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Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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Das erste Ausnahmegesetz

Das Verlangen Bismarcks nach einem Ausnahmegesetzentwurf gegen die Sozialdemokratie wurde bald erfüllt. Bereits am 12. Mai traf Bismarcks Entwurf für ein Ausnahmegesetz in Berlin ein, den 14. Mai war derselbe von seiner Kanzlei fertig gestellt worden und fand seine Zustimmung. Bereits am 16. wurde derselbe vom Bundesrat genehmigt – am eifrigsten plädierte die sächsische Regierung dafür – und am 20. Mai kam er mit den Motiven an den Reichstag, der ihn schon am 23. auf seine Tagesordnung setzte.

Den Nationalliberalen war bei diesen ganzen Vorgängen nicht wohl zumute; sie fühlten instinktiv, daß Bismarck noch andere Pläne im Hintergrund habe, die sich gegen sie selbst richteten. In der preußischen Regierung waren Wandlungen vor sich gegangen, die nichts Gutes ahnen ließen. Statt des Eintritts von Bennigsen und Forckenbeck in das Ministerium, waren zwei Hochkonservative, der Graf Botho zu Eulenburg und der Graf Udo zu Stolberg-Wernigerode, derselbe, der 1909 als Präsident des Reichstags starb, berufen worden. Der freihändlerische liberale Finanzminister v. Camphausen hatte ebenfalls seinen Abschied nehmen müssen und kam an seine Stelle der charakterschwache nationalliberale Hobrecht. Ebenso mußte der liberale Kultusminister Falk, der Verfasser der Maigesetze gegen das Zentrum und des einzig liberalen Gesetzes aus dem Kulturkampf, des Gesetzes über die Einführung der Zivilstandsregister, das Feld räumen, was eine große Konzession an das Zentrum bedeutete. Die Nationalliberalen hatten also alle Ursache zum Mißtrauen.

Nach der sechs Paragraphen umfassenden Sozialistengesetzvorlage konnten Drucksachen und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie verfolgten, vom Bundesrat verboten werden. Dem Reichstag mußte, sobald derselbe versammelt war, Mitteilung von den Verboten gemacht werden. Ein Verbot mußte außer Kraft gesetzt werden, wenn der Reichstag dies verlangte. Die Polizeibehörden konnten die Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder anderen öffentlichen Orten vorläufig verbieten. Das Verbot sollte erlöschen, wenn nicht innerhalb vier Wochen die Druckschrift seitens des Bundesrats verboten wurde. Das Verbot und die Auflösung von Versammlungen war ganz und gar in die Hände der Polizei gelegt. Berufung sollte es hiergegen nicht geben. Die Zuwiderhandlungen gegen die Verbote sollten mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden. Die Beschlagnahme einer Druckschrift sollte ohne richterliche Anordnung vorgenommen werden können. Vorsteher von verbotenen Vereinen, Unternehmer und Leiter von verbotenen Versammlungen und diejenigen, die ein Lokal für einen verbotenen Verein oder eine verbotene Versammlung hergaben, sollten mit einer Mindeststrafe von nicht unter drei Monaten belegt werden. Das Gesetz sollte für einen Zeitraum von drei Jahren Gültigkeit haben.

In der Annahme, die Fraktion werde bei Beratung der Vorlage durch einen ihrer Redner gegen dieselbe scharf ins Zeug gehen, schrieb ich Motteler unter dem 20. Mai aus dem Gefängnis:

„Da die Einbringung der Ausnahmemaßregel Tatsache ist, so mag derjenige, der von unserer Seite dazu zum Wort kommt, nicht vergessen, daß seine Rede in einigen hunderttausend Exemplaren verbreitet werden muß. Auch ist zu beachten, daß im Falle der Ablehnung der Vorlage der Reichstag ausgelöst wird, wir also vor einer Wahlkampagne stehen und dann diese Rede ihre Dienste leisten muß. Also vor allen Dingen alles, was auf den Täter Bezügliches in unseren Händen ist, Punkt für Punkt erörtert.

