Prinzessin wider Willen

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»Gut.« Sie drückte die Mappe an ihre Brust, während in ihrem Kopf die wildesten Gedanken durcheinandergingen. Lies die Dokumente. Nein, tu es nicht! Lies sie. Nein! »Ich werde mir die Papiere durchlesen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nie mit dir in einem Flugzeug nach Hessenberg sitzen werde.«

»Na, das ist doch mein Mädchen«, sagte Daddy. »Immer hübsch aufgeschlossen.«

»Miss Beswick. Regina«, sagte Tanner mit einer leichten Verbeugung, »Danke. Hessenberg bedankt sich bei dir.«

Sie veränderte ihre Haltung. »Was passiert, wenn ich nein sage?«

»Ganz einfach«, sagte er und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Hessenberg, das Geburtsland deiner Urgroßmutter, verschwindet vom Antlitz der Erde. Es wird aus den Weltkarten entfernt. Eine Nation, deren Geschichte bis ins alte Rom zurückreicht, wird nicht mehr sein.«

Der letzte Strohhalm lag auf dem Tisch, und Reggie fühlte sich, als würde sie gleich zerbrechen. »Und das alles fällt auf mich zurück? Es ist verrückt.« Mit leerem Blick starrte sie über die Straße hinweg auf die Lichtstrahlen, die durch die Bäume und Sträucher der benachbarten Gärten hindurchschienen.

»Es ist auch wahr …«

Reggie wirbelte zu Mr. Burkhardt herum. »Bist du immer so selbstsicher? Das ist ein bisschen zermürbend.« Sie legte die Akte auf den Beifahrersitz. »Bis wann muss ich mich entscheiden?«

»Technisch gesehen, bevor das Abkommen endet. Das wäre Mitternacht, am 22. Oktober. Aber Tatsache ist, dass wir Zeit brauchen werden, um dich und die Menschen vorzubereiten. Ein paar Wochen bestimmt.«

»Der 22. Oktober? Das ist gerade mal noch einen Monat hin. Also, im Grunde müssten wir … jetzt abreisen.«

»Wenn möglich. In ein paar Tagen, ja.«

»Ihr hattet hundert Jahre Zeit, um euch einen Überblick über die königlichen Erben von diesem Hause Augustin-Schlagmichtot zu verschaffen, aber ihr habt die Sippe komplett aus den Augen verloren. Und jetzt kommst du angeschlichen und gibst mir ein paar Tage Zeit, mich zu entscheiden. Das ist doch wohl nicht fair?«

»Ist es nicht, da stimme ich zu. Aber dein Onkel, Prinz Franz, dankte ab und zerstreute die Familie mit voller Absicht in alle Himmelsrichtungen. Zum einen, um sie in Sicherheit zu bringen. Und um seinen Anteil an dem Abkommen mit dem Königreich Brighton zu ehren. Hätten wir über dich Bescheid gewusst, wären wir früher vorbeigekommen. Aber leider war deine Urgroßmutter schwer aufzuspüren.«

Diese Zusammenfassung der Geschehnisse verwandelte die Verwirrung in Reggies Brust zu einem handfesten Zorn. Der Atem in ihre Lunge brannte. »Ich muss gehen.«

Reggie kletterte in den Datsun und ließ den vierzig Jahre alten Motor aufheulen, der rasselte, klopfte und abzusaufen drohte. Reggie gab vorsichtig Gas und ließ den Vergaser etwas arbeiten, bevor sie den Rückwärtsgang einlegte.

Tanner lehnte seinen Arm an die Tür und sah sie durch das offene Fenster an. »Früher ist besser als später, Regina.«

»Und wann gehst du wieder?« Zentimeter für Zentimeter setzte sie das Auto in der Einfahrt zurück.

»Wenn du dich damit einverstanden erklärst, mit mir zu gehen.« Er atmete aus und trat zurück. »Oder wenn das Großherzogtum Hessenberg aufhört, eine Nation zu sein.«


SIEBEN

Die kalte Luft der Hotelsuite fühlte sich gut an auf seiner heißen, klebrigen Haut. Hätte er gewusst, dass die Nächte in Florida mit einer solchen Betonwand aus Feuchtigkeit aufwarteten, hätte Tanner über seinen Lauf am späten Abend sicher noch einmal nachgedacht.

Aber er musste sich bewegen, Ausschreiten, die Dellen in seinen müden Muskeln und seinem müden Geist etwas ausbeulen.

