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Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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Der Parteikongreß in Gotha 1876

Für den Parteikongreß in Gotha – 19. bis 23. August – hatten wir als Tagesordnung festgesetzt:

„1. Die Tätigkeit der sozialistischen Abgeordneten; 2. Gang und Stand der sozialistischen Organisation in Deutschland; 3. die bevorstehenden Reichstagswahlen; 4. Feststellung der sozialistischen Kandidaturen; 5. die sozialistische Organisation in Deutschland; 6. die Parteipresse.“

Die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ lärmte gewaltig über diese Veranstaltung und drohte, man werde festzustellen suchen, ob dieser Kongreß nicht eine Gesetzesumgehung mit Hinblick auf die erfolgten Schließungen und Auflösungen sei. Indes an diese Drohungen kehrten wir uns nicht. Wir mußten zeigen, daß wir uns nicht einschüchtern ließen und entschlossen waren, jedes Mittel zu benutzen, das die Umstände uns zu ergreifen ermöglichten, um die gegen uns gerichteten Schläge zu parieren.

Geib und Hasenclever führten auf dem Kongreß wieder den Vorsitz. Anwesend waren 98 Delegierte, die aus 291 Orten 38254 Mandanten zu vertreten hatten. Liebknecht und ich konnten aus privaten Gründen erst am zweiten Tage der Verhandlungen erscheinen. Aus dem von Auer vorgetragenen Bericht ging hervor, daß die Einnahmen der Parteileitung vom 8. Juni 1875 bis 19. August 1876 sich auf 53973 Mark beliefen, denen eine Ausgabe von 54432 Mark gegenüberstand. Es war also ein kleines Defizit vorhanden, das durch den Ueberschuß des „Wähler“ in Höhe von 4330 Mark gedeckt wurde. Die Partei besaß zu jener Zeit 23 politische Organe und das neu gegründete Unterhaltungsblatt „Die Neue Welt“. Von den Organen erschienen acht sechsmal, acht drei-, vier zwei- und drei einmal wöchentlich. Zum erstenmal liefen auf einem deutschen Parteikongreß eine Reihe Zuschriften von sozialistischen Organisationen des Auslandes ein, in denen die Partei wegen ihrer tapferen Haltung beglückwünscht wurde. Ich war in der Lage, die Grüße einer internationalen Konferenz in Bern zu überbringen, der ich gelegentlich einer Geschäftsreise in der Schweiz beigewohnt hatte. Zum Zeichen brüderlicher internationaler Solidarität wurde beschlossen, für die in großer Not befindlichen Kommunards in geeigneter Weise Geld aufzubringen. Karl Hirsch erschien als Delegierter Pariser Arbeiter auf dem Kongreß. Ueber die Tätigkeit der Fraktion im Reichstag berichtete Hasenclever. Ich ergriff die Gelegenheit, um unsere Stimmenthaltung in der Diätenfrage zu rechtfertigen, die mehrfach angegriffen worden war. Molkenbuhr, der namens der Gegner unserer Abstimmung das Wort ergriff, behauptete, die Abstimmung habe uns in der Agitation geschadet, diese Taktik habe bei den Parteigenossen befremdend gewirkt. Die Fraktion müsse stets klare Stellung nehmen für oder gegen eine Vorlage und geschlossen stimmen. Nach längerer Debatte brachten A. Kapell und Dreesbach einen Antrag ein, wonach unsere Abstimmung in der Diätenfrage als unpraktisch erklärt werden sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Dagegen wurde ein Antrag Löwenstein angenommen, der vorschlug, über die Frage zur Tagesordnung überzugehen, denn es sei selbstverständlich, daß die sozialistischen Abgeordneten für Diätenzahlung seien und in vorliegendem Falle mit der Stimmenthaltung nur der Schwindel hätte konstatiert werden sollen, dessen sich ein Teil der liberalen Abgeordneten schuldig machte.

