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Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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Zum Parteiorgan wurde das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das nunmehr vom 1. Oktober ab wöchentlich zweimal unter dem Titel „Der Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, erschien. Als Sitz des Ausschusses wurde Braunschweig-Wolfenbüttel, als Sitz der Kontrollkommission Wien gewählt. Man hatte anfangs die Absicht, Leipzig zum Sitze des Ausschusses zu bestimmen. Ich riet entschieden ab. Unsere Propaganda im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei weit leichter, wenn ein Ort wie Braunschweig Sitz der Parteileitung werde, woselbst ausschließlich frühere Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Frage kämen. Unser Einfluß in der neuen Partei bleibe uns gesichert, wir würden uns mit dem Ausschuß zu stellen wissen. So geschah es. Als nächster Kongreßort wurde Stuttgart bestimmt. Die Vertretung auf dem Kongreß der Internationale, der Anfang September in Basel stattfand, wurde Liebknecht übertragen, dem sich später Spier-Wolfenbüttel als Delegierter des Ausschusses anschloß.

Der glänzende Verlauf des Kongresses hatte im Schweitzerschen Lager einen sehr unangenehmen Eindruck erzeugt. Nachdem wir die nach Eisenach entsandten Delegierten Schweitzers von unserem Kongreß ausgeschlossen hatten, tagten diese im „Schiff“, woselbst sie eine Reihe Resolutionen gegen uns faßten. So lautete eine derselben, die sich gegen Liebknecht und mich persönlich richtete: „In Erwägung der gehörten Tatsachen beschließt der Kongreß, daß die Herren Liebknecht und Bebel unwürdig sind, daß der Kongreß sich weiter mit ihnen befaßt.“ Tölcke veröffentlichte im „Sozialdemokrat“ vom 15. August einen „Aufruf an die Parteigenossen“, der mit den Worten begann: „Der Kongreß zu Eisenach ist vorüber. Mit Stolz und mit voller Zuversicht auf die Zukunft der Partei können wir auf den Verlauf und das Resultat desselben zurückblicken.“

* * * * *

Nach dem Schlusse des Kongresses hielt der Verband der deutschen Arbeitervereine seinen Vereinstag ab. Zum Vorsitzenden wurde ich, Bürger-Göppingen zum Stellvertreter, Motteler zum Schriftführer gewählt. Crimmitschau erhielt den Auftrag, die Geschäftsführung des Vorortes zu prüfen und im Parteiorgan Bericht zu erstatten. Aus dem von mir erstatteten Bericht ging hervor, daß infolge der Spaltung in Nürnberg der Verband auf 72 Vereine gesunken war, daß im Laufe des Jahres weitere 5 ausschieden, aber 42 Vereine sich neu anschlossen, so daß schließlich zum Verband 109 Vereine mit rund 10000 Mitgliedern gehörten. Die Einnahmen betrugen 470 Taler, die Ausgaben 457 Taler, der Revolutionsfonds hatte 934 Taler gesteuert, von denen 800 Taler für Unterstützung des „Demokratischen Wochenblatts“ und für Agitation ausgegeben worden waren. Alsdann beschloß die Versammlung einstimmig die Auslösung des Verbandes nach sechsjährigem Bestehen und Anschluß an die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der vorhandene Kassenbestand wurde der letzteren überwiesen, das vorhandene Inventar (Akten, Briefe, Protokolle) wurde mir zur Aufbewahrung überlassen. Nach einem warmen Danke an den Vorortsvorstand für dessen Mühewaltung trennte man sich mit dem Wunsche auf Wiedersehen in Stuttgart.

Nach Eisenach

Wie man sich leicht vorstellen kann, entbrannte nunmehr heftiger als je der Kampf zwischen den beiden sozialistischen Fraktionen. Erklärungen flogen herüber und hinüber, und die Szenen, die sich in zahlreichen Versammlungen abspielten, spotteten jeder Beschreibung. Insbesondere waren es die Gewerkschaften, die unter der gegenseitigen Zerfleischung schwer litten. So kam zum Beispiel in der Metallarbeiterschaft die Wahl eines Präsidenten nicht zustande, weil eine vollständige Zersplitterung der Stimmen eintrat, außerdem wurde die Wahl nur bei 23 Abstimmungen anerkannt, bei 17 wurde sie verworfen.