Hinunter mit dem Aufzug und durch den Haupteingang des Duval ging es hinaus in die Nacht, wo er sich auf dem Bürgersteig schwerfällig in Gang setzte. Seine Beine weigerten sich anfangs, im gleichen Takt zu arbeiten, so dass er wie ein alter Mann die Straßen der Stadt hinunterstolperte.

Nach ungefähr zehn Minuten fand er seinen Takt, indem er seinen Körper zwang, sich zu bewegen. Er ferste an, fädelte sich durch die Grüppchen, die sich aus den Bars hinaus auf die Straßen ergossen. Anscheinend war die ganze Stadt wegen dieses Footballspiels morgen auf den Beinen.

Eine dreiviertel Stunde lang lief er und dachte an nichts – nichts –, außer an seine Schritte, seine Atmung und daran, ein gleichmäßiges Tempo beizubehalten.

Zurück in seiner Suite, zog er sein verschwitztes Hemd aus und holte eine Flasche Wasser aus dem Mini-Kühlschrank. Er schnappte sich ein Handtuch, wischte sich Gesicht und die Arme ab und bestellte dann ein spätes Abendessen. Salat? Nein, Dessert. Ein Stück Schokoladenkuchen à la mode.

Er ließ sich in den Stuhl am Fenster fallen und konzentrierte sich auf den Ausbruch der bernsteinfarbenen Lichter über der Stadt. In der Ferne wölbte sich der Glanz des Universitätscampus wie ein weißer Mond in den Himmel.

Tanner presste sich die kühle Wasserflasche gegen die Stirn und nahm dann einen Schluck. Wenn man einmal von der hohen Luftfeuchtigkeit absah, gefiel ihm die Stadt ganz gut. Tallahassee war eine Mischung aus Regierungsinstitutionen, höherer Bildung und dem, was die Amerikaner Rednecks nannten.

Zu Hause kannte er auch ein paar Rednecks, nur dass sie dort Schwarzkragen hießen – eine alte Bezeichnung für die Arbeiter in den Kohlen- und Eisenminen, die am Ende des Tages mit schmutzigen, schwarzen Hälsen aus dem Bauch der Erde aufstiegen.

Die Rugby-Nationalmannschaft war noch bis zum Abkommen von 1914 Schwarzkragen genannt worden. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Rugby-Ligen von Hessenberg und Brighton zu einer einzigen Liga verschmolzen, und die Schwarzkragen wurden ganz einfach zu »Hessenberg Union«.

Noch ein Schluck Wasser. Tanner legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ein schläfriger Friede überkam ihn und brachte ihn beinahe dazu einzuschlafen. So viel Geschichte … so viel Zeit ist vergangen … kann nicht rückgängig gemacht werden …

Mit einem Ruck wurde er wieder wach. Er setzte sich aufrechter hin, als Miss Beswicks Gesicht sich über die bunte Palette seiner wirbelnden Gedanken legte. Er stand auf, nahm einen weiteren Schluck Wasser und ging zum Fenster.

Sie hatte ihn erwischt. War ihm unter die Haut gegangen. Er war neugierig darauf gewesen, wie er auf seine zukünftige Monarchin reagieren würde. Hatte sich gefragt, ob er Respekt verspüren würde? Bewunderung? Erleichterung? Vielleicht auch Geringschätzung oder gar Abscheu?

Allerhand Gefühle wären möglich gewesen, mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit diesem Flattern, diesem Gefühl wachsender Verliebtheit, das seine Knie schlottern ließ.

Verflixt und zugenäht! Ihr weiblicher Charme erschütterte ihn zutiefst.

Aber es war mehr als ihre feinen Gesichtszüge und die wallende rotgoldene Haarpracht, das da an seiner Seele rührte. Es war ihre Entschlossenheit. Die Verbindlichkeit, mit der sie an dem Leben festhielt, das sie sich aufgebaut hatte. Ihre Fähigkeit, einer Auseinandersetzung in die Augen zu sehen und »Warum?« zu fragen.

Er selbst dagegen gab schon klein bei, wenn ein Konflikt auch nur begann, sein hässliches Haupt zu erheben. Tanner konnte sich bei seinem liebevollen, aber auch anspruchsvollen Vater dafür bedanken, dass er vor Konfrontationen schnell zurückscheute. Der Mann hatte Gehorsam verlangt, hatte von ihm erwartet, ein ehrbares Leben zu führen und seine eigenen Ambitionen hintanzustellen.