Die weiteren Verhandlungen zeigten, daß noch starke persönliche und sachliche Gegensätze in der neu geeinten Partei vorhanden waren, die jetzt zum Ausbruch kamen. So rief Frohme dadurch eine heftige Diskussion hervor, daß er die Anschuldigung erhob, verschiedene Parteiblätter und ebenso Liebknecht und ich hätten von Sonnemann-Frankfurt Geldunterstützungen bezogen. Es wurde festgestellt, daß kein Blatt genannt werden konnte, das von Sonnemann Geldunterstützung erhalten hatte, das gleiche galt von Liebknecht. Ich teilte mit, daß Sonnemann, der während meiner Haft sich wiederholt bereit erklärt habe, mir mit einem Darlehen zu helfen, falls ich solches für die Rehabilitierung meines Geschäfts nach meiner Haftentlassung bedürfe, mir ein solches in Höhe von 600 Taler gewährt habe, das ich mit 5 Prozent verzinste und in Raten zurückzahlte. Das sei um so unbedenklicher, da ich seit 1865 mit Sonnemann befreundet und die ganze Angelegenheit eine rein private sei. Sonnemann selbst hatte durch eine Indiskretion gegen einen Frankfurter Genossen den Fall in weitere Kreise getragen. Das Endresultat der Debatte war, daß ein Antrag von Bracke – der zum erstenmal seit Jahren wieder einen Kongreß besuchte – mit allen gegen sieben Stimmen angenommen wurde, der das gegen mich beliebte Vorgehen tadelte. Ich nahm Veranlassung, noch im Laufe des Jahres das Darlehen an Sonnemann zurückzuzahlen.

Eine weitere Debatte, die zeitweilig ebenfalls einen heftigen Charakter annahm, wurde durch die Frage herbeigeführt, ob fernerweit zwei offizielle Organe („Der Neue Sozialdemokrat“ in Berlin und „Der Volksstaat“ in Leipzig) bestehen sollten oder eines und welches dazu ernannt werden sollte. Schließlich wurden 49 Stimmen für Leipzig und 38 Stimmen für Berlin abgegeben, 6 Delegierte enthielten sich der Abstimmung. Darauf wurde weiter beschlossen, das Zentralorgan solle vom 1. Oktober ab unter dem Namen „Vorwärts“ erscheinen, und zwar dreimal wöchentlich. Lebhafte Erörterung rief alsdann die Wahl der beiden Redakteure hervor. Hasselmann, der der Vereinigung nie grün war, erklärte, unter keinen Umständen nach Leipzig überzusiedeln und verzichtete auf eine Redakteurstelle. Auf Vorschlag Geibs erklärte sich Hasenclever bereit, neben Liebknecht die Redaktion zu übernehmen. Des weiteren kam man überein, nachdem die Partei in Preußen aufgelöst war, an Stelle des Parteivorstandes in Hamburg ein Zentralkomitee zu setzen, in das Auer, Brasch, Derossi, Geib und Hartmann eintraten. Auf meinen Antrag wurde das Gehalt des Sekretärs auf 150 Mark, des Kassiers auf 105 Mark und der beiden Beisitzer auf je 45 Mark monatlich festgesetzt.

