jahr eines Zugewinns. Zwar fiel dieser 2001 mit 0,1 Prozent relativ bescheiden aus; aber auch das ist bei einem Gesamtvermögen allein der superreichen Europäer, das Merrill Lynch mit 8,4 Billionen US-Dollar beziffert, keine kleine Summe. Zumal in einem Marktumfeld, in dem der Kleinaktionär, der auf Anraten von Schröder und Krug vor zwei Jahren in die vermeintliche Volksaktie investierte, heute gerade noch ein Zehntel seiner Spargroschen besitzt; ganz zu schweigen von denen, die sich bei EM.TV oder Mobilcom versuchten.

Dem geprellten Kleinsparer wird nun gern erzählt, sein Vermögen sei infolge des Crashs »vernichtet« worden. Als die Deutsche Börse das 1997 geschaffene Segment Neuer Markt kürzlich ad acta legte, hieß es, in diesem seien seit Frühjahr 2000 insgesamt 211 Milliarden Euro »verbrannt« worden. Verbrannt – das klingt nach: weg und in Rauch aufgelöst. Genau das stimmt aber nur teilweise. Wirklich verschwunden ist nämlich nur Vermögen, das real nie existierte. Beispiel Telekom: Wer 1996 100 Telekomaktien aus der ersten Tranche zum Ausgabepreis von 28 DM kaufte, konnte sich vier Jahre später in dem wohligen Gefühl wiegen, dass aus 2800 DM über 20 000 DM geworden waren. Wer es beim Gefühl nicht beließ, sondern seine Aktien verkaufte, war tatsächlich siebenmal reicher geworden. Alle anderen dagegen mussten miterleben, wie das unverhofft Gewonnene wieder zerrann und am Ende kaum die Anfangssumme übrig blieb. Dieser virtuelle Reichtum, den die Aktionäre niemals eingezahlt hatten, sondern lediglich auf dem Gipfel des Booms ihr eigen glaubten, ist tatsächlich einfach verschwunden. Verschwunden ist aber keine einzige DM und kein einziger Euro, der je wirklich auf den Aktienmarkt getragen wurde. Wer sich etwa im Frühjahr 2000 von der geschürten Aktieneuphorie dazu hinreißen ließ, 20 000 DM zu investieren, zahlte damit genau jenen aus, der sich in weiser Voraussicht von seinen Aktien trennte. Dass letzterer um ein Vielfaches reicher werden konnte, dankt er ausschließlich dem, der ihm – in Hoffnung auf weitere Kursgewinne – seine Ersparnisse überließ. Selbst wer Telekom- oder sonstige Aktien unmittelbar bei der Emission erstand, hat keineswegs nur ins Unternehmen investiert. Eine halbe Milliarde verdienten allein die beteiligten Konsortialbanken am ersten Börsengang des Telefonriesen; am zweiten und dritten noch wesentlich mehr.

Der schöne Spruch »Geld verschwindet nicht, es wechselt nur den Besitzer« gilt auch auf den modernen Finanzmärkten. Noch bewegen sich Dax und Dow Jones weit über ihrem Stand Anfang der neunziger Jahre. Massiv verloren haben bis jetzt vor allem diejenigen, die sich im zurückliegenden Jahrfünft neu aufs Aktienparkett locken ließen, meist Verdiener im Mittelfeld und darunter. Nach einem Jahrzehnt rühriger Aktienwerbung und dank eines Rentensystems, das den Einzelnen, so er irgend kann, zu privater Vorsorge zwingt, besitzt in den USA heute jeder zweite Haushalt Aktien. Vor zehn Jahren waren es nicht annähernd so viele. In der Bundesrepublik ist die Anzahl der Leute, die Aktien oder Fondsanteile halten, von 5,6 Millionen 1997 auf 13,5 Millionen 2001 angestiegen. Die Zahl direkter Aktieninhaber hat sich mehr als vervierfacht. Die meisten von ihnen sind zu einer Zeit eingestiegen, als die Kurse ihre Spitzen erklommen und honorige Vermögensverwalter, die sich um das Klientel der HNWI kümmern, überteuerte Aktien speziell im Telekom-, Internet- und Medienbereich abzustoßen begannen. Schlecht beraten, mit blutiger Nase und geschrumpften Ersparnissen haben inzwischen zwei Millionen dieser Neueinsteiger dem Kapitalmarkt wieder den Rücken gekehrt. Die Börse vernichtet also nicht nur Vermögen, sie verteilt es vor allem auch um; in der Regel auf die dem Kapitalismus so nachhaltig eigene Weise: von unten nach oben. Dass trotz Kursverfall und Rezession Porsche in den ersten drei Quartalen dieses Jahres den Absatz ausgerechnet seines teuersten Modells um zwanzig Prozent steigern konnte, verblüfft daher nur auf den ersten Blick.