Irgendwo, mitten auf der Strecke, hatte sich Tanner seinen eigenen Weg gesucht und einen Fehltritt getan. Einen sehr, sehr großen Fehltritt. Dann noch einen. Und noch einen.

Ach, denk doch nicht daran. Du hast deine Fehler doch hinter dir gelassen. Oder etwa nicht?

Aber zurück zu Miss Beswick. Tanner gefiel es, dass sie ihren eigenen Kopf hatte. Umfaller und Leute, die es anderen immer nur recht machen wollten, eigneten sich nicht gut für Führungspositionen. Oder Königtum im althergebrachten Sinne. Prinz Franz hatte bewiesen, wie Menschenfurcht eine Dynastie, ja, sogar eine ganze Nation zerschlagen konnte.

Außerdem gefiel ihm, dass Miss Beswick eine sehr starke, fast schon unheimliche Ähnlichkeit mit dem Renoir-Porträt von Prinzessin Alice hatte. Es wirkte beinahe so, als wäre die ehemalige Thronerbin aus ihrem Bild von 1914 heraus- und ins 21. Jahrhundert hineingestiegen.

Vielleicht war sie das ja auch.

Aber von alldem abgesehen … würde Miss Beswick mit ihm nach Hessenberg reisen? Tanner hatte keine Ahnung. Würde der Fahndungsbericht und die Details des Abkommens über das Erblehen in dem Aktenkoffer ihr Herz bewegen können?

Man konnte nur hoffen. Er konnte nur hoffen.

Tanner leerte die Flasche und fuhr seinen Laptop hoch.

Hatte er die Karten zu früh auf den Tisch gelegt? Hatte er sie überfordert? Wenn ihm jemand sagen würde, dass die Zukunft eines Landes ganz alleine auf seinen Schultern läge, würde er sich bereiterklären?

Er konnte nur hoffen. Vor allem nach den Fehlern, die er in der Vergangenheit gemacht hatte. Er wollte Gutes tun. Anderen helfen. Und, wenn irgendwie möglich, nicht mehr daran denken, dass er Töch …!

Leg den Finger nicht in die Wunde, alter Freund.

Er verbannte den fast gedachten Gedanken energisch aus seinem Bewusstsein. Zurück blieb ein schmerzhaftes Brennen in seinem Herzen, eine Sehnsucht. Was geschehen war, war geschehen. Wenn er als junger Mann weiser gewesen wäre, hätte er mehr auf seine Handlungen und deren Auswirkungen auf sein Leben geachtet. Aber er war töricht gewesen, und das hatte ihn seine Zukunft gekostet.

 

Was auch der Grund war, weshalb er in Seamus Fitzsimmons‘ Schuld stand. Und immer stehen würde. Er hatte Tanner einen neuen Weg und einen Neuanfang angeboten.

Während er sein E-Mail-Programm öffnete, griff Tanner nach der Fernbedienung und zappte sich zu einem Sportkanal durch. Er suchte nach American Football. In Hessenberg hatte er sich einmal ein paar Freundschaftsspiele angeschaut, als die Dallas Cowboys und die Indianapolis Colts zu Besuch gewesen waren. Er fand die Sportart faszinierend.

Nachdem er ein laufendes Spiel gefunden hatte, legte Tanner die Fernbedienung ab und konzentrierte sich auf seine Nachrichten. Er hatte einige, um genau zu sein, ziemlich viele von Louis und eine aus der Königlichen Behörde, die möglichst schnell auf den neuesten Stand gebracht werden wollte.

Er wollte sich gerade an die Arbeit machen, als eine neue E-Mail auf dem Bildschirm erschien. In Hessenberg war es Samstagmorgen, Louis war wach und arbeitete sich ebenfalls durch seine E-Mails.

Die Betreffzeile brachte Tanners inneren Frieden ins Wanken: Umschlag in Schreibtischschublade.

Oh nein, nicht das auch noch. Louis, was hast du angestellt? Tanner fuhr sich mit der Hand durchs feuchte Haar und atmete aus.

Von seinem großartigen Gedächtnis einmal abgesehen, verfügte Tanner über die Fähigkeit, seine Gedanken und Emotionen hübsch ordentlich zu ordnen und zu archivieren. Wenn er einmal beschlossen hatte, einen Umschlag in seinem Schreibtisch zu vergessen, dann vergaß er ihn auch. Aber nun erinnerte Louis ihn an etwas, das er vergessen wollte.

