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Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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„Ich hatte erst geglaubt, Bebel würde zu einem entschiedenen Vorgehen geneigt sein, aber einesteils seine angegriffene Gesundheit und die notwendige geschäftliche Rehabilitierungsarbeit, anderenteils dringende Bitten von Liebknecht scheinen ihn abgehalten zu haben.“

Es waren nicht allein Liebknechts Bitten, die mich veranlaßten, meiner Unzufriedenheit über den Programmentwurf keinen öffentlichen Ausdruck zu geben, es war das Drängen von allen Seiten: ich möge durch mein Auftreten es nicht zu einem Eklat treiben und damit vielleicht die Vereinigung unmöglich machen.

Diesem Verlangen gab ich nach, denn die Vereinigung lag auch mir am Herzen. Ueberdies war das Drängen nach Vereinigung in der Partei so stark, daß alle Rücksichten auf programmatische Bedenken schweigen mußten. Schließlich konnten die gemachten Fehler später repariert werden.

* * * * *

Die Einigungsbestrebungen unter der Führerschaft wurden wesentlich gefördert durch den Wiederzusammentritt des Reichstags, der die längere Anwesenheit der Abgeordneten in Berlin gebot. Die Session wurde am 29. Oktober 1874 eröffnet, aber schon am 30. Januar geschlossen. Die Beteiligung unserer Vertreter an den Verhandlungen war keine lebhafte. Die Verhandlungen über die Einigung der Partei nahmen das Interesse der Abgeordneten mehr in Anspruch als die Beratungen des Reichstags, obgleich denselben wichtige Vorlagen beschäftigten. So war unter anderen der Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Straf- und einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden und ein Gesetzentwurf über den Landsturm, zu dem später Liebknecht und Hasselmann das Wort nahmen.

Selbstverständlich wurde wieder der Antrag auf unsere Beurlaubung aus der Haft während der Dauer der Session eingebracht, der diesmal Hasenclever, Most und mich umfaßte. Zu der Begründung des Antrags nahm Liebknecht das Wort, der sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, die Prozesse, die unsere Verurteilung herbeigeführt, unter die Lupe zu nehmen und die Urteile gründlich zu zerzausen. Besonders nachdrücklich sprach er sich über die unwürdige Behandlung aus, die damals Most in Plötzensee zuteil wurde.

Nach Liebknecht nahm Windthorst das Wort, der sich ebenfalls lebhaft über die Behandlung politischer Gefangener aus dem Lager der Althannoveraner beklagte. Dem Antrag auf unsere Freilassung könne er aber in Rücksicht auf den Inhalt des Artikel 31 der Verfassung nicht zustimmen, er wünsche aber, daß, wenn ein in Gefangenschaft befindlicher Abgeordneter einen Antrag auf seine Beurlaubung stelle, die Regierungen auf einen solchen Antrag bereitwillig eingingen und der Herr Reichskanzler dafür eintrete. Bismarck nahm darauf das Wort und bemerkte spöttisch, der „Herr Reichskanzler“ werde im vorliegen den Falle dafür eintreten, daß der Verhaftete beurlaubt werde, wenn er darum bitte, denn Reden wie die der beiden Vorredner habe man lange nicht im Reichstag gehört, sie seien außerordentlich lehrreich und fehlten uns seit langem. (Heiterkeit.) Der Reichstag ahnte nicht, daß er auf Grund des ablehnenden Beschlusses, den er, ähnlich wie früher, faßte, in Bälde in eine unangenehme Situation gebracht wurde. Die Verhandlungen über den Antrag Liebknecht und Genossen waren am 21. November gewesen, aber bereits am 12. Dezember sah sich der Abgeordnete Lasker, unterstützt durch die Abgeordneten v. Bennigsen, Schenk v. Stauffenberg, v. Forckenbeck, Dr. Hänel, Windthorst, v. Denzin, Dr. Schwarze und Fürst Hohenlohe-Langenburg – also den Vertretern sämtlicher bürgerlichen Parteien —, genötigt, den Antrag zu stellen:

„Mit Rücksicht darauf, daß die am gestrigen Tage erfolgte Verhaftung des Reichstagsmitglieds Herrn Majunke infolge eines rechtskräftigen Strafurteils glaubhaft berichtet wird, die Geschäftsordnungskommission mit schleuniger Berichterstattung darüber zu beauftragen: 1. Ob nach Artikel 31 der deutschen Reichsverfassung die Verhaftung eines Reichstagsmitglieds während der Session des Reichstags ohne Zustimmung des letzteren verfassungsmäßig zulässig ist; 2. ob und welche Schritte zu veranlassen sind, um einer Verhaftung von Mitgliedern des Reichstags infolge eines rechtskräftigen Strafurteils während der Session des Reichstags ohne Zustimmung desselben vorzubeugen.“

Der Antrag, in dessen Beratung das Haus sofort eintrat, war lächerlich. War, wie das Haus wiederholt und zuletzt erst am 21. November entschieden hatte, der Artikel 31 der Verfassung auf die Strafhaft von Abgeordneten nicht anwendbar, dann hatten die zuständigen Behörden auch das unbestreitbare Recht, einen Abgeordneten während der Session in Strafhaft zu nehmen. Nun hatte der Fall des Abgeordneten Majunke, der als Redakteur der „Germania“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, ungeheures Aufsehen erregt. Es war auch unzweifelhaft, daß seine Verhaftung kurz vor Beginn einer Reichstagssitzung nicht ohne Bismarcks Zustimmung erfolgte. Denn tatsächlich war das Urteil schon seit dem 23. September rechtskräftig, man konnte also mit der Verhaftung Majunkes ohne Schaden für die Rechtspflege auch bis zum Schluß der Session, Ende Januar, warten, nachdem man es unterlassen, ihn vor Beginn der Session in Haft zu nehmen. Aber das wollte Bismarck nicht. Er wollte offenbar dem Zentrum für die Debatte am 4. Dezember einen Denkzettel geben; daß damit auch der Reichstag moralisch geohrfeigt wurde, der sich diesen Streich auf Grund seiner eigenen Beschlüsse gefallen lassen mußte, war ihm sehr gleichgültig. Er fand es auch nicht einmal der Mühe wert, sich zur Verhandlung einzustellen. Der Antrag Lasker wurde also der Geschäftsordnungskommission überwiesen, die aber, wie vorauszusehen war, sich über keinen Antrag zu einigen vermochte und in einigen Tagen mit leeren Händen vor das Haus trat. Hier nahm die Debatte denselben kläglichen Verlauf. Eine Reihe Anträge, die gestellt wurden, lehnte stets irgend eine Mehrheit ab. Der Ausgang der Sache war für den Reichstag so blamabel wie möglich.

Ich erwähnte die Debatte vom 4. Dezember als Grund für den Racheakt Bismarcks gegen Majunke. In jener Sitzung hielt der katholische Sozialpolitiker Jörg eine Rede über Bismarcks auswärtige Politik und die Nichteinberufung des Bundesratsausschusses für die Kontrolle dieser Politik. Bismarck, erbittert über einen Hirtenbrief der französischen Bischöfe, von denen mehrere zu jener Zeit auch elsaß-lothringische Reichsangehörige zu ihren Diözesanen zählten, worin die Bischöfe sich über die deutschen Kulturkampfmaßregeln mißbilligend äußerten, hatte eine Zirkulardepesche an die Gesandten des Reiches versendet, in der er ausführte: Sollte sich herausstellen, daß es für das Deutsche Reich nicht möglich sei, mit dem westlichen Nachbarn in einem dauernden Frieden zu leben, dann werde man nicht abwarten, bis die Franzosen vollkommen zum Losschlagen gerüstet seien, sondern werde den geeigneten Moment selbst wählen und die Initiative ergreifen. Das war eine Drohung mit Krieg, die große Beunruhigung hervorrief. Nach einem Bismarckschen Wort in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ erhielt die Depesche die historische Bezeichnung: die Kaltwasserstrahldepesche. Jörg sah in diesem Vorgehen Bismarcks eine unverantwortliche Handlungsweise, die leichtherzig das Reich großen Gefahren aussetzte. Auch beschwerte er sich darüber, daß man das Zentrum für das Attentat Kullmanns, das dieser an Bismarck im verflossenen Sommer in Kissingen begangen hatte, verantwortlich mache. Jörg bezeichnete Kullmann als einen Halbverrückten, für den das Zentrum keine Verantwortung übernehme. Bismarck ging darauf in einer sehr aggressiven Rede gegen das Zentrum los. Mit Hinweis auf das Geständnis, das Kullmann ihm, Bismarck, im Gefängnis gemacht, daß er durch Lesen der Zentrumspresse zu dem Attentat bestimmt worden sei, erhob er die Beschuldigung, das Zentrum trage an dem Attentat die Mitschuld, Kullmann hänge ihm an den Rockschößen. Diese Worte riefen einen ungeheuren Lärm hervor, aus dem wiederholte Pfuis ertönten, die man aus der Mitte des Zentrums Bismarck entgegenschleuderte. Der Hauptrufer im Streit war der spätere Präsident des Reichstags, Graf Ballestrem.