Von jetzt ab schlug der „Sozialdemokrat“ einen Ton an, wie er bisher nur selten vorkam, und fälschte Tatsachen und Berichte in einer Weise, daß die Leser derselben ein vollständig falsches Bild von der Bewegung auf unserer Seite bekommen mußten.

Am 10. September verließ Schweitzer das Gefängnis. Am 12. September kündigte er in einem längeren Ausruf eine Rundreise durch Deutschland an, wobei er hinter verschlossenen Türen vor seinen Anhängern erschien, „um überall Ordnung und strenges Recht zu schaffen“…. „Fürchten werden meine Gegenwart,“ hieß es in dem Ausruf, „alle diejenigen, welche sich einer bösen Absicht oder einer Verletzung der Arbeitersache schuldig wissen; mit Freuden begrüßen werden mich diejenigen, welche als Bevollmächtigte, Agitatoren oder in sonstiger Eigenschaft treu zur Fahne gehalten haben.“

Glaubt man nicht einen gewissen Jesu zu hören, der ein Gericht über die Guten und die Bösen ankündigt, wobei die Böcke von den Schafen gesondert werden sollen?

Auf dieser Tour beobachtete Schweitzer die alte Taktik, daß überall, wo er über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen interpelliert wurde, er entweder schwieg oder mit spöttischen Bemerkungen darüber hinwegging.

Dem „Volksstaat“ gegenüber nahm er dieselbe Taktik ein wie gegenüber dem „Demokratischen Wochenblatt“. Niemals wurde der Name des „Volksstaat“ genannt, und von der Partei sprach er nicht anders als von der Eisenacher Volkspartei.

In Augsburg, wohin er ebenfalls auf seiner Rundreise kam, verlangte er von den dortigen Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins das Eingehen des von ihnen gegründeten Wochenblatts „Der Proletarier“. Als diese sich weigerten, seinem Verlangen nachzukommen, drohte er, daß er alles aufbieten werde, das Blatt zugrunde zu richten, sollte darüber die Bewegung in Bayern um fünf Jahre zurückgeworfen werden. Ein kleines Blättchen, „Der Agitator“, den Schweitzer dann zu Neujahr 1871 ins Leben rief, das vierteljährlich nur 15 Pfennig kostete, sollte in erster Linie bestimmt sein, massenhaft in Bayern verbreitet zu werden, um dort die obstinaten Elemente im Zaume zu halten.

Von seiner Rundreise zurückgekehrt, erklärte er, „daß die Partei niemals stärker, niemals einiger und zahlreicher gewesen sei als in diesem Augenblick“. Die Unwahrheit dieser Behauptung wurde dadurch bewiesen, daß zwischen ihm und Mende-Hatzfeldt von neuem der Zank ausbrach. Mende berief eine Generalversammlung nach Halle, die sich gegen Schweitzer erklärte, und veröffentlichte eine Broschüre, in der er Schweitzer aller möglichen Schandtaten zieh. Daß es so kommen würde, war vorauszusehen. Während aber Schweitzer ankündigte, daß mit dem 1. Januar 1870 der „Sozialdemokrat“ in vergrößertem Format erscheinen werde – es waren die Anstrengungen eines Schwindsüchtigen, der sich den Anschein von Kraft gibt —, mußte Mende ankündigen, daß, falls nicht bis zum 15. Januar für sein Organ, die „Freie Zeitung“, 1000 neue Abonnenten herbeigeschafft würden, er dasselbe werde eingehen lassen. Die größere Macht war also auf Schweitzers Seite. Die Generalversammlung seines Vereins berief Schweitzer auf den 5. Januar 1870 und die folgenden Tage nach Berlin.