Das Sonntag-Morgenblatt der Frankfurter Zeitung bringt einen guten Leitartikel, den ich Euch zur Beachtung empfehle. Der Gesetzentwurf grenzt an Wahnsinn.“

Die Fraktion hatte aber nach längerer Beratung beschlossen, durch Liebknecht eine Erklärung abgeben zu lassen und sich an den weiteren Verhandlungen nicht zu beteiligen.

Die Beratung im Reichstag wurde eingeleitet mit einer kurzen Rede des Grafen zu Eulenburg. Dann erhielt Liebknecht das Wort zu folgender Erklärung:

„Der Versuch, die Tat eines Wahnwitzigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung geschlossen ist, zur Ausführung eines lang vorbereiteten Reaktionsstreichs zu benutzen und die „moralische Urheberschaft“ des noch unerwiesenen Mordattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwalzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst so vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen, daß wir, die Vertreter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands, uns zu der Erklärung gedrungen fühlen:

Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Diskussion des dem Reichstage heute vorliegenden Ausnahmegesetzes teilzunehmen und werden uns durch keine Provokationen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, in diesem Beschluß erschüttern lassen. Wohl aber werden wir uns an der Abstimmung beteiligen, weil wir es für unsere Pflicht halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die Volksfreiheit das Unserige beizutragen, indem wir unsere Stimmen in die Wagschale werfen.

Falle die Entscheidung des Reichstags aus wie sie wolle – die deutsche Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgungen gewöhnt, blickt weiteren Kämpfen und Verfolgungen mit jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die das Bewußtsein einer guten und unbesiegbaren Sache verleiht.“

Nach Liebknecht nahm Bennigsen das Wort. Er hielt eine Rede, die ich für die beste ansehe, die er bis dahin gehalten hatte; sie zeigte, daß er auch anders konnte und daß er vermochte, die Dinge auch von einem höheren Standpunkt, als er bisher bei den nationalliberalen Rednern zur Geltung kam, zu beurteilen. Es sei die Ansicht laut geworden, führte er unter anderem aus, die Regierung habe die Vorlage eingebracht, obgleich sie wisse, daß sie abgelehnt werde. Er erwarte, daß diese Ansicht dementiert werde. Er wies auf die Unsicherheit und die schwankenden Verhältnisse in der Regierung hin, die niemals so schlimm gewesen seien wie jetzt. In Preußen sei die Ministerkrise in Permanenz. Wolle man diktatorische Gewalt, müsse man vor allen Dingen wissen: wer übt sie aus? Seine Partei könne kein Ausnahmegesetz wie das verlangte bewilligen, die Geschichte zeige, wohin diese führten und daß sie nichts nützten. Er machte darüber längere historische Betrachtungen. Weiter sprach er sich im Laufe der Rede für das Aufhören des Kulturkampfes aus. Das war der müde Mann, der einen Kampf beendigt zu sehen wünschte, bei dem bisher die sogenannten Kulturkämpfer keine Seide gesponnen hatten, obgleich einstmals er und seine Freunde diesen Kampf unter Führung Bismarcks mit Jubel begrüßt und durchgefochten hatten. Schließlich erbot er sich, auf dem Boden des gemeinen Rechtes im nächsten Jahre eine Vorlage durchbringen zu helfen, die die bürgerliche Freiheit mit gesetzlicher Ordnung und fester Autorität im öffentlichen Leben für alle Klassen vereinige.

Er erbot sich also jetzt zu dem, was er und seine Freunde zwei Jahre früher mit guten Gründen abgelehnt hatten. Das war wieder ganz nationalliberal. Aber die Ereignisse schritten über diese Vorsätze hinweg und zwangen Bennigsen und seine Freunde, doch zu tun, was sie augenblicklich ablehnten.