Diesen Vorgang hatte Bismarck nicht vergessen, denn eine Haupteigenschaft seiner Berserkernatur war, ein guter Hasser zu sein.

Mit seinem Hasse hat er mir immer imponiert, dagegen mißfiel mir im höchsten Grade die kleinliche und gehässige Art, wie er seinem Hasse Befriedigung verschaffte. Hier war ihm jedes Mittel recht.

In dieser Session trugen wir unerwartet einen Erfolg davon. Most hatte sich in einer Petition beschwerdeführend über seine Behandlung in Plötzensee an den Reichstag gewendet und eine gesetzliche Regelung der Strafhaft beantragt. Die Petitionskommission, die darüber Bericht zu erstatten hatte, konnte sich der Berechtigung der Mostschen Klagen nicht entziehen. Bei der Verhandlung im Plenum, in der Liebknecht ebenfalls das Wort nahm, wurde der folgende Antrag der Kommission mit großer Mehrheit angenommen:

„Die Petition dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen, dahin zu wirken, daß in denjenigen Bundesstaaten, in welchen die Strafvollstreckung bislang nicht durch Gesetz geregelt ist, insbesondere im Königreich Preußen, von den Bundesregierungen schleunigst der Strafvollzug und das Gefängniswesen in einer Weise geordnet wird, daß dadurch der Vollzug der Strafen, namentlich der Gefängnisstrafen, im Sinne des Strafgesetzbuchs, insbesondere des § 16 desselben, sichergestellt wird;

den Herrn Reichskanzler ferner zu ersuchen, bei der königlich preußischen Regierung dahin zu wirken, daß der § 23 der Instruktion vom 24. Oktober 1837, der Justizministerialerlaß vom 24. November 1851 (5c) und § 37 der Hausordnung für das Strafgefängnis bei Berlin, als mit dem § 16, Alinea 2, des Strafgesetzbuchs in Widerspruch stehend beseitigt werden.“

 

Meine Freilassung am 1. April 1875 – dem Geburtstag Bismarcks – nach einunddreißigmonatiger Haft, war nicht nur ein Freudentag für meine Familie und mich. Es gingen mir von allen Seiten aus der Partei eine solche Menge Glückwünsche in Briefen und Depeschen zu, daß ich sagen darf, auch ein großer Teil der Partei betrachtete den Tag als einen Freudentag.

Für den 11. April hatte mein Wahlkreis eine große Empfangsfeier in Glauchau veranstaltet, die ich mit meiner Familie besuchte. In der Rede, die ich hielt, sagte ich mit Bezug auf die bevorstehende Vereinigung: „Ich begrüße mit voller Freude die Mitglieder der anderen Fraktion, die uns oft von dieser Stelle aus als Gegner gegenüberstanden; wir gehen fortan nicht nur friedlich nebeneinander, wir kämpfen jetzt schon gemeinsam miteinander für das hohe Ziel, dem wir zustreben. In Bälde werden wir aber vereinigt sein in einem gemeinsamen Verband. So heftig wir uns früher bekämpft, nunmehr werden wir um so gestärkter, mutiger und furchtloser gegen den gemeinsamen Feind vorgehen. Der Erfolg wird nicht ausbleiben.“ Die Stimmung auf dem Feste war die denkbar beste, alle waren im Hinblick auf die stattgehabte Versöhnung wie von einem Alp befreit. Im Juli folgten die Meeraner Genossen ebenfalls mit einem großen Feste und später Hohenstein-Ernstthal.