Vorher, am 7. November, war es in Berlin zu einer großen Auseinandersetzung zwischen der Fortschrittspartei und den Lassalleanern gekommen. Der Abgeordnete Professor Virchow hatte im preußischen Abgeordnetenhaus einen Abrüstungsantrag gestellt, der nachher von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses verworfen worden war. Die Fortschrittspartei wollte diesen Antrag durch das moralische Gewicht einer Volksversammlung unterstützen lassen, die auf den erwähnten Tag einberufen worden war. Eine Verhandlung wurde aber unmöglich gemacht durch die Lassalleaner, die massenhaft erschienen waren und den Vorsitz in der Versammlung beanspruchten. Als nun ein großer Tumult ausbrach, schloß der Abgeordnete Löwe-Galbe die Versammlung. Darauf eröffnete Tölcke sofort dieselbe aufs neue. Er hatte in der Voraussicht, daß die fortschrittliche Versammlung gesprengt werde, eine zweite Versammlung in dasselbe Lokal polizeilich angemeldet, und die Polizei hatte diese gleichzeitige doppelte Anmeldung zu einer Versammlung in ein und dasselbe Lokal angenommen. Wider alle bisherige Gepflogenheit waren auch die Versammlungen polizeilich nicht überwacht. Tölcke präsidierte, Schweitzer sprach. In der vorgeschlagenen Resolution war kein Wort gegen die Regierung enthalten, dagegen wurde die Fortschrittspartei als Gegnerin des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und Gegnerin des Normalarbeitstags verurteilt und die Abschaffung der stehenden Heere und die Einführung der Volkswehr, gegründet auf militärische Jugenderziehung, verlangt.

Schweitzer suchte also wieder einmal den Standpunkt vergessen zu machen, den er in Militärfragen vorher wiederholt eingenommen hatte.

Nebenbei bemerkt: In der sächsischen Zweiten Kammer wurde um jene Zeit ein Abrüstungsantrag mit 55 gegen 21 Stimmen angenommen.

Auf dem am 9. September begonnenen Internationalen Arbeiterkongreß in Basel bildete den Hauptpunkt der Verhandlungen die Haltung der Sozialisten zur Grund- und Bodenfrage. Die Debatte hierüber füllte mehrere Sitzungen. Schließlich stimmten von 75 Delegierten 54, darunter Liebknecht und Spier, für folgende Resolution:

„Der Kongreß erklärt, daß die Gesellschaft das Recht hat, das individuelle Eigentum an Grund und Boden abzuschaffen und den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln.“

Ebenso stimmten die beiden dem zweiten Teil der Resolution zu, der lautete:

„Der Kongreß erklärt auch, daß es notwendig ist, den Grund und Boden zum Kollektiveigentum zu machen.“

Diese Beschlüsse riefen in Deutschland großes Aufsehen hervor, insbesondere fiel die volksparteilich-demokratische Presse über diese Beschlüsse her, die sie als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnete. Statt daß nun Liebknecht den Beschluß des Kongresses gegen die Angriffe verteidigte, erklärte er in der letzten Nummer des „Demokratischen Wochenblatts“, die erschien:

 

„Man hat gefragt: Welche Stellung nimmt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zu dem Beschluß über das Grundeigentum?

Antwort: Gar keine! Jedes einzelne Parteimitglied kann und soll Stellung nehmen, der Partei als solcher steht das nicht zu, weil sie nach keiner Seite an den Beschluß gebunden ist – ebensowenig wie die Internationale Arbeiterassoziation selbst.“

Dieses salomonische Urteil wurde in der Partei mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Es brachte der Partei keine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung ihrer Lage, denn nunmehr nutzte Schweitzer die Situation aus, indem er triumphierend auf die Halbheit der Eisenacher hinwies, die in einer Haupt- und Kardinalfrage des Sozialismus versagten und von Rücksichten auf die Bourgeois in ihren Reihen sich bestimmen ließen; das sei der beste Beweis, daß wir keine sozialdemokratische Partei seien. Unsere Stellung als Partei zu dem Baseler Beschluß wurde nicht klarer, als es in Nr. 4 des mittlerweile erschienenen „Volksstaat“ auf einmal hieß: „Ueber die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des Baseler Beschlusses, betreffend das Grundeigentum, mögen innerhalb unserer Partei verschiedene Meinungen obwalten. Nachdem er aber einmal gefaßt ist, kann die Partei als solche ihn nicht verleugnen, ohne ihre Grundprinzipien zu verleugnen.“ Diese Erklärung war korrekter als die erste, sie stand aber im Widerspruch zu jener. Es war deshalb notwendig, daß die Partei klare Stellung nahm, und so schlug ich vor, die Frage auf dem nächstjährigen Parteikongreß zu erörtern, ein Vorschlag, dem auch der Ausschuß zustimmte. Und da ich für Anfang November eine große Agitationsreise nach Süddeutschland geplant hatte, nahm ich mir vor, den Baseler Beschluß zu verteidigen, wo die Gelegenheit dieses notwendig mache. Ich trat meine Reise am 8. November an und beendete sie am 28. Ich hielt in dieser Zeit achtzehn Volksversammlungen und an zwei Orten, Erlangen und München, private Besprechungen ab. Ich besuchte nacheinander: Koburg, Bamberg, Nürnberg, Fürth, Erlangen, Regensburg, München, Augsburg, Ravensburg, Tuttlingen, Reutlingen, Metzingen, Stuttgart, Eßlingen, Göppingen, Aalen, Heidenheim, Giengen, Schwäbisch Hall und Heilbronn. Opposition fand ich in nur vier Versammlungen. Der Erfolg war in allen Versammlungen ein sehr zufriedenstellender.

