Free

Aus meinem Leben. Zweiter Teil

Text
Author:
Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

Innere Vorgänge

Während ich hinter den Gefängnismauern Zeit zu allerlei Betrachtungen hatte, spielten sich in und außerhalb der Partei eine Reihe Vorgänge ab, die von besonderer Bedeutung waren. Im November hatten die Berliner Genossen an Stelle der aufgelösten Organisationen einen Verein zur Wahrung der Interessen der werktätigen Bevölkerung gegründet. Die christlich-konservativen Staatssozialisten gründeten eine Wochenschrift, „Der Staatssozialist“, an der als Mitarbeiter Professor Schäffle, Professor v. Scheel, Bankier Samter, Professor Ad. Wagner, Pastor Tod, Dr. Petermann-Dresden und andere tätig sein sollten. Die evangelischen Sozialpolitiker wollten den katholischen nicht allein das Feld überlassen, sondern unter den evangelischen Arbeitern vor der Sozialdemokratie retten, was noch zu retten war.

Auch in der großen Politik schienen Veränderungen bevorzustehen. Die fortgesetzt steigenden Ausgaben des Reiches erforderten neue Einnahmen. Die wachsenden Matrikularumlagen, durch die die Einzelstaaten das Reichsdefizit zu decken hatten, wurde diesen angesichts des eigenen steigenden Geldbedarfes für ihre innere Verwaltung immer lästiger. Die gesteigerten Ausgaben aber auf dem Wege direkter Besteuerung zu decken, davon wollte Bismarck am wenigsten wissen. Er haßte die direkten Steuern und suchte sich persönlich nach Möglichkeit der Zahlung derselben zu entziehen. Er hatte schon am 22. November 1876 im Reichstag sein Steuerideal entwickelt, wobei er ausführte:

„Ich erkläre mich von Hause aus wesentlich für Aufbringung aller Mittel nach Möglichkeit für indirekte Steuern, und halte die direkten Steuern für einen harten und plumpen Notbehelf, nach Aehnlichkeit der Matrikularumlagen, mit alleiniger Ausnahme, ich möchte sagen einer Anstandssteuer, die ich von der direkten Steuer immer aufrecht erhalten würde; das ist die Einkommensteuer der reichen Leute … wohlverstanden, der wirklich reichen Leute…. Ich kann die Zeit kaum erwarten, daß der Tabak höhere Summen steuere, so sehr ich jedem Raucher das Vergnügen gönne. Analog steht es auch mit dem Bier, dem Branntwein, dem Zucker, dem Petroleum und allen diesen großen Verzehrungsgegenständen, gewissermaßen den Luxusgegenständen der großen Masse.“

Ein großer Teil der Liberalen war geneigt, auf dem gleichen Wege die Deckung der Mehrausgaben zu suchen. Da Bismarck um jene Zeit mit einem Teil der konservativen Partei ein starkes Zerwürfnis hatte, andererseits mit dem Zentrum noch immer in Fehde lebte, kam er auf den Gedanken, die Nationalliberalen, die damals noch mit ihren nächsten Affiliierten die stärkste Partei im Reichstag bildeten, dadurch an seine Politik zu ketten, daß er mit ihrem Führer Herrn v. Bennigsen wegen dessen Eintritt in das preußische Ministerium in Unterhandlungen trat. Bennigsen war dazu geneigt, aber er hielt die Zustimmung der führenden Parteigenossen zu diesem Schritt für notwendig. Unter dem Einfluß Laskers kam man überein, dem Eintritt Bennigsens in das Ministerium nur zuzustimmen, wenn neben Bennigsen auch der Bayer Freiherr v. Stauffenberg und Herr v. Forckenbeck in das Ministerium Aufnahme fänden. Bennigsen allein würde der wachsenden reaktionären und schutzzöllnerischen Strömung gegenüber nicht gewachsen sein. Bismarck brachten diese Bedingungen namentlich gegen Lasker in hellen Zorn, dem er vorwarf, ihm einmal wieder in die Suppe gespuckt zu haben. Als dann der alte Kaiser von der Kombination mit Bennigsen hörte, in dem er wegen seiner Haltung im Jahre 1866 gegen das hannoversche Herrscherhaus einen halben Hochverräter sah und sich entschieden gegen Bennigsen als preußischen Minister erklärte, fiel der ganze Plan ins Wasser. Bismarck vergaß den Nationalliberalen nicht, was sie nach seiner Meinung gegen ihn gesündigt hatten, er nahm bald darauf Rache an ihnen.