Er klickte auf die E-Mail und las die kurze Botschaft seines Assistenten.

Auf der Suche nach dem Büroschlüssel … in der mittleren Schublade gefunden … Kuvert gesehen … dachte, es könnte eine Sache für Ihre Agenda sein … persönliche Einladung … zehnter Geburtstag … Britta und Bella … am Sonntag, dem 5. Soll ich den Termin eintragen? Bitte um Verzeihung, Ihre persönliche Post geöffnet zu haben.

Tanner starrte die Nachricht an und las sie ein zweites Mal. Geburtstagsfeier … und er war eingeladen? Er hatte wohl eine Einladung in dem Leinenkuvert erwartet, aber doch nicht, dass sie ihn wirklich einladen würden.

Es ergab keinen Sinn, nicht im Lichte der vergangenen acht Jahre. Britta und Bella waren die beiden »Dinge« in seiner Vergangenheit, die er nicht archivieren, beiseiteschieben und vergessen konnte. Obwohl er es gründlich versucht hatte. Um ihretwillen. Um seinetwillen.

Aber er hatte nicht vergessen, dass die Zwillinge am fünften Oktober zehn Jahre alt werden würden. Er war nur gut darauf vorbereitet, ihren Geburtstag zu ignorieren. So wie in all den Jahren zuvor auch.

Tanner nahm eine weitere Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Er war gerade dabei, sich etwas abzukühlen, als diese Sache mit den Zwillingen einen Funken schlug und sein Herz in Brand setzte.

Auf dem Fernseher rannte ein Spieler unter dem Jubel der Zuschauer mit dem Ball unterm Arm über das Spielfeld.

Tanner las die E-Mail noch einmal.

Soll ich den Termin eintragen?

Er stellte sein Wasser ab und klickte auf »Antworten«.

Nein.

Er war ja noch nicht einmal sicher, ob er mit Miss Beswick bis zum Fünften wieder zu Hause sein würde. Und selbst, wenn …

Tanner schnappte sich sein Mobiltelefon. Warum hatte ihn Trude überhaupt zu der Feier der Mädchen eingeladen? Wusste Mum davon? Sie war die Einzige, die den Kontakt zu Trude über die Jahre aufrechterhalten hatte, wenngleich nur zu Weihnachten.

Er hatte gerade angefangen, die Nummer zu wählen, als ihm einfiel, dass es zwar Morgen in Hessenberg war, aber eben auch Samstag und sehr früh. Seine Eltern würden noch schlafen.

Tanner warf das Telefon zurück auf den Schreibtisch und zog sich aus, um zu duschen.

Gerade, als er meinte, sein Leben im Griff zu haben, alle Verbindungen zu seiner Vergangenheit abgebrochen waren und er sich in alle Richtungen abgesichert hatte, kam eine Naturgewalt wie Trude Estes Cadwallader daher und erinnerte ihn daran, dass er nicht der Mann war, der er zu sein vorgab.


Reggie betrat ihr Haus durch die Hintertür, drückte auf den Lichtschalter und schaltete eine Stehlampe und die Arbeitsbeleuchtung in der Küche ein. Endlich war sie zu Hause, wo sich ihre Welt hoffentlich wieder beruhigen und einen Sinn ergeben würde.

Sie war mit offenem Fenster in ihrem alten Datsun nach Hause gefahren, hatte sich vom Wind durchpusten lassen und fühlte sich irritiert und verkrampft. Wütend. Frustriert.

Und bis ins Mark herausgefordert.

Was sollte eine Frau denn bitte schön machen, wenn einer daherkam und ihr sagte, sie sei nicht die, die sie zu sein glaubte?

Der Gedanke schnitt durch ihr Herz, durch ihre Seele und sezierte alles, was sie bisher über sich selbst geglaubt hatte. Ihr Leben.

Die Wucht des Ganzen warf ihre Wahrheiten und Überzeugungen wild durcheinander.

Reggie stellte ihre Handtasche auf die Arbeitsfläche der Küche und legte Tanners Aktenkoffer auf den Tisch. Das braune, weiche Leder des Koffers bedachte sie mit einem langen Blick. Er schien sicher, dass sich etwas unter den Dokumenten befand, das sie davon überzeugen würde, dass sie nach Hessenberg gehörte. Jedenfalls lange genug, um mit dieser ganzen Angelegenheit mit dem Abkommen aufzuräumen.