In Stuttgart, woselbst in der Versammlung der ganze Stab der Volkspartei und der Herausgeber der „Demokratischen Korrespondenz“, Julius Freese, anwesend waren, kam es zwischen mir und dem Mitglied der Volkspartei Hausmeister zu prinzipiellen Auseinandersetzungen, bei denen selbstverständlich mein Gegner den kürzeren zog. Den Abend vorher hatte ich in einer geselligen Zusammenkunft, bei welcher der damalige Führer der Volkspartei, Karl Maier, mich fragte, wie die Partei zu dem Baseler Beschluß stehe, erklärt: Die Partei werde auf dem nächsten Kongreß in Stuttgart Stellung nehmen und zweifellos sich im Sinne der Baseler Beschlüsse aussprechen. Tröstend hatte ich hinzugesetzt: Aber man brauche deshalb nicht aus der Haut zu fahren, denn die Ausführung des Beschlusses sei doch erst möglich, wenn die öffentliche Meinung dafür gewonnen sei. Mit dieser Verzuckerung schluckte man die Pille. In der Versammlung am nächsten Tage trat mir auch der Lassalleaner Leickhardt entgegen, der mich wegen unserer Stellung zu Schweitzer interpellierte, worauf ich gründlich antwortete. Alles in allem hatte ich an drei Stunden sprechen müssen.

Freese und einem größeren Teil der Volkspartei waren aber meine Auseinandersetzungen in die Glieder gefahren, und so sah Freese sich veranlaßt, in vier Artikeln in der „Demokratischen Korrespondenz“ gegen mich zu polemisieren. Ich beantwortete dieselben durch eine Reihe Artikel im „Volksstaat“, die zusammengestellt als Broschüre unter dem Titel „Unsere Ziele“ bis heute erschienen sind. In diesen Aufsätzen verteidigte ich natürlich auch den Baseler Beschluß. Freese, dem, wie wohl allen Schwelgern (Sybariten), es keine allzu großen Gewissensskrupel bereitete, seine Grundsätze zu opfern, sobald er seine lebemännischen Bedürfnisse durch die Vertretung seiner Grundsätze nicht mehr befriedigen konnte, ging später in die Dienste des österreichischen Reichskanzlers, des Herrn v. Beust.

Nach meiner Rückkehr aus Süddeutschland trat ich meine mittlerweile rechtskräftig gewordene dreiwöchige Gefängnisstrafe an, die, wie schon erwähnt, Liebknecht und mir wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren aus Anlaß der Adresse „An das spanische Volk“ zuerkannt worden war.

* * * * *

Wir mußten nunmehr dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegenüber große Anstrengungen machen, um neue Mitglieder zu gewinnen. Was immer an Kräften und Mitteln aufgebracht werden konnte, wurde für diesen Zweck benützt. In erster Linie kam hier York als Agitator in Frage. Der Erfolg seiner Reisen war nicht immer ein zufriedenstellender. So klagte er mir Ende 1869 über die Erfolglosigkeit einer Agitationsreise, die er nach dem Rheinland unternommen hatte. Er war darüber in recht pessimistischer Stimmung. Agitator zu sein, schrieb er mir, sei eine traurige Existenz, was um so richtiger war, als die finanzielle Entschädigung, die der Agitator zu jener Zeit erhielt, eine geradezu erbärmliche genannt werden mußte. Er denke wieder daran, als Arbeiter bei einem Meister Stellung zu nehmen. York war Tischler. Hätte er keine Familie, läge die Sache anders, allein könnte er sich durchschlagen. Indes war sein Opfermut und seine Hingabe an die Sache doch zu groß, als daß er die Drohung ausgeführt hätte.

Liebknecht und ich benutzten unsere Anwesenheit während des Reichstags in Berlin, um dort immer mehr Anhänger zu gewinnen. Wir sprachen namentlich öfter in einer Reihe Branchenversammlungen mit bestem Erfolg.