Nach zweitägiger Verhandlung wurde § 1 der Vorlage mit 243 gegen 60 Stimmen bei 6 Enthaltungen abgelehnt. Noch stimmte das Zentrum geschlossen gegen die Vorlage; von den Nationalliberalen erklärten sich die Professoren Beseler, Gneist und v. Treitschke dafür. Nach diesem Resultat zog die Regierung die Vorlage zurück.

War das Ausnahmegesetz einstweilen gefallen, so veranlaßte nunmehr Graf zu Eulenburg durch einen Erlaß vom 1. Juni an die Polizeibehörden diese zu scharfem Einschreiten gegen die Partei. „Es sei Pflicht, der sozialdemokratischen Agitation entschieden entgegenzutreten und zu diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln, unter sorgfältiger Einhaltung der durch die Gesetze gezogenen Schranken, innerhalb derselben aber bis an die Grenze des Zulässigen Gebrauch zu machen.“

Einer solchen Aufforderung bedurfte es nicht erst. Die Polizei zeigte überall den größten Eifer für ihre staatsretterische Tätigkeit und Staatsanwälte und Richter nicht minder.

Das Nobiling-Attentat und seine Wirkung

Ich war Ende Mai aus der Haft entlassen worden. Am 2. Juni, einem Sonntag, machte ich mit Frau und Kind einen Spaziergang, von dem wir nach 7 Uhr abends zurückkehrten. Kaum waren wir zu Hause angekommen, so trat die Schwester des Rechtsanwalts Freytag in großer Eile in unsere Wohnung und fragte aufgeregt, ob wir nicht wüßten, was passiert sei? Wir wohnten in der äußeren Stadt, wohin Nachrichten, namentlich am Sonntag, nicht rasch drangen. Ich verneinte die Frage. Darauf stellte Fräulein Freytag weiter die Frage: „Kennen Sie einen Dr. Nobiling? Derselbe hat heute nachmittag auf den Kaiser geschossen und ihn schwer verwundet.“ Ich war sprachlos, wie vom Blitz getroffen. Ich antwortete, der Name Nobiling sei mir nicht bekannt, ich hielt für ausgeschlossen, daß er zur Partei gehöre. Beruhigt entfernte sich die junge Dame.

Am nächsten Morgen eilte ich auf die Redaktion des „Vorwärts“, um zu hören, was man dort wisse und wie man den Fall beurteile. Ein öffentlich angeschlagenes Telegramm enthielt kein Wort davon, daß Nobiling der Sozialdemokratie angehöre. Erleichtert atmete ich auf und trat in die Redaktion mit den Worten ein: „Na, den können sie uns nicht an die Rockschöße hängen.“ Liebknecht, Hasenclever und alle übrigen Anwesenden waren mit mir der gleichen Ansicht, niemand kannte den Attentäter, keiner hatte vorher auch nur seinen Namen gehört. In beruhigter Stimmung verließ ich die Redaktion, mußte aber nach wenigen Minuten wieder umkehren, weil mittlerweile ein zweites Telegramm veröffentlicht worden war, in dem es hieß: Nobiling habe in seiner ersten Vernehmung bekannt, er sei Sozialdemokrat und habe Mitschuldige. Wir alle waren sprachlos.

 

Diese Angaben des Wolffschen Telegraphenbureaus erwiesen sich nachher, wie viele andere Nachrichten gleicher Art, die damals mit größter Geflissentlichkeit verbreitet wurden, als grobe Unwahrheiten und Fälschungen. Aber sie erreichten im vollsten Maße ihren Zweck. Die öffentliche Meinung, die schon durch die am 1. Juni eingetroffene Nachricht aufs höchste erregt worden war, daß der „Große Kurfürst“, eines der größten Schiffe der damaligen deutschen Flotte, bei hellem Tage infolge einer Kollision mit einem anderen Schiffe mit fast fünfhundert Köpfen Besatzung angesichts der englischen Küste untergegangen sei, geriet über das zweite Attentat in Siedehitze.