Sie kippte den Inhalt des Aktenkoffers kurzerhand aus, verteilte die Blätter auf dem Tisch und überflog sie.

Ein Brief von König Nathaniel II. Sie seufzte. Okay, das war schon einmal echt cool, auch wenn der ganze Rest absolut abgefahren war.

Während sie durch die Papiere blätterte, bemerkte sie die Ölflecken, die immer noch auf ihren Händen waren, und rubbelte mit dem Daumen darüber. Sie brauchte eine heiße Dusche und musste sich gründlich abschrubben.

Aber sie brauchte auch die Zeit, all das zu verstehen, was da so unerwartet in ihr Leben geplatzt war. Was in diesen Papieren sollte sie wohl davon überzeugen, alles Bisherige zurückzulassen und sich ins große Unbekannte aufzumachen?

Wenn nämlich Regina Beswick morgens aufwachte, wusste sie ganz genau, wer sie war, wohin sie unterwegs war, warum und wie. Und das mochte sie. Veränderung war weder notwendig noch erwünscht.

Wild entschlossen, dem Inhalt des Diplomatenköfferchens auf den Grund zu gehen, zog sich Reggie einen Stuhl heran und setzte sich.

Dieser Tanner war schon was, oder? Stark. Verbindlich. Charmant und irgendwie … poliert. Aufrichtig. Nicht kriecherisch und drängelnd wie Mark. Trotz seiner Krawatte-und-Anzug-Förmlichkeit war er irgendwie sexy, und diese Haare … langes, gepflegtes blondes Haar. Ihm stand das gut. Sehr gut.

Reggie nahm die Dokumente in die Hand, trennte sie voneinander und sagte sich noch einmal, dass sie gar nichts Interessantes zwischen den behördlichen und rechtlichen Papieren finden wollte.

Sie würde ein letztes Mal durch die Papiere gehen, und dann wäre Feierabend.

Fast ganz zuunterst fand sie allerdings eine Tabelle mit Namen und Daten. Adrenalinschub, huch, wo kam der denn her? Ihre Hände zitterten, als sie die Seite an sich nahm.

Erstellt vom Ermittlungsbüro Lieberman Investigators LLC.

Reggie entdeckte Uromas Namen. Alice. Heirat mit Harry Pierce, Captain der Royal Air Force, Großbritannien. Ihr erster Ehemann, ein Pilot, gefallen im Krieg.

Uroma war im Juli 1946 mit ihrer Tochter Eloise, Reggies Großmutter, nach Amerika ausgewandert. Beigefügt war eine Fotokopie ihres Einreisedokuments über Ellis Island. Alice Pierce. Eloise Pierce.

Im Oktober 1947 hatte Uroma William Edmunds geheiratet. Er war gestorben, bevor Reggie zur Welt gekommen war, aber sie erinnerte sich an die Geschichten, die Eloise über ihn erzählt hatte.

Dann hatte Eloise Charles Hiebert geheiratet, und zwar im Juni 1948. Zwei Jahre später kam Mama zur Welt.

Reggies Erinnerungen an ihre Großeltern Eloise und Charles waren schön, aber dürftig, da sie beide gestorben waren, als Reggie noch klein war. Ihre Namen zu lesen weckte die Sehnsucht nach ihnen.

Oma Eloise war eine Pierce, keine Edmunds, die eine Hiebert wurde. Hatte Reggie gewusst, dass dieser Stammbaum so viele kurze Zweige hatte? Hatte ihr das jemals einer erzählt?

Sie legte den Zettel achtlos beiseite, weil sie die restlichen Details kannte. Mama heiratete Daddy, Noble Beswick, im Januar 1979.

Reggies älterer Bruder wurde 1981 geboren, starb aber sechs Monate später. Im März 1985 kam schließlich sie heimlich, still und leise zur Welt. Das war etwas, woran sie sich erinnerte: Mama hatte erzählt, dass Reggie so friedvoll, ohne einen Mucks zu machen, zur Welt gekommen war, als ob sie sagen wollte … Wie hatte Mama es formuliert?

Hallo Welt, freust du dich, dass ich hier bin?

Schmerzhaft brannten die Tränen der Erinnerung und der Sehnsucht nach Mama in ihren Augen. Reggie nahm sich die Tabelle nun doch noch einmal vor, nahm die einzelnen Namen zur Kenntnis, versuchte, sich die Gesichter zu den Namen vor Augen zu führen, versuchte, sich an eine Familiengeschichte zu erinnern, die sie nie gekannt hatte.