12. Oktober 2002

Gruselkatalog

Die Wirtschaftsverbände schäumen, Gewerkschafter brabbeln Lobendes, von einem »Todesstoß für die Aktienkultur« und »sozial gerechter Modernisierung« ist die Rede, – wollte man den neuen Koalitionsvertrag von SPD und Grünen anhand der Reaktionen bewerten, die er ausgelöst hat, käme man zu dem Schluss, es handele sich um ein ausgesprochen fortschrittliches Dokument. Tatsächlich beweist das Geschimpfe leider nur, dass öffentliche Verbände-Verlautbarungen längst zu Ritualen geworden sind, die bei jeder passenden oder eben auch unpassenden Gelegenheit gleichsam prophylaktisch abgespult werden, auf dass niemandem ernsthaft die Idee komme, Oberschicht und Konzernelite an den nach wie vor gut gefüllten Geldsack zu gehen.

Ähnlicher Theaterdonner begleitete Schröder bereits in seine erste Legislatur, wobei der Koalitionsvertrag von 1998 wenigstens noch das ein oder andere Stichwort dafür hergab. Zur Erinnerung: Es ging um volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, um die Ausweitung des Kündigungsschutzes, um die Rücknahme Blümscher Rentenkürzungen, um das Zurückdrängen von ungesicherter Beschäftigung und Scheinselbständigkeit. Die sozialen Verbrechen Sparpaket, Steuer- und Rentenreform folgten später und waren (zumindest in ihrer realen Zielrichtung) im Koalitionsvertrag nicht angekündigt.

Das ist diesmal anders: Die soziale Rhetorik hat bereits am Wahltag ausgedient. Nüchtern gibt die Koalitionsvereinbarung zu Protokoll, was wir sonst bei den Herren Hundt und Rogowski lesen: »Hohe Sozialabgaben hemmen Wachstum und Beschäftigung.« Auch die folgenden Passagen lesen sich wie Abschriften aus bekannten BDI-Papieren. In schlechtem Deutsch werden die Psalme neoliberaler Marktanbetung repetiert – »Konsolidierung erlaubt das konjunkturgerechte Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren im Abschwung …« – und das nach einem Jahr Rezession, in dem die angeblichen »Stabilisatoren« entfesselter Real- und Finanzmärkte die Abwärtsspirale selbstverstärkend vorangetrieben haben! Die Förderung von ungesicherter Beschäftigung und Scheinselbständigkeit steht diesmal ausdrücklich auf der Agenda. Die »Geringfügigkeitsgrenze« für haushaltsnahe Dienstleistungen – sprich: Putzen, Kochen, Babysitten für jene, die sich solche Dienste leisten können – steigt auf 500 Euro, bei abgesenkter Sozialpauschale. Die Ausweitung dieser Regelung auf andere Bereiche wird »unverzüglich geprüft«.

Wer sich nicht in einem 500-Euro-Job vergnügen will, mag sein Glück als Ich-AG oder Zwangsleiharbeiter suchen. »Schnellstmöglich Punkt um Punkt« soll das Hartz-Konzept umgesetzt werden – ergänzt offenbar noch um die eine oder andere Finesse. So hatte Schröder den Gewerkschaften im Wahlkampf zugestanden, Kürzungen bei Arbeitslosengeld und -hilfe aus dem Konzept wieder herauszunehmen. Pech, am 22. September hat der Deal seine Schuldigkeit getan … 2,3 Mrd. Euro Einsparungen sind allein im nächsten Jahr bei der Arbeitslosenhilfe geplant – der dickste Sparposten im ganzen Paket. Auch die Sozialhilfe, auf deren Niveau Arbeitslosenhilfebezieher künftig sinken werden, wird weiter nach unten gedrückt. Etwa durch »stärkere Pauschalierungen«.