Eine beständige Klage des Braunschweiger Ausschusses war der schlechte Eingang der Mitgliederbeiträge. Diese Klage war vollauf berechtigt. An eine regelmäßige monatliche Zahlung an den Ausschuß nach Braunschweig gewöhnten sich namentlich schwer die ehemaligen Mitglieder des Arbeitervereinsverbandes, die das Hauptgewicht auf die Verwendung ihrer Mittel für die lokalen Bedürfnisse zu legen gewohnt waren.

Zwischen dem Ausschuß in Braunschweig und uns in Leipzig entwickelte sich ein außerordentlich lebhafter Briefverkehr, in den auch August Geib in Hamburg, der dort als Buchhändler etabliert war, hereingezogen wurde, als die Kontrollkommission durch Beschluß des Stuttgarter Kongresses von Wien nach Hamburg verlegt worden war. Lebhafte Beschwerde führten Bracke und der Ausschuß über die Redaktion des „Volksstaat“, die zu viel Politik und zu wenig Sozialismus bringe. Eine Beschwerde, die vielfach in der Partei laut wurde.

Sehr aufgebracht war ich darüber, daß wir in der Person Rüdts, der seine Universitätsstudien unterbrochen hatte und in die Partei als Agitator eingetreten war, durch den Beschluß des Eisenacher Kongresses einen Redakteur erhalten hatten, der seine Pflichten stark vernachlässigte, aber mit dem Honorar, das freilich nicht hoch war, beständig im Vorschuß sich befand. Das ging gegen meine Auffassung von Leistung und Gegenleistung. Ich habe es allezeit, und zwar bis auf den heutigen Tag, als schlimmste Schädigung der Partei und als eine unverzeihliche Gewissenlosigkeit angesehen, die in einer Arbeiterpartei doppelt gerügt werden müsse, wenn Personen ein Amt übernehmen, aber vergessen, die damit übernommenen Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, das Gehalt einstreichen, aber nicht entsprechend dafür leisten. Ein Sozialdemokrat, der eine Brotstellung in der Partei annimmt, hat damit nach meiner Auffassung eine Art Ideal erreicht. Er kann nach seiner Ueberzeugung tätig sein, er hat Maßregelung nicht zu fürchten und findet die volle Anerkennung seiner Parteigenossen, wenn er seine Schuldigkeit tut.

Als ich eines Tages mich bei Bracke bitter über Rüdt beschwerte – der betreffende Brief spielte nachher im Leipziger Hochverratsprozeß eine Rolle und ist im Bericht darüber abgedruckt —, antwortete mir Bracke unter dem 17. Oktober:

„Rüdt ist nicht schlecht, wenigstens glaube ich es nicht. Ich habe einen intimen Freund, der ebenso ist wie Rüdt, und er ist ein braver Kerl. Diese Art Menschen sind das Gegenteil eines Philisters, aber in ihrer Einseitigkeit verfahren sie sich oft, bis sie durch längere, meist bittere Erfahrungen klug werden. Je weniger ich selbst solchem Charakter ähnele (ich komme mir oft selbst wie ein Philister vor, wenn ich meinen ‚Lebenswandel‘ betrachte), um so mehr liebe ich diesen Charakter bei anderen. Ich will allerdings gestehen, daß ich Rüdt zu wenig kenne, um behaupten zu können, er sei so wie mein Freund. Aber ich vermute es. Hast Du die Biographie von Lessing gelesen? Was war der eine längere Zeit leichtsinnig! Ich habe oft Sehnsucht, auch einmal leichtsinnig zu sein, aber werde es wohl schwerlich werden. Die Verhältnisse fesseln mich an mein arbeitsames, ernstes, ja philiströses Dasein! Von Natur heiteren Temperamentes, bin ich es in Wirklichkeit so selten.“

Ich weiß heute nicht mehr, was ich Bracke auf diesen Brief antwortete, aber eine Zustimmung zu seinem Urteil über Rüdt war die Antwort sicher nicht.