Während sie die Todesdaten, die kurzen Lebensdauern überflog, zog sich ihre Brust zusammen. Alle außer Uroma und natürlich Daddy waren gestorben, die meisten, bevor sie ihren 70. Geburtstag feiern konnten. Reggie lächelte. Uroma, du bist dem Tod mehr als einmal von der Schippe gesprungen, nicht wahr?

Aber was bewies das schon? Keine dieser Informationen machte Uroma offiziell zu Prinzessin Alice. Und schon gar nicht wurde Reggie darin als Erbin benannt. Der Inhalt des Dossiers verwirrte Reggie nur noch mehr. Warum hatte Uroma nie von diesem Leben gesprochen?

Tanner schien zu glauben, dass irgendetwas in dieser Mappe war, das sie davon überzeugen würde, wirklich die lange gesuchte Prinzessin zu sein. Aber bisher war das Einzige, was Reggie gefunden hatte, ein sehr ausführlicher Stammbaum.

Mit einem Seufzen blätterte Reggie durch die letzten paar Dokumente. Da entdeckte sie die Kante eines fotokopierten Briefes. Sie zog ihn aus dem Stapel und erkannte Uromas geschwungene Handschrift.

London, den 8. Mai 1946

Lieber Otto,

es ist schon so lange her, dass wir einander geschrieben haben. Aber dieser Krieg hat es mir ausgetrieben. Eloise und ich haben Harry 45 verloren, und wir scheinen nicht über den Schmerz seines Verlustes hinwegzukommen.

Esmé, meine geliebte Schwester, hat uns eingeladen, zu ihr nach Amerika zu kommen, und wir reisen morgen ab. Ich bete dafür, dass wir dort ein neues Leben, eine neue Freude finden mögen. London ist so ausgezehrt und verwildert vom Krieg. Ich befürchte, dass wir niemals wieder werden lachen können. Ich wünsche mir so sehr, dies alles hinter mir zu lassen. Hessenberg. Brighton. Die Kriege. Tod. Ich muss einen neuen Anfang wagen, wenn ich dieses Leben überleben will.

Wie Sie sicher wissen, ist Onkel Anfang 1944 in Schweden verstorben. Mama wird in London bleiben. Sie ist glücklich und zufrieden in den Kreisen, in denen sich der König bewegt. George VI. hat sie mehr wie eine Schwester denn wie eine Kusine aufgenommen. So viel Tod im Leben, mein lieber Otto.

Ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie bei guter Gesundheit. Ich werde wieder schreiben, wenn ich in Amerika angekommen bin und mich niedergelassen habe.

Es grüßt Sie von ganzem Herzen

Ihre Alice Pierce

Reggie las den Brief wieder und wieder, bevor sie ihn zur Seite legte. Ihr müder Verstand konnte nichts mehr aufnehmen. Sie schob sich vom Tisch weg, wollte nicht mehr nachdenken, wollte nur noch duschen. Wenn sie sich nicht bald wusch, würde sie das Öl nicht mehr aus den Poren bekommen.

 

Sie stand auf, reckte und streckte sich und hatte gerade einen Schritt in Richtung ihres Zimmers gemacht, als in ihrer Handtasche das Telefon klingelte. Als sie sah, dass es Mark war, ließ sie den Anruf zur Mailbox umleiten.

Als sie an der Hintertür vorbeiging, klopfte es sacht.

Daddy.

»Ist es nicht längst Schlafenszeit für dich?«, frage sie und machte die Tür weit auf, um ihn hereinzulassen. In einem alten Sweatshirt, den Pyjamahosen und seinen alten ausgelatschten Hausschuhen sah er aus, als wäre er schon bettfertig. Vor ungefähr fünfzehn Jahren hatte er mal versucht, dem Hund beizubringen, die Pantoffeln zu apportieren, aber Buster hatte das irgendwie missverstanden und sie als Kauspielzeuge zweckentfremdet.