Als bei Bismarck die Nachricht eintraf, rief er frohlockend: Jetzt habe ich die Kerle – die Nationalliberalen —, jetzt drücke ich sie an die Wand, daß sie quietschen; dann erst erkundigte er sich nach dem Befinden des durch die Nobilingsche Schrotflinte schwer verwundeten Kaisers. Die Auflösung des Reichstags und infolgedessen Neuwahlen standen nunmehr in sicherer Aussicht, durch die er eine Mehrheit zusammenzubekommen hoffen durfte, die ihm sowohl ein Ausnahmegesetz gegen uns wie neue Einnahmen durch die einzuführende Schutzzollpolitik gewährte.

Nobiling hatte den Schuß auf den Kaiser aus dem Fenster eines Hauses Unter den Linden, woselbst er sich eingemietet hatte, abgegeben. Er selbst hatte danach durch zwei Fehlschüsse einen Selbstmordversuch gemacht. Ein Offizier, der sich unter den Personen befand, die nach dem Schuß auf den Kaiser in Nobilings Wohnung eindrangen, hatte ihm mit einem Säbelhieb eine schwere Kopfwunde beigebracht. Nobiling war zunächst besinnungslos und vollkommen vernehmungsunfähig. Festgestellt wurde, daß er vor Jahren Landwirtschaft in Leipzig studiert hatte und dort im Seminar des Professors Birnbaum, eines unserer schlimmsten Gegner, sich bei den Debatten als heftiger Widersacher unserer Partei gezeigt hatte. Von Leipzig war er nach Dresden gegangen, wo er das Seminar des Professors Böhmert besuchte, der gleichfalls ein eifriger Gegner der Sozialdemokratie war. In Dresden zeigte sich Nobiling wiederholt in Versammlungen, in denen er als Gegner unserer Partei Reden hielt, wodurch ihn unsere Parteigenossen dort, wie Vollmar, Schlüter, Paschky usw., kennen lernten. Diese machten nachher in der Untersuchung wider Nobiling Zeugenaussagen, nach denen er ein unbedeutender Mensch und großer Wirrkopf war. Er hatte mit der Partei noch weniger zu tun gehabt als Hödel. Mehrfach wurden Stimmen laut, die die Ansicht vertraten, daß Nobiling zu seiner Tat erst angeregt worden sei durch die Art, wie ein großer Teil der Presse sich mit der Person Hödels beschäftigte, dessen Porträt zum Beispiel von einem Familienblatt in einem Prachtholzschnitt dargestellt wurde. Die Meinung, daß man es auch in Nobiling mit einem geistig kranken Menschen zu tun habe, war weit verbreitet. So schrieb selbst die freikonservative „Post“, allezeit eine der gehässigsten Gegnerinnen der Sozialdemokratie: Bei allen Antworten, die Nobiling gebe, umspiele ein eigentümliches Lächeln seine Lippen, das auf Geistesstörung schließen ließe. Und dem Redakteur der „Germania“, Majunke, gegenüber hatte der Untersuchungsrichter Nobilings geäußert: „Das Bild, das die Zeitungen über Nobiling ausmalen, ist ganz und gar unzutreffend, er ist nichts weniger als intelligent, er ist noch dümmer als Hödel.“ Als Nobiling am 10. September im Gefängnis starb, war nicht der geringste Beweis erbracht, daß die Sozialdemokratie direkt oder indirekt mit dem Attentäter in Verbindung gestanden oder sein Handeln beeinflußt hatte.