Moritz Heß erlebte die Vereinigung nicht mehr. Er starb im April in Paris. Karl Hirsch hielt die Leichenrede. In demselben Monat starb auch Georg Herwegh, der sich seit Lassalles Tod der Partei ferngehalten hatte, und zwar in Baden-Baden. In demselben Jahre sah sich die „Frankfurter Zeitung“ veranlaßt, eine Sammlung für den ehemaligen „Zuchthäusler“ August Röckel zu veranstalten, der in größter Not in Wien lebte.

Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes

Das Einigungswerk

Der Vereinigungskongreß war auf den 25. Mai 1875 und die folgenden Tage von dem vorberatenden Komitee einberufen worden. Nach jahrelangen gegenseitigen erbitterten Kämpfen standen sich jetzt die bisher feindlichen Brüder zu gemeinsamem Werke Auge in Auge gegenüber. Daß man sich nicht gleich brüderlich umarmte, sondern zum Teil noch immer mißtrauisch betrachtete, wer wird sich darüber wundern? Es bedurfte noch großer gegenseitiger Rücksichtnahme und gegenseitig einer Behandlung, als habe man es mit rohen Eiern zu tun, sollte es nicht zum Aufeinanderplatzen der noch vorhandenen persönlichen und sachlichen Gegensätze kommen. Neugierig und gespannt blickten unsere gemeinsamen Gegner in jenen Tagen nach Gotha, ob das Vereinigungswerk gelinge. Und es gelang nach einigen kleinen Reibereien über Erwarten und trug seine Früchte.

Auf dem Kongreß waren 25659 Parteigenossen durch 127 Delegierte vertreten. Davon entfielen auf den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein 16538 Mitglieder mit 71 Delegierten, auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 9121 Mitglieder mit 56 Delegierten.

Die Versammlung eröffnete W. Bock-Gotha im Namen des Lokalkomitees und begrüßte die Anwesenden. Bock war einer der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach, und nun legte er zum zweiten Male mit Hand ans Werk zur Gründung der neuen, größeren Partei.

Zu Vorsitzenden des Kongresses wurden Geib und Hasenclever gewählt. Bei der Mandatprüfung erklärte ich mich für die Zulassung einer kleinen Vereinigung von Lassalleanern in Leipzig, die sich vom Hauptverein abgesplittert hatte. Solle Vereinigung sein, so ganze. Auer widersprach. Mein Antrag fiel, doch ließ man den Vertreter der Sekte mit beratender Stimme zu. Ich hatte also halb gesiegt. Weiter war von Breslau der Antrag gestellt, die beiden Fraktionen sollten vor Eintritt des Gesamtkongresses in die Beratung ihre Separatkongresse abhalten, um ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Dagegen erklärte sich Auer. Diese könnten ebensogut nach dem allgemeinen Kongreß abgehalten werden. Die Eisenacher brauchten dazu einen Tag. Deren Abrechnungen stimmten, wie die anwesenden Delegierten bezeugen würden. Der Kongreß finde nach getroffenen Vereinbarungen der Vertreter der beiden Parteien statt. Hintergedanken habe niemand gehabt. Bei den Eisenachern gelte die Parole: Wir sind arm, aber ehrlich. Wir könnten den Kongreß nicht in die Länge ziehen, daher seien wir gegen den Breslauer Antrag. Diese Ausführungen Auers verletzten erklärlicherweise die andere Seite, und so nahm Fritzsche am folgenden Tage das Wort, um sich über die Aeußerung Auers: „Wir sind arm, aber ehrlich“, zu beschweren. Diese Worte erweckten den Verdacht, als gehe es im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unehrlich zu. Geib beruhigte Fritzsche. Auer erklärte: Er halte die Aeußerung unter den gegebenen Verhältnissen für gerechtfertigt. Die Lassalleaner hätten selbst solche Angriffe erhoben und dabei von „beiden Seiten“ gesprochen.