* * * * *

Ende des Jahres 1877 siedelte Auer von Hamburg nach Berlin über, um neben Most und anderen in die Redaktion der „Berliner Freien Presse“ einzutreten. August Geib bemühte sich, an Auers Stelle Julius Motteler zum Eintritt als Sekretär in das Zentralwahlkomitee zu gewinnen. Motteler, der aus privaten Gründen 1876 aus der Leitung der Leipziger Genossenschaftsbuchdruckerei ausgetreten war, lehnte aber ab.

Bald darauf erlebte Berlin zwei Vorgänge, die die gesamte Oeffentlichkeit in Spannung versetzten. Am 7. März 1878 starb der Faktor der Berliner Assoziationsbuchdruckerei August Heinsch und wurde am 10. März beerdigt. Heinsch war kein Redner, aber er war ein vorzüglicher Organisator, in dessen Händen alle Fäden der Berliner Bewegung zusammenliefen, und er hatte sich wegen seiner Unermüdlichkeit, trotz seines leidenden Zustandes – er starb an der Schwindsucht – zu helfen und zu raten, wo er konnte, die allgemeinste Sympathie der Berliner Arbeiter erworben. Das Leichenbegängnis gestaltete sich zu einer großen sozialdemokratischen Demonstration, wie sie bis dahin Berlin noch nicht gesehen hatte. Der Polizeipräsident bewies sein Verständnis für die Bewegung dadurch, daß er die Mitnahme von Fahnen im Zuge, auch wenn sie verhüllt waren, verbot.

Die Demonstration hatte durch die Ruhe und Ordnung, mit der sie verlief, den Gegnern so imponiert, daß der „Kladderadatsch“ sich zu folgendem Gedicht verstieg.

 
Für die Sozialdemokratie.
Daß neulich Zucht und Ordnung sie gehalten
Bei ihrem Aufzug, laßt es uns gestehn.
Ein gleicher Geist der Ordnung möge walten
Bei uns, wenn wir in solchen Massen gehn!
Wir wollen gern den Beifall ihnen zollen,
Der ungerecht nur scheint den Toren.
Es sind verloren,
Die nicht vom Gegner lernen wollen.“
 

Wenige Wochen später sah Berlin ein zweites, womöglich noch größeres Leichenbegängnis. Paul Dentler, der verantwortliche Redakteur der „Berliner Freien Presse“, war ebenfalls an der Schwindsucht, aber unter so empörenden Umständen gestorben, daß ein Sturm der Entrüstung die Partei in Berlin und in ganz Deutschland ergriff. Dentler war wie Heinsch ein noch junger Mann, der mir in meiner Prozeßangelegenheit bereitwilligst eine Reihe kleiner Dienste erwiesen hatte. Eine hoch aufgeschossene schlanke Gestalt mit der bleichen Gesichtsfarbe und der zarten durchsichtigen Haut, wie sie Schwindsüchtige öfter zu haben pflegen, war er in seinem ganzen Wesen die personifizierte Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit.

Dentler war am 18. Januar unter der Anklage, mehrere Majestätsbeleidigungen und sonstige Vergehen in der „Berliner Freien Presse“ begangen zu haben, in schwer krankem Zustand in Untersuchungshaft genommen und am 7. Februar von der siebten Deputation zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt worden, wogegen er die Berufung anmeldete. Dentler beantragte alsdann mit Hinweis auf seinen schwer kranken Zustand seine Entlassung aus der Untersuchungshaft, die infolge der Berufung fortdauerte. Das Gericht forderte den Gefängnisarzt zur Begutachtung des Falles auf. Woche um Woche verging; Dr. Lewin, so hieß der Ehrenmann, ließ sich ab und zu einmal in der Zelle sehen, fragte Dentler, wie es ihm gehe, und verschwand wieder. Alles, was Dentler schließlich erreichte, war, daß er kurz vor seinem Tode aus der Stadtvogtei in die Gefangenenabteilung der Charité gebracht wurde.