»Ja, und ich habe morgen früh einen wichtigen Auftrag oben in Thomasville. Aber diese Angelegenheit mit Hessenberg und deiner Uroma hat mich so aufgewühlt.« Er hielt ihr ein quadratisches, unscheinbares Kästchen hin. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Ein Kästchen? »Und das hätte nicht bis morgen warten können?«

»Vielleicht.« Mit den Händen in den Hüften starrte er das Kästchen an. »Ich bin mir nicht sicher. Aber als Sadie mich an das Kästchen erinnerte, nachdem du gegangen warst, bin ich den Gedanken daran nicht mehr losgeworden. Irgendetwas hat mich dazu gedrängt, es dir noch heute Abend zu bringen.«

Reggie stellte das Kästchen neben Tanners Lederkoffer auf den Tisch. »Was ist das?«

»Außer einem Kästchen? Ich habe keine Ahnung. Uroma hat es dir hinterlassen.« Daddy ging zum dunklen vorderen Teil des Hauses. »Ich habe es weggestellt, weil ich dachte, ich würde es dir schon geben, wenn du älter wärst und etwas damit anfangen könntest. Ich hab es auf dem Dachboden aufbewahrt, und irgendwie ist mir die Zeit davongelaufen. Und hast du nicht gesehen, gehst du schwer auf die Dreißig zu, und ich habe das Kästchen ganz vergessen. Dann taucht dieser Hessenberger auf und …« Daddy hielt an der äußersten Grenze des Lichtscheins der Küche an und linste skeptisch in das unbeleuchtete, unbenutzte Wohnzimmer. »Reg, wohnst du immer noch in nur drei Räumen?«

»Ich war anderweitig beschäftigt.« Sie ging durch die Küche und lehnte sich in den Türrahmen zum Un-Wohnzimmer.

»Beschäftigt womit?« Daddy knipste das Licht an, das aus einer einfachen Deckenlampe die kahlen Wände und den weißen offenen Kamin beschien und dem Raum die Atmosphäre eines Wartezimmers verlieh.

»Mit Arbeit. Mit einer Firmengründung.« Der einzige Farbtupfer im Zimmer war eine Tiffany-Lampe im Fenster.

»Wie lange wohnst du jetzt hier?« Daddy bückte sich und hob den Stecker der Tiffany-Lampe auf. »Die ist ja noch nicht einmal eingesteckt, Reg.« Er guckte in den Lampenschirm. »Und eine Glühbirne ist auch nicht drin.«

»Ich hatte schon noch vor, eine zu kaufen.« Sie hatte das Haus vor zwei Jahren mit dem Geld gekauft, das Daddy aus Mamas Lebensversicherung für sie beiseitegelegt hatte. »Und ich werde diese Lampe benutzen. Ich muss nur noch einen guten Platz dafür finden.«

»Wieviele Barbecues hast du gemacht?« Er ging durch den dunklen Flur, der zu den Schlafzimmern führte. »Sind die Räume hier auch alle leer?«

»Willst du mir irgendetwas Bestimmtes sagen?« Sie schnappte sich die Tiffanylampe und trug sie ins Familienzimmer.

»Was ich sagen will, ist …«, Daddys Stimme klang auf einmal ganz belegt, »also, mir wird das selbst gerade erst klar. Aber du lebst doch gar nicht, Reg. Du existierst doch nur.«

»Hast du mal wieder zu viel Dr. Phil auf You Tube geschaut?« Reggie stellte die Lampe neben einem Stuhl ab. »Was glaubst du eigentlich, worum es bei Al und Regs Traumklassikern geht? Doch genau darum, dass ich lebe, wie du sagst. Als ich für Backlund arbeitete, da habe ich existiert. Aber jetzt mach ich, was ich wirklich will. Ich folge meiner Leidenschaft.«

»Wie lange hast du denn jetzt diesen alten Datsun?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht so ein Jahr.« Schnell nachgerechnet kam sie sogar auf den genauen Monat. »Im letzten Juli habe ich ihn gekauft. Gleich nachdem ich den 70er Nova verkauft hatte.« Den sie hatte aufbereiten wollen, wozu sie aber nie gekommen war. Deswegen war sie mit Al aufs Ganze gegangen.

Und worauf zielte Daddy mit seinen Fragen eigentlich ab? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals so anwaltsmäßig erlebt zu haben.

»Steht der gelbe Corvair noch in der Garage?«

»Also, verkauft habe ich ihn nicht.« Immerhin hatte der einmal Uroma gehört.