Der Verdacht, dass dieser finstere Katalog jedenfalls die Arbeitslosigkeit im Lande nicht verringert, scheint indes auch die Koalitionäre beschlichen zu haben. Als ergänzende Maßnahme wird daher angekündigt: »… eine international vergleichbare Arbeitsmarktstatistik zu schaffen, in der nur Personen, die auch tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, erfasst werden.« Vorbild ist vermutlich die US-Statistik, die im September diesen Jahres zu der erstaunlichen Leistung fähig war, eine sinkende Arbeitslosenquote auszuweisen, obwohl die Zahl der Beschäftigten (die auf anderem Wege erfasst wird) sich im gleichen Monat deutlich verringerte.

Und die vielgerügte »Giftliste« im Koalitionsvertrag? Teils ist sie – wie die höhere Besteuerung von privat genutzten Dienstwagen – inzwischen schon wieder vom Tisch. Teils bleibt sie – wie die Öko-Besteuerung energieintensiver Unternehmen – so sehr im Vagen, dass selbst das Handelsblatt inzwischen davon ausgeht, dass sich kaum etwas ändern wird. Und teils ist sie nichts als die unumgänglichste Notbremse, um den völligen Ruin der Staatsfinanzen zu verhindern. Dank Steuerreform ist das Aufkommen der Körperschaftssteuer jetzt bereits im zweiten Jahr negativ.

Dennoch: Zurückgenommen wird weder die drastische Senkung der Steuersätze noch die Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften; auch die Möglichkeit, vor 2001 gezahlte Körperschaftssteuern mit der heutigen Steuerschuld zu verrechnen, bleibt bestehen. Sie wird lediglich über einen längeren Zeitraum gestreckt, da die Konzerne sich jetzt nur noch um maximal die Hälfte ihrer jährlichen Zahlungen drücken können. Das gleiche gilt für die Anrechnung von Verlusten. Verlustvorträge – die das deutsche Steuerrecht weit üppiger als international üblich gewährt – werden außerdem auf sieben Jahre begrenzt. Das ganze Paket soll 2003 1,4 Mrd. Euro zusätzlicher Einnahmen bringen, also im Maßstab eines 500-Milliarden-Steueraufkommens insgesamt fast nichts. Eine Rücknahme der milliardenschweren Steuergeschenke an die Dax-Elite bedeutet es in keiner Weise. Auch die Steuer auf realisierte Aktienkursgewinne, die künftig bei natürlichen Personen erhoben werden soll, ist nicht mehr als internationaler Standard. In den USA beträgt sie zwanzig Prozent, ohne dass je ein Regierender der Einführung des Sozialismus verdächtigt wurde. Schröder plant gerade mal 7,5 Prozent.

Hauptleidtragende der Koalitionsvereinbarung sind also wieder die Schwächsten; getroffen werden allerdings auch beträchtliche Teile der Mittelschichten. Alles dagegen, was die tatsächlich Reichen irgendwie behelligen könnte (Vermögenssteuer, erhöhte Erbschaftssteuer, progressive Steigerung des Spitzensteuersatzes bei Jahreseinkommen über 150 000 Euro), bleibt sorgsam ausgespart. In der Regel sind Koalitionsvereinbarungen besser als die nachfolgende Regierungspraxis. Was folgen mag, wenn schon der Vertragstext das kalte Grauen auslöst, lässt sich nur düster ahnen.