Im weiteren beschäftigte sich zum erstenmal ein Parteikongreß mit der Stellungnahme zu wirtschaftlichen Tagesfragen. Die industrielle Krise, die mit dem Jahre 1874 einsetzte und sich mit jedem Jahre mehr verschärfte, hatte einen vollständigen Umschwung in den Kreisen der Industriellen über die Frage: Schutzzoll oder Freihandel? herbeigeführt und schließlich auch in den landwirtschaftlichen Kreisen, die seit Jahrzehnten die Hauptstützen des Freihandelssystems bildeten, Anhang gefunden. In erster Linie waren es die Eisenindustriellen, die über die beschlossene Aufhebung der Eisenzölle, die vom 1. Januar 1877 ab eintreten sollte, schon Jahre zuvor in Aufregung gerieten und dagegen kämpften. Ihnen schlossen sich andere Industrielle, namentlich die Baumwollindustriellen an. Und da durch die jetzt sich immer bemerkbarer machende amerikanische Getreidekonkurrenz auch die Getreidepreise nicht die erwünschte Höhe behielten, sondern sanken, schwenkten die ostelbischen Getreideproduzenten, die ihren Absatz nach dem Ausland unter der amerikanischen Konkurrenz immer mehr einbüßten und diese Konkurrenz selbst im eigenen Lande verspürten, ins schutzzöllnerische Lager ab. Diese Umwandlung in den Anschauungen weiter Kreise über Freihandel und Schutzzoll mußte notwendig auch in den Parteikreisen Beachtung finden. So erklärten sich im Laufe der Jahre namentlich Auer, Fritzsche und Max Kayser für eine mehr oder weniger ausgeprägte Schutzzollpolitik. Der Kongreß konnte also nicht umhin, zu der veränderten Strömung Stellung zu nehmen; er tat dies allerdings in einer Weise, die unbefriedigend war und eine gewisse Unklarheit verriet. Auf Antrag von Bracke, Frick, Fritzsche, Grillenberger, Hasselmann, Liebknecht und Most nahm der Kongreß ohne jede Debatte eine Resolution an, in der es hieß: Die Sozialisten Deutschlands stehen dem innerhalb der besitzenden Klassen ausgebrochenen Kampfe zwischen Schutzzoll und Freihandel fremd gegenüber; die Frage, ob Schutzzoll oder nicht, ist nur eine praktische Frage, die in jedem einzelnen Falle entschieden werden muß; die Not der arbeitenden Klassen wurzelt in den allgemeinen wirtschaftlichen Zuständen, doch sind die bestehenden Handelsverträge seitens der Reichsregierung ungünstig für die deutsche Industrie abgeschlossen und erheischen eine Aenderung. Die Parteipresse wurde aufgefordert, die Arbeiter davor zu warnen, für die unter dem Verlangen nach Schutzzoll eine Staatshilfe erstrebende Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Und da zu jener Zeit auch die Frage aufgetaucht war, ob Privat- oder Staatseisenbahnen, und Bismarck die Monopolisierung der Bahnen durch das Reich erstrebte, nahmen die beantragten Resolutionen auch zu dieser Frage Stellung. Der Kongreß sprach sich für die Verstaatlichung der Eisenbahnen aus, aber gegen das Reichseisenbahnprojekt, weil dieses letztere bestimmt sei, die Interessen des Klassen- und Militärstaats zu fördern, und die Einnahmen zu unproduktiven Zwecken verwendet werden sollten, wodurch das Reich ein neues Gewicht im volksfeindlichen Sinne erlangte und den Börsenjobbern große Summen vom Volkseigentum zugespielt würden.

Ueber den Verlauf des Kongresses schrieb der weiche und gemütvolle Bracke, der die mancherlei Unbill, die man ihm nach seinem Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von jener Seite hatte angetan, noch nicht vergessen konnte, in einem Briefe vom 31. August an Friedrich Engels:

„Die Verhandlungen waren famos, die Angelegenheit Frohme-Sonnemann, dann die Abstimmung über die Diäten, dann die Frage, ob das Zentralorgan nach Berlin oder Leipzig kommen solle, das waren die drei Hauptpositionen; die Lassalleaner hatten ernstlich geglaubt, die Bewegung in ihre Hände zu bekommen, jedenfalls waren sie ihres Sieges in der Organisation sicher. Und dazu hatten sie allen Grund. Auf einer in Berlin stattgehabten Konferenz hatte Ramm-Leipzig (der Leiter der Leipziger Parteibuchdruckerei. A.B.) der Verlegung nach Berlin zugestimmt, und Geib, der sich allein sah, machte dann keine Opposition mehr. Bebel aber und ich, sowie Auer erklärten die Verlegung für ganz unmöglich, wir fanden auch viele Zustimmung und erweckten Liebknecht und Geib und andere zu neuem Leben. Die Schlacht wurde dann auch glorreich geschlagen. Nachdem in der Angelegenheit Sonnemann und in der bezüglich der Diäten der Sieg auf unserer Seite gewesen, setzten die Lassalleaner, denen nun doch das wirtschaftliche Interesse des Berliner Unternehmens zu Hilfe kam, alles daran. Die Erregung auf beiden Seiten war groß; es wurde eine regelmäßige parlamentarische Schlacht geschlagen. Zuerst waren 42 Redner eingezeichnet, voran außer Bebel lauter Berliner. Wir brachten durch passende Anträge diese Liste zu Fall, kamen, da die Gegner das nicht erwartet, dann unsererseits zuerst auf die Liste und konnten nun großmütig sein, wobei uns schließlich Richter-Wandsbeck noch einen großen Dienst leistete. Die Erregung war außerordentlich, jedes Mittel wurde von beiden Seiten benutzt. Die Gegner aber ließen sich von ihrer Erregung hinreißen, polterten hitzig hervor, um die fünfminutige Redezeit auszunutzen, während wir ruhig blieben und durchweg langsam und gemessen sprachen. Das Resultat ist Ihnen begannt. Liebknecht und Bebel waren famos.