Von hier schrieb Dentler der Redaktion der „Berliner Freien Presse“:

„Mein Zustand verschlimmert sich jeden Tag, nach Verlauf einer Woche erinnere ich (an den Antrag auf Entlassung) – vergebens. Eine zweite Woche bricht an, geht zu Ende und am letzten Tage derselben – vierzehn Tage nach meinem Antrage – erscheint der Medizinalrat Wolff…. Nach einer sehr sorgfältigen Untersuchung geht Herr Wolff, nachdem er sich sehr bedenklich über meinen Zustand ausgesprochen hat. – Seit jener Untersuchung sind wiederum volle acht Tage verflossen, ich bin nach wie vor im unklaren über mein Schicksal, die siebte Deputation hat seitdem drei Sitzungen gehalten und ich – nun ich habe heute nachmittag in der Spazierstunde Blut gespien, nach meinen bisherigen Erfahrungen ein Vorbote starker, in kurzer Zeit darauf folgender Lungenblutungen. Daß ich jetzt eine Lungenblutung vom Schlage der beiden erlebten überstehen würde, halte ich einfach für unmöglich.“

Und der vorausgesagte Blutsturz kam. Am 24. April war Dentler eine Leiche. Am 28. April fand seine Bestattung unter immenser Beteiligung statt; sie war ein flammender Protest gegen die ihm widerfahrene Behandlung. Wiederum war das Bürgertum erstaunt und erschreckt über die Massen, die Dentler zu Grabe geleiteten. Dieser Ueberraschung gab jetzt die „Magdeburger Zeitung“ mit den Worten Ausdruck:

„Wer spricht noch von Arbeiterbataillonen Berlins angesichts dieses Leichenaufgebots? Das sind Regimenter, Brigaden, Divisionen, ja mehr, das sind ganze Armeekorps, welche ihrem sicherlich um die Sache hochverdienten Toten die letzte Ehre erwiesen.“

Seitdem hat Berlin noch manchen sozialdemokratischen Leichenzug gesehen, größer als jenen der Heinsch und Dentler, die der bürgerlichen Welt ein mene tekel upharsin zuriefen.

Der Reichstag Frühjahr 1878

Mittlerweile war der Reichstag zum 6. April 1878 einberufen worden. Ich war durch meine Haft wieder von seinen Beratungen ausgeschlossen. Ein Antrag auf meine Beurlaubung hatte wie früher einen negativen Erfolg.

Die Fraktion war sehr fleißig in der Stellung von Anträgen. Sie beantragte die Abänderung des Artikels 31 der Verfassung – Freilassung der Abgeordneten auch aus der Strafhaft —, Aenderung des Reichstagswahlgesetzes: Einführung der Kuverts, Wahltag am Sonntag, gesetzliche Festlegung der Zahl und des Umfanges der Wahlkreise nach jeder Volkszählung, Aenderung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in bezug auf Wahlbeeinflussungen; einen Gesetzentwurf betreffend das Vereins- und Versammlungsrecht, Antrag auf Aenderung des Freizügigkeitsgesetzes – Einschränkung der Ausweisungen —, Anträge zu dem Bericht der Kommission über die Einführung der Gewerbegerichte, Anträge zu dem von den Regierungen eingebrachten Gesetzentwurf betreffend Aenderung der Gewerbeordnung.

 

Bei einer der in jener Zeit öfter vorkommenden Sozialistendebatten erlaubte sich Bismarck den Scherz: er wolle mir einen polnischen Bezirk zum Musterversuch für sozialistische Experimente überlassen. Da ich hinter Schloß und Riegel saß, konnte ich ihm auf diesen Scherz nicht gebührend antworten.

Als ich vernahm, daß Motteler zur Frage der Fabrikarbeit der Kinder sprechen wolle, schrieb ich ihm am 12. Februar:

„Gestern sagte mir Dr. Glattstern, daß Du ihn wegen Beschaffung von Material in bezug auf Kindersterblichkeit angegangen habest. Wenn Du dies in Rücksicht auf die Einschränkung der Kinderarbeit durch die Gewerbeordnungsnovelle getan, dürfte es sich empfehlen, von Zahlenmaterial, da es meines Wissens in brauchbarer Weise nicht vorhanden ist, abzusehen. Die große Kindersterblichkeit ist notorisch, auch in den späteren Jahren, aber es muß beachtet werden, daß neben der Fabrikarbeit auch elende Wohnung, elende Nahrung und elende Pflege während der Krankheiten sehr ins Gewicht fallende Faktoren sind. Willst Du dagegen die große Kindersterblichkeit in den ersten Lebensjahren auf die Beschäftigung der Mütter in den Fabriken mit zurückführen, so ist das unzweifelhaft gut und hierfür kein besseres Beispiel anzuführen als die Zeit der Baumwollenkrise in England, während des amerikanischen Bürgerkriegs, in der die Kinder bedeutend weniger starben, weil sie jetzt infolge der mangelnden Arbeit für die Mütter die Mutterbrust erhalten konnten (siehe Marx' Kapital).

Ich glaube, Du tust am besten, hier einfach auf die physischen und moralischen Nachteile dieser Arbeit an und für sich und in Verbindung damit auf die Zerrüttung des Familienlebens hinzuweisen, das die Fabrikarbeit der Mütter hervorruft, und appellierst an das Gefühl der Gegner, was sie sagen würden, wenn ihren Frauen und Kindern solche Zumutungen gemacht würden. Daneben wäre die perfide Art, wie die Reichsregierung im Interesse der Fabrikanten die größere Ausbeutung ermöglicht, gebührend zu brandmarken.

Hierbei wäre aber ein neuer guter Gedanke in aller Form zum Austrag zu bringen. Mache das gänzliche Verbot der Kinder- und eine wesentliche Einschränkung der Frauenarbeit den Fabrikanten die Konkurrenz des Auslandes schwer, so solle das Mittel ergriffen werden, das die Regierung auch schon auf anderen Gebieten mit Erfolg ergriffen hat, der Abschluß bezüglicher internationaler Verträge. Sie würde hierbei nicht nur die öffentliche Meinung Deutschlands wie in kaum einer anderen Frage auf ihrer Seite haben, sondern auch die Sympathien der arbeitenden Klassen des Auslandes. Der moralische Druck eines solchen Vorgehens würde so groß, daß jede Regierung gezwungen würde, auf solche Vorschläge einzugehen.

Ich glaube, mit diesem Trumpf könnten wir sehr viel gewinnen.

Ihr könntet zu dem Antrag von Schulze-Delitzsch, Nr. 11 der Drucksachen, betreffend das Genossenschaftsgesetz, einige weitere Anträge bringen, zum Beispiel auf Einführung der beschränkten Haftpflicht, analog dem früheren sächsischen Genossenschaftsgesetz.

Auch müssen einige Schulzesche Anträge entschieden bekämpft werden.

Ich stelle mein Exemplar des Berichts zur Verfügung, worin ich zu den Materien die Bemerkungen, die weiter ausgesponnen werden könnten, angebracht habe. Auer oder wer sonst Lust hat, könnte dieses Kapitel übernehmen.

Ich werde gelegentlich den Bericht (Aktenstück Nr. 11) hinausgeben, bitte aber mir ihn aufzubewahren und zurückzugeben.“

Im Leipziger Gefängnis und was währenddem geschah

Die Muße im Gefängnis benutzte ich, um unter anderem im „Vorwärts“ einen Artikel für die Gründung einer allgemeinen Parteibibliothek (Archiv) Stimmung zu machen. Die Ereignisse der nächsten Monate verhinderten, den Plan weiter zu verfolgen. Ich habe dann den Gedanken später im Züricher „Sozialdemokrat“ aufs neue angeregt und jetzt nahm sich der Parteigenosse Schlüter, der in der Buchhandlung des „Sozialdemokrat“ beschäftigt war, der Ausführung des Gedankens an. Die Gründung des Parteiarchivs erfolgte.

Des weiteren arbeitete ich an der Vollendung meines Buches „Die Frau und der Sozialismus“, das im folgenden Jahre in der ersten Auflage erscheinen konnte. Auch schrieb ich ein Broschürchen „Das Reichsgesundheitsamt und sein Programm“, in dem ich die sozialhygienischen Aufgaben erörterte, die nach meiner Ansicht das Reichsgesundheitsamt lösen müsse, wolle es seinem Namen und seiner Stellung gerecht werden.