Für die Hetzer, die um jeden Preis die beiden Attentate für ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie ausnutzen wollten, waren alle diese Feststellungen nicht vorhanden. Bismarck mißbrauchte den gewaltigen Einfluß, den er mit Hilfe des Reptilienfonds auf einen großen Teil der Presse ausübte, um die Bevölkerung zum fanatischsten Hasse gegen die Sozialdemokratie aufzupeitschen. Und dieser Presse schlossen sich alle an, die an einer Niederlage der Sozialdemokratie ein Interesse hatten, insbesondere ein großer Teil der Unternehmerschaft. Die Partei hieß im gegnerischen Lager nur noch die Partei der Meuchelmörder, der Allesruinierer, die der Masse den Glauben an Gott, Königtum, Familie, Ehe und Eigentum raube. Diese Partei zu bekämpfen und sie, wenn möglich, zu vernichten, erschien diesen Gegnern als die glorreichste Tat. Tausende und aber Tausende von Arbeitern, die als Sozialdemokraten bekannt waren, wurden auf die Straße geworfen. In den Annoncenteilen der Zeitungen erschienen Erklärungen, wodurch die Arbeiter sich verpflichteten, fernerweit weder einer sozialdemokratischen Organisation anzugehören, noch sozialdemokratische Blätter zu halten und zu lesen, noch Geld für sozialdemokratische Bestrebungen zu opfern. Dieser Unternehmerterrorismus war so stark, daß unsere Parteizeitungen die Anhänger der Partei aufforderten, sie sollten jede gewünschte Erklärung unterzeichnen, sie könnten nachher doch tun, was sie wollten, einem solchen Terrorismus gegenüber gebe es kein Worthalten. Der Terrorismus und der damit verbundene Boykott gingen noch weiter: Patriotische Hausherren kündigten ihren sozialdemokratischen Mietern, Wirte, die jahrelang froh waren, Sozialdemokraten zu ihren Kunden zu zählen, forderten jetzt diese auf, ihre Lokalitäten zu meiden. In Leipzig hatten die Redakteure des „Vorwärts“ und der „Neuen Welt“ – Liebknecht, Hasenclever, Geiser – die Gewohnheit, nach Schluß der Redaktion am Nachmittag in einem bestimmten Lokal einen „Frühschoppen“ zu trinken. Der Wirt ließ ihnen nunmehr sagen, daß er auf ihren Besuch gern verzichte. Aehnliche Vorgänge wiederholten sich auch gegenüber den Redakteuren der „Berliner Freien Presse“ und anderwärts.

In Schwerin warf man dem alten Demmler an zwei Nächten hintereinander die Fenster ein, was den vierundsiebzigjährigen Mann so aufregte, daß er auf einige Zeit Schwerin verließ und die weitere Annahme einer Kandidatur für den Reichstag ablehnte. Alle diese Ausbrüche fanatischer Roheit und politischen Wahnsinns genügten aber den „Patrioten“ noch nicht, um ihre Verfolgungswut zu befriedigen. Es entstand eine Sintflut von Denunziationen wegen wirklichen und angeblichen Majestätsbeleidigungen. In zahlreichen Fällen wurde gerichtlich konstatiert, daß gemeine Rachsucht wegen verletzter Privatinteressen die Denunzianten zu ihrem Vorgehen leitete. Das hinderte aber nicht, daß die härtesten Bestrafungen ausgesprochen wurden. Ein großer Teil der Richter war ebenfalls vom Verfolgungsparoxysmus befallen, und so verkündeten sie Strafen von ein, zwei, drei bis zu fünf Jahren Gefängnis, der Maximalstrafe, die das Gesetz zuließ. Aeußerungen, die vordem keinen Staatsanwalt auch nur einen Augenblick aus seiner Ruhe aufgescheucht haben würden, wurden jetzt als Kardinalverbrechen angesehen und aufs härteste bestraft.

Anfang Juli schrieb die fortschrittliche „Vossische Zeitung“: „Nachdem wir über die auswärtigen Verurteilungen (wegen Majestätsbeleidigung) in einer Gesamthöhe der erkannten Strafen von 500 bis 600 Jahren berichtet haben, widerstrebt es uns, die traurige Liste weiterzuführen.“ Was sollte man aber zu Richtern sagen, die ganz und gar vergessen hatten, was sie ihrem Amte schuldig waren? In zwei Monaten wurden 521 Personen zu rund 812 Jahren Gefängnis verurteilt. Nur ein kleiner Teil der Verurteilten war sozialdemokratisch gesinnt. Auch die Polizeibehörden waren, wie immer bei solchen Gelegenheiten, wie von Sinnen und veranstalteten Haussuchungen und veranlaßten Verhaftungen auf jede vage Vermutung hin. Die allermeisten der Verhafteten mußten nach kurzer Zeit wieder entlassen werden.