 

Daß Hasenclever sich schließlich von Geib breitschlagen ließ, ans Zentralblatt nach Leipzig zu gehen, vollendete den Sieg, da man sonst mit Frick-Bremen gesagt habe würde: Das neue Blatt ist nur das Organ der Herren Bebel und Liebknecht. Damit ist die Einheit besiegelt….“

Hasselmann gab zum 1. Oktober 1876 seine Stellung an der „Berliner Freien Presse“ auf und zog sich nach Barmen-Elberfeld zurück, woselbst er die Redaktion der „Bergischen Volksstimme“ übernahm und ein neues Organ, „Die rote Fahne“, das angeblich nur als Flugblatt erscheinen sollte, ins Leben rief. Es zeigte sich aber bald, daß Hasselmann mit der Gründung dieses Blattes separatistische Ziele verfolgte, was ihn in eine schiefe Stellung zur Partei und zum Zentralwahlkomitee brachte und auf dem nächstjährigen Parteikongreß wieder zu unerquicklichen Debatten führte.

Der Wahlkampf 1876 bis 1877

Mit einem Aufruf, datiert vom 12. Oktober 1876, eröffnete das Zentralwahlkomitee den Wahlkampf. Auf seinen und vieler Genossen Wunsch hatte ich wiederum eine Broschüre, betitelt: „Die parlamentarische Tätigkeit des deutschen Reichstags und der Landtage von 1874 bis 1876“, verfaßt. Die Schrift erschien diesmal unter meinem Namen in der Genossenschaftsbuchdruckerei zu Berlin, also unter den Augen Tessendorfs, der diesen Umstand, wie ich bald genug zu meinem Schaden erfuhr, gebührend ausnützte.

Am 30. Oktober trat der Reichstag zu seiner letzten Session zusammen. Diese konnte aber nur kurz sein, und da Gesetzentwürfe von besonderem Interesse für uns nicht vorlagen, befaßten wir uns mit den parlamentarischen Verhandlungen nur wenig, aber um so mehr mit der Wahlagitation, die mich in jenen Wochen von Leipzig nach Köln, von dort nach Königsberg i.Pr. und von hier nach Breslau usw. führte. In Königsberg mußte ich an zwei Abenden in überfüllten Versammlungen sprechen, weil die Diskussion, die mein Vortrag hervorgerufen hatte, erst am zweiten Abend zu Ende geführt werden konnte. In der ersten Versammlung war auch Johann Jacoby anwesend, den man zum Ehrenvorsitzenden der Versammlung ernannt hatte. Ich lernte erst jetzt Jacoby persönlich kennen. Der kaum mittelgroße Mann, der offensichtlich in seinem ganzen Wesen zurückhaltender Natur war und nur durch die Verhältnisse gezwungen sich zu einem demonstrativen Eingreifen in die öffentlichen Angelegenheiten herbeiließ, machte auf mich einen ungemein günstigen Eindruck. Ich hatte ihn vor der ersten Versammlung in seiner Wohnung besucht, wobei er mich in seinem sehr geräumigen Arbeitszimmer empfing, dessen Regale und Schränke bis an die Decke mit Büchern vollgepfropft waren. Ich beneidete ihn um diesen ideal ausgestatteten Raum, der in seiner behaglichen Einrichtung zum Arbeiten geradezu einlud. Jacoby starb im nächsten Frühjahr infolge einer Steinoperation; im Oktober des vorhergehenden Jahres war ihm Franz Ziegler im Tode vorausgegangen.