26. Oktober 2002

Steuerdrama, x-ter Akt

Rot, röter, am rötesten … – nein, wahrlich nicht die Politik der Schröder-SPD, soll die schöne Farbe noch irgendeinen politischen Gehalt symbolisieren. Gemeint sind Eichels Haushaltszahlen, deren offizielle Neuabschätzung in der folgenden Woche ansteht. Gegeben wird dann des Steuerdramas x-ter Akt, eine Inszenierung des Bundesministeriums für Finanzen, Regie: BDI, BDA und sonstige Lobbyistenclubs des Großkapitals. Erneut werden Steuerschätzer mit wichtiger Miene ihre Schätzungen für falsch erklären und die Zahlen kräftig nach unten korrigieren, so, wie sie es in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder getan haben. Hatte die brave Schätzgemeinde im Mai 2001 Bund, Ländern und Gemeinden für 2002 noch ein Aufkommen von 474 Mrd. Euro vorausgesagt, sind jetzt noch Einnahmen von maximal 440 Mrd. Euro im Gespräch. Im Steuersäckel allein des Bundes fehlen 13 bis 14 Mrd. Euro gegenüber den im Haushalt veranschlagten Zahlen. Dass ein Nachtragshaushalt nötig wird, ist inzwischen amtlich. Anstelle der bisher kalkulierten 21,1 Mrd. Euro Neuverschuldung wird das Defizit des Bundes bei 33 bis 36 Mrd. Euro liegen. Waigels alte Defizitrekorde von umgerechnet 40 Milliarden sind zum Greifen nahe.

Da die Investitionen des Bundes lediglich 25 Mrd. Euro betragen, ist dieser Haushalt strenggenommen verfassungswidrig. Gleiches gilt für die Haushalte nicht weniger Bundesländer. Bereits bis August hatten deren Kassenwarte mit einem Defizit von 24 Mrd. Euro den für das Gesamtjahr 2002 kalkulierten Rahmen von 19,9 Mrd. ohne Zaudern hinter sich gelassen. Den Kommunen steht das Wasser eh bis zum Hals.

Ursache des Einnahmedesasters auf allen Ebenen ist neben der gesamtwirtschaftlichen Ebbe (offiziell erwartet: 0,4 Prozent BIP-»Wachstum« in diesem Jahr) die im Sommer 2000 beschlossene Steuerreform. Die Körperschaftssteuer etwa, die einst zweistellige Milliardenbeträge in die öffentlichen Kassen spülte, schreibt dank der Neuregelungen bereits im zweiten Jahr rote Zahlen. Zumindest ein Aufkommen von 7,9 Mrd. Euro hatten ihr die Steuerschätzer irrtümlich für dieses Jahr prophezeit. Auch die Gewerbesteuer bricht weiter ein, 2001 lag das Minus bei zwölf Prozent, in diesem Jahr wird der Vorjahreswert nochmals um etwa elf Prozent unterboten. Großunternehmen wie Eon, RWE, Bayer, BASF oder Bertelsmann zahlen längst nichts mehr.

Abhängige Beschäftigte haben diese Wahl zwar nicht; aber wo wenig ist, kann auch der ungemütlichste Fiskus nicht immer mehr holen. So blieb auch das Lohnsteueraufkommen mit einem Plus von 0,5 Prozent (September 2002 im Vergleich zum Vorjahresmonat) deutlich unter den offiziell erwarteten Werten. Verantwortlich dafür ist nicht nur die wieder ansteigende Arbeitslosigkeit. Der minimale Zuwachs belegt auch, dass trotz Tarifsteigerungen von durchschnittlich drei Prozent die Einkommen abhängig Beschäftigter 2002 im Schnitt erneut unterhalb der Preissteigerung verharrten. Gründe sind die wachsende Zahl nicht tarifgebundener Arbeitsverhältnisse (im Osten betrifft dies inzwischen die Mehrzahl der Beschäftigten) oder auch die Verrechnung der neuen Tarife mit ehemals übertariflichen Leistungen, wie sie in Großunternehmen dieses Jahr gängige Praxis war. Die Umsatzsteuer wird im Jahresvergleich um schätzungsweise 2,5 Prozent steigen, ein Wachstum nur wenig über der Inflationsrate. Auch dies ein Ergebnis strangulierter Binnenkaufkraft und der schon seit Jahren anhaltenden Krise im Einzelhandel. Insgesamt liegen die Steuereinnahmen von Januar bis September 2002 um 3,5 Prozent unter den Vorjahreswerten. Noch im Mai 2002 hatten sich die werten Steuerschätzer auf ein Einnahmeplus von 2,1 Prozent für das Gesamtjahr festgelegt. Angesichts der nahezu vollständigen Steuerbefreiung profitabler Großunternehmen, stagnierender bis sinkender Masseneinkommen, rückläufiger Beschäftigung und Pleiterekorden im Mittelstand sind die realen Zahlen allerdings nicht erstaunlich. Alle Schuldenlöcher gemeinsam ergeben laut EU-Berechnung in diesem Jahr ein deutsches Etatdefizit von 3,7 Prozent des BIP.