Dieses war der einzige ernstliche Mißton, der in den Verhandlungen zum Vorschein kam.

In der Programmfrage war Liebknecht Referent. Im Programm war der Satz enthalten: Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiterklasse sein, „der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind“. Ich beantragte, an Stelle des letzten Satzes zu sagen: Der gegenüber alle anderen Klagen reaktionär sind. Vahlteich ging weiter und beantragte die Streichung des ganzen Abschnittes. Sein Antrag wurde mit 12 gegen 111 Stimmen, der meine mit 58 gegen 50 Stimmen abgelehnt. Bei der Spezialberatung der nächsten Forderungen beantragte ich, das Wahlrecht für Staatsangehörige beiderlei Geschlechts zu fordern. Hasselmann erklärte sich gegen, Auer für meinen Antrag. Derselbe wurde mit 55 gegen 62 Stimmen abgelehnt. Nachträglich gab Hasenclever die Erklärung ab: Viele Delegierte hätten gegen meinen Antrag gestimmt, weil sie die Forderung durch den Ausdruck Staatsangehörigen gedeckt hielten; ähnlich äußerte sich Liebknecht, er habe aus stilistischen Gründen (beiderlei Geschlechts) gegen meinen Antrag gestimmt, in der Sache selbst sei er mit mir einverstanden. Es wurden alsdann noch eine Reihe kleinerer Verbesserungsanträge, die wir gestellt, angenommen. In der Endabstimmung fand das Programm einstimmig Annahme. In seinen prinzipiellen Sätzen lautete nunmehr dasselbe:

1. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, das heißt allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen.

In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.

Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrags.

Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.

2. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.

Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche dieselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen.

3. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.

Im weiteren folgten die Forderungen für die Demokratisierung des Staates und die nächsten sozialen Forderungen.

Wie aus dem Programm hervorgeht, war der Name der vereinigten Partei: „Sozialistische Arbeiterpartei.“ Ueber die vorgeschlagene Organisation berichtete Hasenclever, die mit einigen Aenderungen ebenfalls nach der Vorlage einstimmig angenommen wurde. Danach stand an der Spitze der Partei ein Vorstand aus fünf Personen, die der Kongreß wählte. Für die Kontrolle der Geschäftsführung des Vorstandes wurde eine Kontrollkommission aus sieben Personen eingesetzt, deren Sitz der Kongreß bestimmte und deren Wahl durch die Mitglieder der Partei an dem Sitz der Kontrollkommission vorgenommen wurde. Außerdem wurde ein Ausschuß von achtzehn Personen, über Deutschland verteilt wohnend, gewählt, der als vorläufig richtende Instanz über den Parteivorstand zu entscheiden hatte und bei besonders wichtigen Vorgängen zur Beratung von seiten des Vorstandes eingeladen werden sollte. Die Leitung der örtlichen Geschäfte wurde einem Agenten übertragen, den auf Vorschlag der Mitglieder eines Ortes der Parteivorstand einsetzte. Man hoffte damit einer Anklage wegen gesetzwidriger Verbindung von Vereinen aus dem Wege zu gehen. Wie sich bald ergab, vergeblich.

Als Sitz des Parteivorstandes wurde auf meinen Vorschlag Hamburg bestimmt. Weiter wurden die von mir vorgeschlagenen Gehälter für die fünf Vorstandsmitglieder angenommen, wonach der geschäftsführende Vorsitzende monatlich 65 Taler, sein Stellvertreter 15 Taler, die beiden Schriftführer je 50 Taler, der Kassierer 35 Taler erhalten sollten. Diese Sätze waren vorher unter uns vereinbart worden; ebenso schlug ich im Namen der Eisenacher vor, in den neuen Vorstand drei Lassalleaner und zwei Eisenacher zu wählen, was ebenfalls Annahme fand. Darauf wurden Hasenclever als erster, Hartmann-Hamburg als zweiter Vorsitzender, Auer und Derossi als Schriftführer, Geib als Kassierer gewählt. Sitz der Kontrollkommission wurde Leipzig und ich deren Vorsitzender.