Hatte bereits im Mai der Senat zu Hamburg die Abhaltung eines allgemeinen deutschen Gewerkschaftskongresses untersagt, so verbot Anfang Juni der Stadtrat zu Gotha die Abhaltung des deutschen Sozialistenkongresses, und ähnlich verfuhren die Behörden vielfach gegen Vereine und Versammlungen. Wiederholt wurden uns Aeußerungen aus maßgebenden Kreisen zugetragen, wie die: Die Sozialdemokratie müsse so geknebelt und an die Wand gedrückt werden, daß sie aufmucke und man schießen könne. Das veranlaßte die „Berliner Freie Presse“ zu der Ankündigung: „Seid vorsichtig und habt acht, man will schießen.“ Trotz alledem kündigten eine Anzahl Parteiblätter ihre Vergrößerung mit dem 1. Juli an. Die Zahl der Abonnenten der „Berliner Freien Presse“ war seit Neujahr von 10000 auf 14000 gewachsen. Ende September 1878 hatte aber auch die „Berliner Freie Presse“ sechs Redakteure hinter Schloß und Riegel, darunter Richard Fischer, der als junges Kerlchen die Aufnahme in den Bund der Geächteten mit sieben Monaten Gefängnis zu bezahlen hatte.

* * * * *

Für mich und unser Geschäft hatte die allgemeine Hetze ganz besonders mißliche Folgen. Ich war genötigt, nach meiner längeren Haft endlich eine Geschäftsreise zu unternehmen. Dieselbe sollte nach Nordwestdeutschland und dem Unterrhein vor sich gehen, Länderstrecken, die ich bisher zum größten Teil geschäftlich noch nicht besucht hatte. Das war im gewissen Sinne mein Glück. Ich war in jenen Gegenden persönlich nur sehr wenig bekannt und konnte es so riskieren, in den Hotels unter angenommenem Namen zu wohnen, da ich unter meinem eigenen Namen nirgends als Gast geduldet worden wäre. Tag für Tag war ich an der Wirtstafel Augen- und Ohrenzeuge, wie die Gäste in Ausdrücken grenzenlosen Hasses sich gegen die Partei und speziell auch gegen meine Person ergingen. Wäre ich erkannt worden, es wäre zu den schlimmsten Szenen gekommen. Aehnlich erging es mir aber auch bei dem Besuch der Geschäftsleute, denen ich unsere Fabrikate zum Kauf anbot. Den ersten Besuch machte ich bei einem Kaufmann in Halle a.S. Demselben gefielen unsere Artikel und er gab mir einen namhaften Auftrag. Sobald ich ihm aber unsere Geschäftskarte überreichte und er den Namen der Firma las, erklärte er schroff: Mit dieser Firma arbeite ich nicht, annullieren Sie meine Bestellung. Und so erging es mir häufig. Andere wieder lehnten, ohne irgendeine Bemerkung zu machen, eine Bestellung zu geben ab. Ich machte so schlechte Geschäfte, daß, als ich nach sechs Wochen nach Hause zurückkehrte, froh war, das Erlebte hinter mir zu haben, da ich aus den Verkäufen unserer Artikel nicht einmal die Reisespesen gedeckt hatte, obgleich ich diese aufs niedrigste zu halten suchte und zu diesem Zwecke in den einzelnen Orten selbst meinen neun Kilo schweren Musterkoffer Straße auf, Straße ab bei Regen und glühendem Sonnenschein trug, um keinen Trägerlohn ausgeben zu müssen.