Dass ausgerechnet die Bundesrepublik, die für Maastricht-Vertrag und Stabilitätspakt – drakonische Schuldenkriterien und die Zielvorgabe eines ausgeglichenen Haushalts bis 2004 eingeschlossen – an vorderster Front gekämpft hat, bereits im zweiten Jahr die hausgemachten Vorgaben verfehlt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Aber so sehr Maastricht nebst Folgeverträgen einem reaktionären Geist entsprang, so falsch wäre es, Schuldenmacherei gleich für fortschrittlich zu halten. Keynesianische Konjunktursteuerung, die inzwischen selbst in der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft ein zaghaftes Akzeptanz-Comeback erlebt (in der amerikanischen hatte sie immer ihren Platz) mag sympathischer sein als das Abwürgen jeder konjunkturellen Regung durch dumpfbackene Austeritätspolitik. Wahr ist aber auch: Staatliches deficit spending ist die profitkonformste Antwort auf das kapitalistische Nachfrageproblem: Es ist einer der wenigen Wege, Nachfrage zu schaffen, die im Prozess der Kapitalverwertung nicht zugleich als Kostenfaktor in Erscheinung tritt. Anders als aktive Lohnpolitik oder steuergelenkte Umverteilung von oben nach unten schmälert sie die Renditen nicht, sondern schafft, im Gegenteil, auf Steuerzahlers Kosten eine zusätzliche rentable Anlagesphäre für das private Kapital.

Natürlich wären schuldenfinanzierte Sozialleistungen immer noch besser als gar keine. Wenn die Schulden allerdings in erster Linie daher stammen, Konzerne und Vermögende aus jeder Steuerpflicht zu entlassen – und wenn sie mit radikalem Sozialabbau einhergehen –, ist an solcher Politik kein Hauch mehr progressiv. Man sollte nicht vergessen: Auch Bush, der einen mehr als ausgeglichenen Haushalt übernommen hat und dank massiver Steuersenkungen für Wohlverdienende und forcierter Kriegs- und Rüstungspolitik heute tiefrote Zahlen schreibt, könnte sich mit Recht ein Keynes-Schüler nennen. Dessen Lehren sind daher, selbst wenn die Politik ihnen folgt, längst kein Ersatz für reale Verteilungskämpfe.

9. November 2002

Kommissionsunwesen

»Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis …« Aus diesem schönen Spruch, in der Regel auf Situationen ehrlicher Hilflosigkeit angewandt, hat Schröder eine Strategie gemacht. Sie soll eines seiner Grundprobleme lösen, das da lautet: Wie nutze ich die parteinahen Milieus als Ausführungsorgane meiner Politik, ohne Gefahr zu laufen, ihnen als Gegenleistung irgendeine Form inhaltlicher Mitsprache zugestehen zu müssen?

Auch wenn es öffentlich nur selten auffällt: Es gibt natürlich in der SPD noch das ein oder andere Mitglied, dessen Parteibuch nicht daher rührt, dass eine CDU-Ortsgruppe gerade nicht verfügbar war oder man just mit deren Ortsvorsitzenden eine der beliebten Nachbarschaftsfehden ausfocht. Es gibt die Alten, die früher noch viel von Freund und Feind, von Kapitalismus und Solidarität gelernt und bis heute nicht vergessen haben. Es gibt die unzähligen engagierten Gewerkschaftsfunktionäre, von denen zumindest die auf unterer und mittlerer Ebene Tätigen die Folgen der Schröder-Politik tagtäglich hart zu spüren bekommen; und auch die in der persönlichen Karriereplanung Strebsameren in den höheren Rängen wissen zumindest eines: dass alle paar Jahre der Tag kommt, an dem sie wiedergewählt werden müssen. Und es gibt offenbar bis in höchste SPD-Gremien hinein Leute, die nicht begreifen wollen, weshalb die Konzernchefs aus Schröders Rotwein-Runde SPD-Gesetzesvorschläge inzwischen so unmittelbar diktieren, dass selbst Frau Merkel kein anderes Gegenargument mehr einfällt als auf »gebrochene Wahlversprechen« und »soziale Schieflagen« zu verweisen.

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12 September 2024
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524 p. 8 illustrations
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9783360500397
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