Offizielle Organe der Partei wurden der „Neue Sozialdemokrat“ in Berlin und der Leipziger „Volksstaat“. Beide Blätter gingen in Parteieigentum über.

Am 27. Mai abends halb 12 Uhr waren die Beratungen zu Ende und wurde der Kongreß mit einem Hoch auf die Arbeiter aller Kulturstaaten und nachfolgendem Gesang der Arbeitermarseillaise geschlossen.

* * * * *

Bracke, der dem Kongreß aus Gesundheitsrücksichten fernbleiben mußte, war am Schlusse desselben durch die erzielten Resultate in günstigerer Stimmung. So schrieb er am 27. Mai an Engels:

„Ich persönlich kann Ihnen noch keine Mitteilung sagen, da man das, was beschlossen ist, erst vor sich haben muß, ehe man urteilt. Sind diese Beschlüsse nicht unsinnig, werden wir auch keinen Unsinn machen. (Anspielung auf einen Brief Liebknechts an Bracke.) Jedenfalls war bei Liebknecht, Geib usw. der ernste Wille vorhanden, den begangenen Fehler wieder gutzumachen. Der Verlauf des Kongresses hat gezeigt, daß die Konzessionen des Entwurfes weit weniger wegen der Arbeiter nötig waren als aus persönlicher Rücksicht gegen Hasenclever usw. Soweit bis jetzt ein Urteil möglich ist, bin ich mit dem Kongreß zufrieden, denn derselbe hat gezeigt, daß die Arbeiter tatsächlich viel weiter sind als ich glaubte.“

Ich kam erst im Herbst dazu, Engels auf seinen Brief von Ende März zu antworten. Ich schrieb:

„Leipzig, den 21. Sept. 1875.

Lieber Engels!

Ich muß recht sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie auf Ihren Brief von Ende März ohne alle Antwort gelassen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich in den ersten drei bis vier Monaten nach meiner Freilassung keine ruhige Stunde gehabt, in der ich den Brief hätte beantworten können, und selbst heute fällt es mir schwer, die nötige Muße aufzutreiben.

Mit dem Urteil, das Sie über die Programmvorlage fällten, stimme ich, wie das auch Briefe von mir an Bracke beweisen, vollkommen überein. Ich habe auch Liebknecht über seine Nachgiebigkeit heftige Vorwürfe gemacht, aber nachdem einmal das Malheur geschehen war, galt es, sich so gut als möglich herauszuziehen. Was der Kongreß beschlossen, war das Aeußerste, was zu erreichen war. Es zeigte sich auf der anderen Seite eine entsetzliche Borniertheit und teilweise Verbissenheit, man mußte mit den Leuten wie mit Porzellanpüppchen umgehen, wollte man nicht, daß der mit soviel Lärm in Szene gesetzte Einigungskongreß zum Jubel der Gegner und zur größten Blamage der Partei resultatlos auseinanderging. Schließlich gelang es aber dennoch, namentlich in der Personenfrage, derart zu operieren, daß wir mit dem Resultat zufrieden sein konnten. Es wird allerdings noch manchen Kampf gegen die Borniertheit und den persönlichen Egoismus zu kämpfen geben, aber ich zweifle nicht, daß auch diese Kämpfe, wenn wir geschickt operieren, ohne Schaden für das Ganze ausgefochten werden, und daß in zwei Jahren ein ganz anderer Geist die jetzt teilweise noch widerhaarigen Elemente durchdringt.

 

Das Ganze ist eine Erziehungsfrage. Nachdem die Leute acht bis neun Jahre in Lassalle-Schweitzerschem Geiste erzogen worden sind, wollen sie sich nicht sofort an die andere Methode gewöhnen, hier gilt's, Geduld haben.

Die von mir bezeichnete Erziehungsmethode würde sich vielleicht erheblich abkürzen lassen, wenn wir hier den von allen Seiten herbeiströmenden Einladungen zu Versammlungen und Festreden genügen könnten. Im persönlichen Verkehr mit den Leuten ließen sich Vorurteile und Voreingenommenheiten rascher beseitigen, aber wir können nicht entfernt leisten, was verlangt wird.