Meine diesmalige Leipziger Haft gab mir auch die Gelegenheit, einem Teil meiner Mitgefangenen zu einer kleinen Verbesserung ihrer Lage zu verhelfen. Zu jener Zeit hatte noch die Oberleitung im Gefängnis ein alter Inspektor, von dem die Sage ging, daß er in seiner Stellung ein reicher Mann geworden sei dadurch, daß er den Gefangenen, die im Besitz von Geld waren, Eßwaren und Getränke zu einem Preise verkaufte, der ihm einen hohen Nutzen abwarf. Weiter erfuhr ich in der Privatunterhaltung mit meinem Aufseher, der froh war, wenn ich mit ihm eine Weile plauderte, daß der Inspektor auch nach anderer Richtung sich an den Gefangenen verging. So sparte er an Handtüchern und Seife, mit denen die Gefangenen doppelt so lange aushalten mußten, als vorgeschrieben war. Die Gefangenen erhielten ihr Mittagessen in Steinkrügen. Daß ab und zu einer derselben zerbrach, war selbstverständlich. Der Inspektor sorgte aber nicht für Ersatz, sondern ein Teil der Gefangenen mußte warten bis der andere Teil gegessen hatte, und dann wurde die mittlerweile kalt gewordene Speise in den unausgewaschenen Krügen dem anderen Teil überreicht.

Diese Mitteilungen erregten meinen Zorn. Ich faßte nunmehr einen Plan, um dem Inspektor sein Treiben zu legen. Ich setzte mich hin und schrieb eine Beschwerde an den Direktor des Gerichts, dem damals die Oberaufsicht über das Gefängnis oblag, worin ich die ganzen ungehörigen Vorgänge schilderte, aber in der Rolle eines Mannes, der eben als Gefangener das Gefängnis verlassen und die Ungehörigkeiten des Inspektors am eigenen Leibe zu spüren bekommen habe, denn ich wurde ja davon nicht betroffen. Natürlich mußte dieses Schreiben anonym abgehen.

Als meine Frau mir ihren nächsten Besuch machte, der nur in Gegenwart des Inspektors stattfinden konnte, drückte ich ihr heimlich einen Zettel in die Hand, in der ich sie bat, an einem bestimmten Abend Punkt 1/2-10 Uhr durch die Straße zu gehen, nach der mein Zellenfenster mündete, ich würde ihr alsdann einen Brief hinunterwerfen, den sie von unbekannter Hand solle abschreiben lassen und an den Gerichtsdirektor senden. So geschah es. Als meine Frau mit ihrem Töchterchen auf der Straße erschien, warf ich ihr aus dem dritten Stock das ziemlich stark gewordene Briefpaket hinunter, das bei der Stille in der Straße mit großem Geräusch auf das Pflaster klatschte. Meine Frau hob eilig das Paket auf und eilte fluchtartig mit ihrem Töchterchen von dannen, sie glaubten einen Mann hinter sich kommen zu hören und befürchteten, sie würden verfolgt. Einige Tage später stürzte der Aufseher in großer Aufregung in meine Zelle und erzählte: den Vormittag habe es zwischen dem Direktor und dem Inspektor einen heftigen Auftritt gegeben. Der Alte – wie er den Inspektor bezeichnete – sei zum Direktor befohlen worden und dieser habe ihm aus einem Briefe, den ein entlassener Gefangener geschrieben habe, alle seine Sünden vorgerückt und ihm furchtbar den Marsch geblasen. Der Alte sei ganz aufgeregt zu ihnen, den Aufsehern, gekommen und habe sofort Order für Abstellung der Uebelstände gegeben. Der Aufseher erzählte mir das mit großer Genugtuung, selbstverständlich hütete ich mich, ihn merken zu lassen, wer der Briefschreiber gewesen war.

* * * * *

Anfang Mai veröffentlichte das Zentralwahlkomitee einen Ausruf für die Abhaltung eines Sozialistenkongresses, der in der Zeit vom 15. bis 18. Juni abermals in Gotha stattfinden sollte. Unter den Punkten der Tagesordnung befand sich als Punkt 3: Beratung über die Stellung der Sozialdemokratie zum Staats- und Gemeindebetrieb, für den ich mit Rittinghausen als Berichterstatter angemeldet wurde. Den Anstoß zu diesem Beratungspunkt gab der Bismarcksche Plan, die Eisenbahnen in Reichsbesitz zu bringen, ferner das Tabakmonopol einzuführen, ein Plan, der damals zwar noch nicht öffentlich erörtert worden war, aber es war durchgesickert, daß in den Verhandlungen Bismarcks mit Herrn v. Bennigsen das Tabakmonopol eine Rolle gespielt habe. Auch hatte unser Parteigenosse Rittinghausen sich für die Verstaatlichung des Versicherungswesens öffentlich ausgesprochen und damit in der Partei nicht überall Zustimmung gefunden.