* * * * *

Nach Leipzig zurückgekehrt, ließ ich eine Volksversammlung einberufen mit der Tagesordnung: „Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum Sozialismus.“ Obgleich wir den größten Saal Leipzigs zur Verfügung hatten, faßte er nicht die Masse der herbeiströmenden Zuhörer, von denen viele wieder wegen Mangel an Raum umkehren mußten. Die Frauen waren sehr zahlreich vertreten. Ich setzte ihnen unter anderem auseinander, welch lebhaftes Interesse auch sie an den bevorstehenden Reichstagswahlen nehmen müßten; da sie aber vorläufig kein Wahlrecht besäßen, sei es ihre Aufgabe, agitatorisch in den Wahlkampf einzugreifen und ihre Männer und wahlberechtigten männlichen Verwandten für die Beteiligung an der Wahl anzutreiben, und zwar zugunsten der Sozialdemokratie, die für ihre volle politische und soziale Gleichberechtigung eintrete. Die Versammlung verlief nach Wunsch; es war die erste Versammlung, in der die Frauen zur politischen Beteiligung bei einer Wahl aufgefordert wurden.

Von Leipzig eilte ich nach Dresden zur Agitation, woselbst ich als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Die organisierten Genossen im 17. sächsischen Wahlkreis Glauchau-Meerane, in dem ich ebenfalls wieder kandidierte, hatten bereits im voraus erklärt, sollte ich auch in einem zweiten Wahlkreis gewählt werden, so seien sie zu einer Neuwahl an meiner Stelle bereit, denn daß sie im 17. Wahlkreis wieder siegen würden, sah alle Welt als selbstverständlich an. Und so geschah es.

In Dresden erhielt ich zunächst die relative Mehrheit unter den aufgestellten drei Kandidaten. Ich kam mit dem Kandidaten der Liberalen, Professor Maihoff, in engere Wahl und siegte über diesen mit 10837 gegen 9920 Stimmen. Als mir am Tage nach der Wahl die Depesche, die meinen Sieg meldete, zuging – ich hatte gebeten, am Wahltagabend mir das Wahlresultat nicht zu telegraphieren —, fragte ich meine Frau, ob wir noch eine Flasche Wein im Keller hätten, und als sie dies bejahte, äußerte ich: Gut, dann wollen wir sie heute mittag auf das Wohl meiner Dresdener Wähler trinken. Darauf meinte mein Töchterchen, das dieser Unterhaltung beigewohnt hatte: Papa, wird Herr Professor Maihoff heute mittag auch eine Flasche Wein trinken? Ich gab lachend zur Antwort: Das wüßte ich nicht, ich kennte nicht den Geschmack des Herrn Professors. An meine Stelle im 17. Wahlkreis wurde nunmehr Wilhelm Bracke gewählt.

Der Ausfall der Wahlen war für uns ein sehr günstiger. Hasselmann war zwar in Barmen-Elberfeld mit 14245 gegen 14485 Stimmen unterlegen, aber der benachbarte Solinger Kreis schickte Rittinghausen mit 10636 gegen 7453 Stimmen in den Reichstag, und beinahe wäre auch Grillenberger in Nürnberg gewählt worden, der mit 12089 gegen 12625 Stimmen seinem Gegner unterlag. Die Partei war bei 24 Stichwahlen beteiligt. Gewählt wurden 12 Abgeordnete: Auer, Blos, Bracke, der Hofbaurat Demmler-Schwerin im 13. sächsischen Wahlkreis Leipzig-Land, Fritzsche, Hasenclever, A. Kapell, Liebknecht, Most, Motteler, Rittinghausen und ich.