Ich speziell bin durch mein Geschäft ganz bedeutend lahm gelegt, und der Durchkrach bei der Landtagswahl hat niemand mehr gefreut als mich. Liebknecht und Motteler geht es, trotzdem sie in der Partei ihre ganze Stellung haben, nicht viel besser; denn ihre laufende Arbeit verträgt sich schlecht mit dem vagabundierenden Agitatorenleben, und dann haben wir in diesem Punkte auch schon zuviel geleistet, um noch große Sehnsucht danach zu empfinden. Lunge und Stimmorgane sprechen ja auch ein Wörtchen mit.

Im allgemeinen können wir mit dem Gang der Partei sehr zufrieden sein, jetzt sieht man erst, wie die frühere Bekämpfung die Kräfte zersplitterte, die Partei ist jetzt finanziell so gestellt, wie nie zuvor, und die Steuern gehen, trotz der schlechten Geschäftszeit, sehr pünktlich und regelmäßig ein.

Ihrer freundlichen Einladung nach London konnte ich natürlich unter den oben geschilderten Umständen nicht nachkommen; ich möchte gerne einmal hinüber nach Old-England, aber vorläufig ist nicht daran zu denken. Vielleicht muß ich nächstes Jahr nach dem Rheinland, eventuell nach Holland in Geschäften, und dann ist der Weg zu Ihnen nicht mehr allzuweit.

Wie ich gehört, ist Marx in Karlsbad, wahrscheinlich werde ich ihn aber nicht zu sehen bekommen; wie mir Liebknecht sagte, will er durch Bayern zurück. In ungefähr 14 Tagen werde ich nach Karlsbad kommen, ich will eine Geschäftstour nach Böhmen machen, dann wird er aber nicht mehr dort sein. Grüßen Sie Marx, wenn er zurückkehrt. Wollen Sie denn nicht Deutschland mal heimsuchen? Sie sitzen in England wie eingerostet.

Freundschaftlichst grüßt Ihr ergebener
Bebel.“

Die Antwort, die ich von Engels erhielt, bewies, daß er und Marx meinen Brief in einem Sinne aufgefaßt hatten, der mit dem Inhalt desselben nicht recht in Einklang zu bringen war. Engels schrieb:

„London, 12. Oktober 1875.

Lieber Bebel!

Ihr Brief bestätigt ganz unsere Ansicht, daß die Einigung unsererseits überstürzt ist und den Keim künftigen Zwiespalts in sich trägt. Wenn es gelingt, diesen Zwiespalt bis über die nächsten Reichstagswahlen hinauszuschieben, wäre es schon gut….

Das Programm, wie es jetzt ist, besteht aus drei Teilen:

1. Den Lassalleschen Sätzen und Stichworten, die aufgenommen zu haben eine Schmach unserer Partei bleibt. Wenn zwei Fraktionen sich über ein gemeinsames Programm einigen, so setzen sie das hinein, worüber sie einig und berühren nicht das, worüber sie uneinig sind. Die Lassallesche Staatshilfe stand zwar im Eisenacher Programm, aber als eine aus vielen Uebergangsmaßregeln, und nach allem, was ich gehört habe, war sie, ohne die Einigung, ziemlich sicher, im diesjährigen Kongreß auf Brackes Antrag an die Luft gesetzt zu werden. Jetzt figuriert sie als das eine unfehlbare und ausschließliche Heilmittel für alle sozialen Gebrechen. Das „eherne Lohngesetz“ und andere Lassallesche Phrasen sich aufoktroyieren zu lassen, war für unsere Partei eine kolossale moralische Niederlage. Sie bekehrte sich zum Lassalleschen Glaubensbekenntnis. Das ist nun einmal nicht wegzuleugnen. Dieser Teil des Programms ist das kaudinische Joch, unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle durchgekrochen ist;

2. aus demokratischen Forderungen, die ganz im Sinn und im Stil der Volkspartei ausgesetzt sind;

3. aus Forderungen an den „heutigen Staat“ (wobei man nicht weiß, an wen denn die übrigen „Forderungen“ gestellt werden), die sehr konfus und unlogisch sind;

4. aus allgemeinen Sätzen, meist dem Kommunistischen Manifeste und den Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind, daß sie entweder total Falsches enthalten oder aber reinen Blödsinn, wie Marx das in dem Ihnen bekannten Aufsatz im einzelnen nachgewiesen.

Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel. Wenn unter der Bourgeoispresse ein einziger kritischer Kopf wäre, er hätte dies Programm Satz für Satz durchgenommen, jeden Satz auf seinen wirklichen Inhalt hin untersucht, den Unsinn recht handgreiflich auseinandergelegt, die Widersprüche und ökonomischen Schnitzer (zum Beispiel: daß die Arbeitsmittel heute „Monopol der Kapitalistenklasse“ sind, als ob es keine Grundbesitzer gäbe, das Gerede von „Befreiung der Arbeit“ statt der Arbeiterklasse, die Arbeit selbst ist heutzutage ja gerade viel zu frei!) entwickelt und unsere ganze Partei greulich lächerlich gemacht. Statt dessen haben die Esel von Bourgeoisblättern dies Programm ganz ernsthaft genommen, hineingelesen, was nicht darin steht und es kommunistisch gedeutet. Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun. Es ist dieser Umstand allein, der es Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich von einem solchen Programm loszusagen. Solange unsere Gegner und ebenso die Arbeiter diesem Programm unsere Ansichten unterschieben, ist es uns erlaubt, darüber zu schweigen.

Wenn Sie mit dem Resultat in der Personenfrage zufrieden sind, so müssen die Ansprüche auf unserer Seite ziemlich tief gesunken sein. Zwei von den Unseren und drei Lassalleaner! Also auch hier die Unseren nicht gleichberechtigte Alliierte, sondern Besiegte und von vornherein überstimmt. Die Aktion des Ausschusses, soweit wir sie kennen, ist auch nicht erbaulich: 1. Beschluß, Brackes und B. Beckers zwei Schriften über Lassallesches nicht auf die Parteischriftenliste zu setzen; wenn dies zurückgenommen, so ist es nicht die Schuld des Ausschusses und auch nicht Liebknechts; 2. Verbot an Vahlteich, die ihm von Sonnemann angetragene Korrespondenz für die Frankfurter Zeitung anzunehmen. Dies hat Sonnemann dem durchreisenden Marx selbst erzählt. Was mich noch mehr dabei wundert als die Arroganz des Ausschusses und die Bereitwilligkeit, womit Vahlteich sich gefügt hat, statt dem Ausschuß etwas zu pfeifen, ist die kolossale Dummheit dieses Beschlusses. Der Ausschuß sollte doch lieber dafür sorgen, daß ein Blatt, wie die Frankfurter, von allen Orten aus nur durch unsere Leute bedient wird. —

… Daß die ganze Sache ein Erziehungsexperiment ist, das auch unter diesen Umständen einen sehr günstigen Erfolg verspricht, darin haben Sie ganz recht. Die Einigung als solche ist ein großer Erfolg, wenn sie sich zwei Jahre hält. Aber sie war unzweifelhaft weit billiger zu haben.“

Man sieht, es war kein leichtes Stück, mit den beiden Alten in London sich zu verständigen. Was bei uns kluge Berechnung, geschickte Taktik war, das sahen sie als Schwäche und unverantwortliche Nachgiebigkeit an, schließlich war doch die Tatsache der Einigung die Hauptsache. Diese trug logisch die Weiterentwicklung in sich selbst, dafür sorgten auch nach wie vor unsere Freunde, die Feinde. Daran konnten auch Beschränktheiten und Engherzigkeiten, wie sie der Parteivorstand in den von Engels gerügten Fällen sich zuschulden kommen ließ, nichts ändern. Erwähnt muß werden, daß damals die „Frankfurter Zeitung“ der von uns vertretenen Richtung freundlich gegenüberstand, dagegen hatte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit Sonnemann manchen Span auszufechten gehabt. Daher war auf dieser Seite die Animosität gegen ihn und seine Zeitung erklärlicherweise eine sehr starke.