Der geplante Kongreß kam aber nicht mehr zur Ausführung, die eintretenden Ereignisse machten ihn unmöglich.

Das Hödel-Attentat und seine Folgen

Am 12. Mai wurde mir in meine Zelle die Nachricht, die mich im höchsten Grad überraschte, überbracht, daß am Tage zuvor, nachmittags 3 Uhr, ein gewisser Hödel aus Leipzig, der Sozialdemokrat wäre, ein Attentat auf den alten Kaiser gemacht habe, der aber unverwundet geblieben sei. Mir erschien der Vorgang zunächst unerklärlich. Der Name Hödel alias Lehmann war mir bekannt. Hödel war das Jahr zuvor in Leipzig in der Partei aufgetaucht. Persönlich kannte ich ihn nicht. Da er keine Arbeit hatte, vielleicht auch keine nehmen wollte – er hatte als Klempner gelernt —, hatte er sich mit der Verbreitung unseres Leipziger Lokalorgans, „Die Fackel“, und mit dem Verkauf sozialistischer Schriften beschäftigt. Aber er erwies sich bald als Schwindler. Er unterschlug die eingenommenen Gelder, was die Expedition der „Fackel“ schon am 5. April veranlaßte, bekannt zu machen, daß Hödel der Vertrieb des Blattes entzogen worden sei. Ferner hatte einige Tage später die Leipziger Parteimitgliedschaft beschlossen, Hödels Ausschließung aus der Partei zu beantragen, und in der Tat hatte das Zentralwahlkomitee den Ausschluß Hödels aus der Partei am 9. Mai, also zwei Tage vor seinem Attentat, öffentlich im „Vorwärts“ bekannt gemacht.

Hödel hatte sich alsdann, nachdem er bei uns unmöglich geworden war, an den nationalliberalen Agitator Sparig und die Redaktion des nationalliberalen „Leipziger Tageblatts“ gewendet und lieferte diesen für Geld eine Reihe unwahrer und übertriebener Anklagen gegen die Partei, die das „Leipziger Tageblatt“ gegen uns ausschlachten versuchte. Nachdem er in Leipzig seine Mission gegen die Partei erfüllt hatte, suchten ihn Sparig und Konsorten los zu werden; sie gaben ihm das Geld zur Reise nach Berlin. Hier angekommen, hielt er es mit beiden Lagern. Er trat in einen sozialdemokratischen Verein und gleichzeitig in die christlichsoziale Partei des Hofpredigers Stöcker ein, um den sich damals eine große Zahl katilinarischer Existenzen aus den verschiedensten Schichten gesammelt hatte. So auch der Schneider Grüneberg, der zwei Jahre zuvor in Stuttgart und München von der sozialdemokratischen Partei wegen Betrügereien ausgeschlossen worden war. Grüneberg, der später auch von Stöcker gegangen wurde, verriet, daß neben Hödel auch Dr. Nobiling, der spätere zweite Attentäter auf den Kaiser, Mitglied der christlichsozialen Partei gewesen war. Er, Grüneberg, habe auf Geheiß des Hofpredigers eine neue Mitgliederliste anfertigen müssen, in der der Name Nobilings fehlte. In Berlin hatte Hödel sowohl sozialdemokratische wie christlichsoziale Blätter und Schriften, so den „Staatssozialist“ und ein Flugblatt „Ueber die Liebe zu König und Vaterland“ verbreitet. Als er verhaftet wurde, fand man auch Photographien von Liebknecht, Most und mir bei ihm, mit denen er handelte. Ueber die moralische Qualifikation dieses Menschen konnte wohl kein Zweifel bestehen.