Wie der alte Demmler uns gelegentlich erzählte, hatte er die Gepflogenheit, wenn er auf längere Zeit Schwerin verließ, sich bei dem Großherzog von Mecklenburg, als dessen ehemaliger Hofbaumeister er das prachtvolle Schweriner Schloß gebaut hatte, zu verabschieden. So auch dieses Mal, als er die Reise nach Berlin zum Reichstag antrat. Bei dieser Gelegenheit hatte der Großherzog geäußert: „Ich wünsche Ihnen glückliche Reise, aber lieber Demmler – und dabei erhob er lächelnd drohend den Finger —, machen Sie es in Berlin nur nicht zu arg.“ Hier sei bemerkt: Demmler hatte den Schweriner Schloßbau ohne Meister allein durch Vertrag mit den Arbeitern gebaut und war mit dem erzielten Resultat sehr zufrieden.

Am 2. Februar schrieb ich an den Parteigenossen Schlüter in Dresden, der Expedient unseres dortigen Parteiorgans war, daß ich dem Wahlkommissar die Annahme der Dresdener Wahl mitgeteilt hätte, und bemerkte dazu:

„Es amüsiert mich, daß es gerade neunzehn Jahre waren, seitdem ich als Handwerksbursche in die Fremde ging, natürlich ohne eine Ahnung, daß ich neunzehn Jahre später auf denselben Tag an einen Wahlkommissar meine Erklärung für die Annahme des Reichstagsmandats für die sächsische Residenz abschicken würde. Der alte Napoleon äußerte einmal, jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister, heute könnte man sagen: jeder Handwerksbursche trägt ein Reichstagsmandat im Berliner. Es geht vorwärts. Unsere Freunde, die Feinde, sollen leben.“

Und die letzteren machten zu dem Wahlausfall böse Gesichter, denn weit mehr als die paar gewonnenen Mandate lag ihnen das starke Wachstum der gewonnenen Stimmen in den Gliedern. Die Stimmenzahl der Partei war von 351670 im Jahre 1874 auf 493447 gestiegen, die wir jetzt im Januar 1877 auf unsere Kandidaten vereinigten. Das war ein Mehr von 141777 Stimmen gleich 36 Prozent. In Sachsen hatten wir die relative Mehrheit der Stimmen erhalten, 124600 von 318740.

Das System Tessendorf, das allmählich über die Grenzen Preußens hinaus in den meisten Mittel- und Kleinstaaten Schule gemacht hatte, war also, wie der Wahlausfall zeigte, elend zusammengebrochen. Und wenn nunmehr auch das Wüten gegen die sozialdemokratische Presse und die sozialdemokratischen Organisationen von neuem losging und gegen die Vertreter der Partei Urteile gefällt wurden eins drakonischer als das andere, auch das half nicht. Es half auch nichts, als Bismarck, vom Glück begünstigt, endlich erhielt, wonach er lange gelechzt, ein schneidiges Ausnahmegesetz gegen die ihm verhaßte und doch so gefürchtete Partei.