Bracke, der einer wohlhabenden Familie angehörte und aus dem höchsten Idealismus sich der Partei der Enterbten angeschlossen hatte, war damals in großen Nöten. Er hatte sich durch Fritzsche bestimmen lassen, für die Produktivgenossenschaft der Tabak- und Zigarrenarbeiter Bürgschaften zu übernehmen, und kam nach dem Konkurs der Genossenschaft in die höchst fatale Lage, sehr erhebliche Summen bezahlen zu müssen. Bracke klagte mir in zahlreichen Briefen sein Leid, wie wir denn beide kurz nach unserer Bekanntschaft uns eng aneinandergeschlossen und keine Geheimnisse voreinander hatten. Der Aermste hat viele Jahre zu kämpfen gehabt, um aus den Verlegenheiten herauszukommen, in die er sich durch seine Gutherzigkeit und Opferwilligkeit gestürzt hatte. Als ihn der Tod ereilte – er starb allzu jung im Jahre 1879, kaum 38 Jahre alt —, wurde sein Verlust in der ganzen Partei als ein unersetzlicher angesehen.

Im Oktober 1869 war Karl Marx mehrere Wochen bei seinem Freunde Dr. Kugelmann in Hannover auf Besuch. Bracke und Bonhorst, der Sekretär des Ausschusses, fuhren hinüber nach Hannover, um Marx kennen zu lernen und zu begrüßen. Bracke war von der Begegnung mit Marx aufs höchste entzückt; er sei, schrieb er mir, „ein lieber Mensch“, sie hätten sich beide sehr gut verständigt. Ich lernte Marx und zugleich auch Engels persönlich erst 1880 in London kennen anläßlich eines „Kanossaganges“, den ich mit Bernstein unternahm. Darüber später.

Im Dezember 1869 spielte uns die österreichische Regierung einen unangenehmen Streich; sie entzog dem „Volksstaat“ den Postdebit. Der „Volksstaat“ stand damals so, daß er keinen Abonnenten entbehren konnte. Der Akt war aber der beste Beweis, was es mit der Verleumdung des „Sozialdemokrat“ auf sich hatte, Liebknecht stehe im Dienste der österreichischen Regierung.

* * * * *

Gegen Ende des Jahres brach in Waldenburg in Schlesien ein großer Bergarbeiterstreik aus, der größte Streik, den Deutschland bis dahin gesehen hatte. Das Bemerkenswerteste an diesem war, daß er in einem Gebiet und unter Arbeitern ausbrach, die, soweit sie organisiert waren, den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen angehörten, und zwar verlangten die Bergherren den Austritt der Arbeiter aus dem Gewerkverein. Die Lehre der Hirsch-Duncker von der Harmonie der Interessen zwischen Kapital und Arbeit erhielt damit einen argen Stoß. Beide sozialdemokratische Fraktionen traten energisch für die Bergarbeiter ein und unterstützten sie. Ich wollte in Leipzig ein Plakat anschlagen lassen, in dem ich zu Sammlungen für die Streikenden aufforderte, aber die Polizei verbot den Anschlag des Plakats und die Sammlung, die die Genehmigung der Polizei erfordere, weil auf Grund der Armenordnung von 1842 Sammlungen für „Notleidende“ dieser Genehmigung bedürften. Ich appellierte wegen dieser sonderbaren Auslegung der Armenordnung bis an das Ministerium, aber Herr v. Nostitz-Wallwitz, der damals bereits Minister des Innern war, billigte die Entscheidung der Leipziger Polizei.

Mangels genügender Mittel ging der Waldenburger Streik verloren.

* * * * *

Im Frühjahr 1870 fiel mir eine Aufgabe zu, die zu erfüllen Pflicht eines Fortschrittsmannes oder bürgerlichen Demokraten gewesen wäre. In Leipzig starb Rechtsanwalt Tzschirner, der während des Dresdener Maiaufstandes 1849 mit Heubner und Tod Mitglied der provisorischen Regierung gewesen war. Nach Niederwerfung des Aufstandes floh Tzschirner nach der Schweiz, kehrte aber infolge der sächsischen Amnestie von 1865 als gebrochener Mann nach Leipzig zurück. Er mußte unterstützt werden, und ich selbst veranlagte eine Sammlung zu seinen Gunsten, deren Ertrag ich an Tzschirners Parteigenossen Rechtsanwalt Schaffrat in Dresden gelangen ließ.