Sobald Bismarck die Nachricht von dem Hödelattentat in Friedrichsruh erhielt, telegraphierte er nach Berlin: Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, woraus ersichtlich war, wie gierig er auf irgend eine Gelegenheit wartete, der verhaßten Partei womöglich den Todesstoß zu versetzen. Anfangs nahmen die Oeffentlichkeit und die Presse die Nachricht von dem Attentat ziemlich kühl auf. Als einzelne Blätter den Versuch machten, die Sozialdemokratie für das Attentat verantwortlich zu machen, wies der offiziöse Hamburger Korrespondent in einem Artikel nach, daß binnen 78 Jahren 35 Meuchelmorde und Meuchelmordversuche gegen hervorragende politische Peinlichkeiten vorgekommen seien, und zwar von Angehörigen der verschiedensten Parteien. Die Anklage, der politische Meuchelmord sei am Holze der Sozialdemokratie gewachsen, sei unhaltbar. Auch im Reichstag faßte man den Vorgang zunächst noch so kühl auf, daß ein Antrag von uns auf Einstellung eines Strafverfahrens gegen Most am 14. Mai ohne jede Debatte angenommen wurde.

 

Bei seiner ersten Vernehmung bestritt Hödel, daß er auf den Kaiser habe schießen wollen, er habe vielmehr die Absicht gehabt, Selbstmord zu begehen als Zeichen der Erbärmlichkeit unserer Zustände, die ihn dazu genötigt hätten. Dafür sprach, daß, als er verhaftet wurde, er keinen Pfennig in der Tasche hatte und daß der Revolver, den er benutzte, ein elendes Ding war, der, wie der Büchsenmacher, der ihn untersuchte, feststellte, auf wenige Schritte sein Ziel verfehlen mußte. Es wurde weiter festgestellt, daß Hödel als uneheliches Kind seiner Mutter, die einen Lehmann geheiratet hatte, weshalb er sich auch zeitweilig Lehmann nannte, eine schlechte Erziehung genossen hatte. Man hatte ihm zwar das Hirn mit Katechismus- und Bibelsprüchen vollgepfropft, aber er konnte keinen Satz richtig schreiben. Außerdem wurde eine venerische Verseuchung bei ihm festgestellt. Als er zur Gerichtsverhandlung geführt wurde, betrat er blöde lachend den Gerichtssaal, und mit demselben Lachen verließ er ihn nach seiner Verurteilung. Einen Brief, den er an seine Eltern schrieb, unterzeichnete er: Max Hödel, Attentäter Sr. Majestät des Deutschen Kaisers. Festgestellt war auch worden, daß er von Jugend auf ein Lügner und Dieb war. Das ganze Benehmen des Mannes war, wie der Gerichtshof, der ihn nichtsdestoweniger zum Tode verurteilte, feststellte, das eines geistig und körperlich zerrütteten Menschen. Und wegen der Tat eines solchen Menschen sollte die deutsche Sozialdemokratie ans Kreuz geschlagen werden.

Hödel hatte den Rechtsanwalt Otto Freitag in Leipzig als Verteidiger gewünscht. Freitag erklärte sich auch bereit, die Verteidigung zu übernehmen, er verlangte aber die Zusendung der Akten und eine achttägige Frist zum Studium derselben und zur Vorbereitung der Verteidigung. Bezeichnenderweise wurde ihm beides abgeschlagen. Man hatte es sehr eilig mit Hödels Prozeß und Hinrichtung. Hödel erhielt jetzt einen Offizialverteidiger, der nichts Besseres zu tun wußte, als sich vor Gericht zu entschuldigen, daß ihn das Los getroffen habe, die Verteidigung eines Hochverräters übernehmen zu müssen. Hödels Kopf fiel unter dem Beil des Henkers. Als Professor Virchow bat, ihm den Kopf Hödels zur anatomischen Untersuchung zu überlassen, wurde ihm dieses verweigert.

Die Hinrichtungsurkunde mußte der Kronprinz Friedrich unterzeichnen, der die Stellvertretung des Kaisers übernommen hatte, nachdem dieser mittlerweile durch das am 2. Juni erfolgte Nobilingsche Attentat schwer verwundet worden war. Der Kronprinz hat dann während seiner Regentschaft kein einziges Todesurteil mehr unterzeichnet, obgleich sich unter den Verurteilten ein Doppelmörder befand. Auch noch andere Symptome sprachen dafür, wie anders er die ganzen Vorgänge auffaßte.