Der Reichstag 1877

In der am 22. Februar eröffneten Reichstagssession spielten die sozialen Fragen eine hervorragende Rolle. Das ständige Steigen der sozialdemokratischen Stimmen hatte namentlich das Zentrum beunruhigt, das jetzt zum ersten Male unter der Firma des Grafen Galen und Genossen einen Gesetzentwurf einbrachte, der ganz dem sozialpolitischen Eiertanz entsprach, dem von jetzt ab das Zentrum in immer stärkerem Maße huldigte. Bisher hatte sich das Zentrum den sozialen Fragen gegenüber durchaus zurückhaltend benommen. Der Gesetzentwurf sollte sowohl den Kleingewerbetreibenden wie den Arbeitern eine Verbesserung ihrer Lage bringen. Fritzsche und ich hatten diesem gegenüber einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der eine Aenderung wichtiger Bestimmungen in den Titeln 1, 2, 7, 9 und 10 der Gewerbeordnung zugunsten der Arbeiter verlangte, dem die Fraktion ihre Zustimmung erteilte. Der Gesetzentwurf forderte eine Regelung der Gefängnisarbeit, wonach diese auf Arbeiten für den Staat beschränkt werden sollte. Weiter wurde gefordert: Verbot der industriellen Sonntagsarbeit; wo ein solches Verbot unmöglich sei, sollte dem Arbeitspersonal ein freier Tag in der Woche gewährt werden müssen; ein Normalarbeitstag von neun Stunden; für Arbeiterinnen, Arbeiter unter achtzehn Jahren und Lehrlinge ein solcher von acht Stunden; Verbot der Nachtarbeit; wo solches durch die Natur des Betriebs unmöglich sei, solle ein achtstündiger Schichtwechsel eingeführt werden. Die Schonzeit der Schwangeren und der Wöchnerinnen sollte entsprechend verlängert werden. Für jede Arbeitsstätte sollte eine Arbeitsordnung eingeführt werden, deren Bestimmungen zwischen Unternehmern und Arbeitern zu vereinbaren seien. Ferner wurde gefordert: die Aufhebung der Arbeitsbücher auch für die Bergarbeiter; die Ausfüllung von Zeugnissen sollte nur auf Verlangen des Arbeiters erfolgen können; Festsetzung gleicher Kündigungsfristen für beide Teile, Truckverbot, strengere Schutzmaßregeln für Arbeiterinnen und Lehrlinge; die Einführung von Gewerbekammern und Gewerbegerichten; eine Reichsarbeitsinspektion sollte unter Leitung und Kontrolle des Reichsgesundheitsamts eingeführt werden. Endlich verlangten wir Sicherung und Erweiterung des Koalitionsrechts.

Die Debatte über die gleichzeitig zur Beratung gestellten Gesetzentwürfe des Zentrums und unserer Partei leitete von seiten der Fraktion Fritzsche ein. Die Debatte wuchs sich zu einer Sozialistendebatte aus, die mir Gelegenheit gab, die erhobenen Vorwürfe mit aller Schärfe zurückzuweisen und die von den Zentrumsrednern vertretene sogenannte christliche Weltanschauung gebührend zu kritisieren. Meine Rede machte großen Eindruck. Der Leipziger Buchdruckergehilfenverein ließ mir in einem besonderen Abdruck ein Exemplar derselben in einem feinen Einband überreichen.

 

Ein praktisches Resultat hatte die Beratung der Anträge nicht.

In der Sitzung vom 24. April erklärte der Reichstag Hasenclevers Wahl im sechsten Berliner Wahlkreis, die mit dreißig Stimmen Mehrheit erfolgt war, für ungültig, weil seltsamerweise eine Wählerliste aus Versehen in einem Wahlbezirk verheftet gewesen sei, so daß eine Anzahl Wähler nicht hätten wählen können. Die Fortschrittspartei hoffte bei einer Nachwahl den sechsten Wahlkreis wieder erobern zu können; sie täuschte sich. Wir warfen uns mit aller Energie in die Wahlagitation, und so siegte jetzt Hasenclever mit einem Mehr von über tausend Stimmen.

Bei einer Verhandlung über die Eisenzollfrage hielt Bracke eine gute Rede über Schutzzoll und Freihandel, als es aber zur Abstimmung kam, stimmte die Fraktion geteilt, eine Minorität stimmte für den Zoll.

Der Versuch, eine andere Fassung des § 46 der Geschäftsordnung herbeizuführen, um der fortdauernden Willkür bei der Stellung von Schlußanträgen ein Ende zu machen, mißlang. Der Antrag kam nicht mehr zur Verhandlung. Dagegen genehmigte der Reichstag den Antrag auf Einstellung eines Strafverfahrens gegen mich. Tessendorf hatte bei dem Berliner Stadtgericht wegen meiner Reichstagsbroschüre die Erhebung der Anklage gegen mich beantragt, und zwar wegen mehrfacher Beleidigung des Reichskanzlers und Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuches. Dieser Paragraph lautet: „Wer erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.“ Bei einer Haussuchung, die auf Antrag Tessendorfs am 12. Januar in der Expedition der „Berliner freien Presse“ vorgenommen wurde, waren nur noch 12 Exemplare meiner Schrift gefunden worden, die beschlagnahmt wurden.