 

Als nun Tzschirner im Frühjahr 1870 in Leipzig starb, war kein einziger seiner alten Parteigenossen, auch Schaffrat nicht, bereit, dem Manne die Grabrede zu halten; man schämte oder scheute sich offenbar, öffentlich als ehemaliger Parteigenosse des Revolutionärs zu erscheinen. So mußte ich die Rede übernehmen, obgleich ich den Mann persönlich nicht gekannt hatte und von seiner Tätigkeit nur vom Hörensagen wußte. Die deutsche Demokratie hat frühzeitig aufgehört, Mannesmut zu zeigen.

* * * * *

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für 1870 begann am 5. Januar. Schweitzer war nicht in rosiger Stimmung. Nachdem man ihn darüber interpelliert, ob er seinerzeit einen geheimen Vertrag mit Mende bei der sogenannten Vereinigung abgeschlossen habe, was er bestritt, stellte man ihn wegen der Kassenführung zur Rede. Er habe Gelder des Vereins für den „Sozialdemokrat“ verwendet, wozu er kein Recht habe, da das Blatt sein Privateigentum sei. Es wurde sogar ein Beschluß herbeigeführt, wodurch ihm dieses ausdrücklich verboten wurde. Schweitzer war durch diesen Beschluß und die an der Redaktion des „Sozialdemokrat“ geübte Kritik sehr aufgebracht. Er antwortete: Was das Vertrauen anlange, so müsse er nach den in der Generalversammlung gefallenen Aeußerungen annehmen, daß er das Vertrauen der Generalversammlung nicht besitze; jedenfalls habe er großenteils das Vertrauen auf die Delegierten verloren…. Man scheine nicht zu wissen, was der „Sozialdemokrat“ sei. Nicht die Partei habe den „Sozialdemokrat“ gemacht, sondern der „Sozialdemokrat“ die Partei.… Zu verlangen, daß ein Redakteur für den Inhalt des Blattes eintreten müsse, sei leicht, wenn man selbst den Rücken frei habe und nicht einmal die Strafgelder bewilligte. Er habe es satt, sich in dieser Weise erst mit den Vereinsgegnern und dann mit den Vereinsmitgliedern herumzuärgern. Gegenüber dem Verlangen, daß in Geldangelegenheiten der Vorstand beschließen solle und nicht wie bisher der Präsident, erklärte er, dann sei es gleich besser, einen Ausschuß zu wählen, aber keinen Präsidenten. Die Generalversammlung nahm alsdann eine genaue Prüfung der Kassenausgaben vor. Ein Antrag: Die Generalversammlung erklärt sich mit der diesjährigen Kassenabrechnung vollständig zufrieden und weist alle Angriffe der Gegner unserer Partei als ungerechtfertigt zurück und spricht den Wunsch aus, daß die Kassenangelegenheit für alle Zeiten so bleiben möge, wurde mit 5097 gegen 3409 Stimmen angenommen.

Eine Aeußerung Schweitzers, daß es die Aristokratie des Vereins sei, die Agitatoren und Delegierten, von denen immer die Wirren im Verein ausgingen, führte zu gereizten Auseinandersetzungen. Ein Antrag Richter-Wandsbeck, dem Präsidenten die Mißbilligung auszusprechen, weil er auf Antrag von Hamburger Mitgliedern wider alles Recht die Mitglieder, die gleichzeitig dem Allgemeinen Tabak- und Zigarrenarbeiterverein angehörten, bis zur Berliner Generalversammlung ihrer Mitgliedsrechte für verlustig erklärt hatte, wurde mit 24 gegen 12 Stimmen bei zwei Enthaltungen abgelehnt. Diese Vorgänge ließen es Schweitzer wieder einmal geraten erscheinen, den radikalen Demokraten hervorzukehren. Am 9. Januar fand eine von 2000 Personen besuchte öffentliche Sitzung statt, in der das Thema „Der Militarismus“ auf der Tagesordnung stand. Hatte Schweitzer am 17. Oktober 1867 im deutschen Reichstag sich für die Militärgesetzvorlage einschreiben lassen und hatte er damals in seiner Rede ausgeführt, daß es ihm fernliege, jene Eigenschaften an Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, welche im vorigen Jahre eine feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte, so ließ er jetzt folgende Resolution zur Annahme vorschlagen:

„Die Generalversammlung erklärt: Die stehenden Heere sind die Hauptstützen der heutigen reaktionären Regierungen und zugleich der gesellschaftlichen Ausbeutung; das demokratische Prinzip verlangt, daß überall an Stelle der stehenden Heere die allgemeine Volksbewaffnung trete.“

Also ganz wie in unserem ehemaligen Chemnitzer und jetzt im Eisenacher Programm. Nach längerer Debatte, an der Schweitzer sich nicht beteiligte, wurde die Resolution einstimmig angenommen. Im weiteren erklärte sich die Generalversammlung für den Uebergang des Grund und Bodens in Gemeineigentum der Gesellschaft. Mit einer sehr radikalen Rede schloß Schweitzer diese Sitzung.