»Aber daran gearbeitet hast du auch nicht.«

»Es mag dir ja entgangen sein, aber ich habe das letzte halbe Jahr damit verbracht, einen 1971er Challenger auf ein hervorragendes Slant-Six-Niveau zu bringen. Danny Hayes ist ein sehr zufriedener Kunde. Und davor habe ich 65 Stunden die Woche für Backlund gearbeitet. Ich war froh, wenn ich mich selbst hin und wieder auf Vordermann bringen konnte, von einem Auto mal ganz abgesehen.«

»Weißt du, was ich glaube?«

»Ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen.« Sie lehnte sich gegen die Wand und grub ihre Zehen in den Flor des Teppichs.

»Ich habe dir Unrecht getan, Reg.«

Sie sah auf. »Was? Nein, Daddy. Wie denn? Du hast mich großgezogen. Du hast deine Abende und deine Wochenenden dafür aufgegeben, mir Vater und Mutter zu sein. Und du hast dich um Uroma gekümmert.« Ein Gefühl der Erkenntnis einer tiefen Wahrheit durchdrang ihr Herz und klopfte an die verschlossenen Türen der unbeleuchteten Zimmer in ihrem Inneren. »Wir sind nach hinten gegangen und haben uns Bälle zugeworfen und geredet. Du hast Uroma gemütlich auf einen Verandastuhl gesetzt und ihre eine Decke über die Beine gelegt.« Reggie schüttelte den Kopf. »Du hast uns beide gerettet, Daddy.«

»Uroma und du, ihr hab mich gerettet. Aber ich habe dich hängen lassen. Ich habe Teile des Hauses abgesperrt«, sagte er und machte eine vage Handbewegung zu den dunklen Räumen. »Ich habe einen Teil von mir selbst weggesperrt.«

»Du warst in Trauer.«

»Ja, aber ich hätte doch diese eine Aufgabe gehabt, dich richtig großzuziehen.«

»Mich richtig großzuziehen? Daddy, du warst doch für mich da. Jeden Tag. Jeden Abend. Du hattest deine Frau verloren. Ich hatte meine Mama verloren. Und du warst derjenige, der auf dem Posten blieb.«

»Ich habe dir beigebracht, dass man sich abschottet, wenn es schwierig wird. Ich habe dich nicht in Mamas Handarbeitszimmer gelassen, weil ich Angst hatte, dass dein Geruch ihren Duft überlagern könnte. Erinnerst du dich? Du wolltest gerne dort drinnen lernen und ihre Musik hören.«

»Aber das verstehe ich doch. Hab ich doch schon damals verstanden.« Sogar im zarten Alter von zwölf Jahren. Der Tod ließ ein Mädchen schnell erwachsen werden.

»Wir hörten auf, an Feiertagen zum Essen einzuladen und hatten auch keine Grillpartys mehr. Bettin hatte das große alte Haus auf dem riesigen Grundstück haben wollen, damit wir Feste feiern konnten. Die ganze Welt einladen. Stattdessen haben wir gelebt wie du jetzt hier, in zwei Räumen und einem Schlafzimmer. Himmel, die Hälfte der Zeit schliefen wir in Liegestühlen oder auf dem Sofa.«

»Aufzustehen und ins Bett zu gehen fühlte sich so einsam an.« Selbst jetzt schlief sie noch oft genug auf dem Sofa.

»So ging es mir auch.« Daddy seufzte und rieb sich mit der Hand das Gesicht. »Wie der Vater, so die Tochter. Reg, ich bin stolz auf dich, aber ich habe dir beigebracht, Teile deines Herzens abzuriegeln, und das tut mir leid. Ich glaube, das hat dich davon abgehalten, wirklich zu leben.«

Seine Worte taten ihr weh. Sie beleidigten sie. »Ich lebe durchaus, Daddy. Ich mache, was ich gerne machen will. Du brauchst also wegen dieser Böser-alter-Papa-Nummer nicht in Selbstmitleid zu ertrinken. Willst du mir sagen, dass du mir erst abnimmst, dass ich lebe, wenn ich das Haus aufmache, ein paar Möbel kaufe und ein oder zwei Partys veranstalte?«

Er schüttelte den Kopf. »Bei mir musste erst Sadie kommen, um mir klarzumachen, wie verstockt ich war. Es dauerte alles seine Zeit, aber als wir heirateten, fing ich an, nach vorne zu blicken.« Daddy betrachtete Reggie aus zusammengekniffenen Augen und sah aus, als würde er sich seinen nächsten Gedanken gut überlegen. »Aber mir war nie in den Sinn gekommen, dass ich dich zurückgelassen haben könnte.«

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