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen wurde ein Antrag, den „Sozialdemokrat“ als Parteieigentum zu erwerben, mit 6492 gegen 2585 Stimmen abgelehnt. Schweitzer hatte im Laufe der Debatte geäußert: Der „Sozialdemokrat“ habe während der sieben Jahre seines Bestehens enorme Summen verschlungen und erfordere auch jetzt noch Opfer. Woher diese enormen Summen kamen, erfuhr man nicht. Er sei bereit, das Eigentumsrecht abzutreten, wenn die Partei einen geringen Teil der auf das Blatt verwendeten Summen zurückzahle. Ein Redner äußerte die Besorgnis, Schweitzer werde ein neues Blatt gründen, falls es zu Differenzen komme. Die Mehrheit sah nach dieser Erklärung die Uebernahme des Blattes als ein Danaergeschenk an. Schweitzer teilte weiter mit, daß vom 1. Januar ab Hasenclever neben Hasselmann in die Redaktion eingetreten sei. Eine ganze Reihe Mitgliedschaften beantragte ausführliche und wahrheitsgemäße Abfassung der Protokolle der Generalversammlungen.

Eine längere und heftige Debatte entspann sich über verschiedene Anträge; zum Beispiel der Präsident solle, wie es im Statut stehe, durch die Generalversammlung gewählt werden, wohingegen namentlich Schweitzer mit aller Entschiedenheit für die Wahl durch „das Volk“ eintrat, das er durch sein Blatt in der Hand hatte. Er drang mit seiner Ansicht durch. Das mehrfache Verlangen, die Redaktion durch eine Beschwerdekommission zu kontrollieren, wurde durch den Beschluß erledigt, daß alle Beschwerden über die Redaktion des Vereinsorgans an den Präsidenten zu richten seien. Die oberste Kontrolle über die Wirksamkeit der Redaktion und die des Präsidenten in seiner Eigenschaft als Kontrolleur habe der Vorstand zu vollführen und könne derselbe etwa nötige Anordnungen treffen. In der betreffenden Debatte äußerte Pfannkuch, daß durch die bisherige Handhabung der Redaktion viele brave Mitglieder aus dem Verein hinausgestoßen worden seien.

Bei der Wahl zum Präsidenten, die am 12. Februar stattfand, wurde Schweitzer wieder mit 4744 gegen 249 Stimmen gewählt, eine Stimmenzahl, die man auch nicht als besonderes Vertrauensvotum gegenüber den 9000 Mitgliedern, die auf der Berliner Generalversammlung vertreten waren, ansehen kann.

* * * * *

Zu den drei vorhandenen sozialdemokratischen Organisationen trat Anfang 1870 eine vierte, die allerdings nur unbedeutend war und eine kurze Lebensdauer hatte. Die hartnäckige Gegnerschaft, die Schweitzer dem in Augsburg erscheinenden „Proletarier“ und seinen Hintermännern erwies, erregte diese aufs äußerste. Und als nunmehr auch die Berliner Generalversammlung sich gegen die Bayern erklärte, beschlossen diese den Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und beriefen auf Ende Januar einen sozialdemokratischen Kongreß nach Augsburg. An der Spitze dieser Separatbildung standen Franz, Neff und Tauscher; alle drei Schriftsetzer. Franz hat später eine vorzügliche Broschüre geschrieben: „Herr Böhmert und seine Fälschungen der Wissenschaft. Von einem Arbeiter. 1873.“ Franz starb vor wenig Jahren in Amerika. Neff starb weit früher, Tauscher lebt noch heute als Parteigenosse in Stuttgart. Von seiten des Braunschweiger Ausschusses wurde ich nach Augsburg delegiert, um den Anschluß der bayerischen Genossen an unsere Partei herbeizuführen und die Gründung einer vierten Fraktion zu verhüten. Auf dem Kongreß waren nur neun Delegierte anwesend. Der Standpunkt, den ich vertrat, war folgender: