Die Hochzeitskapelle

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Sie sah ihm in die Augen. Suchte, forschte. Dies war jenseits dessen, was zu ihrer Persönlichkeit passte. Ja sagen zu einem spontanen Heiratsantrag, wo sie doch noch nicht einmal wusste, ob sie überhaupt etwas von „Ehe“ und „glücklich bis ans Lebensende“ hielt. Aber in seinem blauen Blick lag eine eifrige Aufrichtigkeit. Das war Liebe.

„Wag den Sprung mit mir.“ Er drückte ihre Hände und sank langsam auf ein Knie. „Taylor … Branson, willst du …“

„Du kennst nicht einmal meinen Zweitnamen.“

„Alice?“

„Nein.“

„Jean?“

„Nein.“

„Drusilla?“

„Nein.“ Mit einem Lachen und einem sanften Klaps auf den Kopf sagte sie ihm: „Jo.“

„Taylor Jo Branson, willst du mich heiraten?“

„Okay, Jack … wie auch immer … Forester …“

„Spratt.“

Sie schnitt eine Grimasse. „Du heißt Jack Spratt Forester?“

„Andrew. Jack Andrew Forester. Aber als ich Gillingham als Nachnamen benutzte, ergaben meine Initialen JAG, daher …“

„Dein Spitzname auf der Highschool.“ Endlich verstand sie. Er stand auf und barg sie in seinen Armen. „Was sagst du? Heiratest du mich?“

„Ja, Jack Andrew Forester, ich wage den Sprung. Ich heirate dich.“

Seine Lippen auf ihren waren dick und hungrig und verlangten nach ihrem Herzen. Und sie reagierte darauf, lehnte sich an ihn und ließ sich wegtreiben von den Zweifeln, die sich in ihrer Seele regten und die ihr sagten, dass Liebe niemals hielt.

Taylor stand auf, zog die Kuscheldecke vom Bett und ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. „Jack?“

Aber er schlief. Sein Kopf ruhte auf der Sofalehne, und sein Atem ging schwer und gleichmäßig. Der Sandwichteller lag wackelig in seiner schlaffen Hand.

Taylor stellte ihn auf den Couchtisch, stieg über Jacks ausgestreckte Beine und ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder. Die Luft im Raum war frisch, das Fenster zum Balkon stand offen.

Als sie Mama damals anrief, um ihr zu erzählen, dass sie Jack Forester geheiratet hatte, war die überhaupt nicht begeistert gewesen. Und ihre Schwester Emma auch nicht.

„Was um alles in der Welt …? Bist du bescheuert?“

„Deine Schwester lässt sich scheiden, und du heiratest heimlich?“

Taylor musste eine einstündige Befragung durchstehen, bei der sich ihre seit langem geschiedene Mutter und ihre frischgeschiedene Schwester abwechselten. Sie reichten den Telefonhörer hin und her und fassten all ihr neunmalkluges Wissen in dem Satz „Lass dir bloß nichts gefallen!“ zusammen.

Jack wurde wach, als Taylor die Decke über sie beide breitete. Er öffnete ein Auge: „Hey, Babe …“

Babe. Der sanfte Kosename fiel in ihr Herz wie eine Münze in eine Jukebox und ließ eine romantische Melodie erklingen. „Psst, schlaf weiter.“

„Taylor?“

„Ja, Jack?“

„Du bist heiß.“

„Ja? Du auch.“ Jack war schon in der Highschool zum bestaussehenden Jungen gewählt worden und mit den Jahren nur noch ansehnlicher geworden.

Aber ihre idyllischen Ansichten, was Romantik anging, waren durch ihren Vater und die Scheidung ihrer Eltern jäh zerstört worden, als sie fünfzehn war. Deshalb träumte sie nicht von Märchen und von weißen Brautkleidern.

Taylor griff nach der Fernbedienung und wollte gerade den Fernseher ausschalten, als eine jüngere Ausgabe von Tante Colette über den Bildschirm marschierte.

„Weißt du eigentlich, dass du auf dem Seifenopernkanal gelandet bist? Schau, da ist Colette in einer alten Folge von Morgen ist ein neuer Tag.“

Er spähte zum Fernseher. „Sieht aus wie du.“

„Also bitte, sie sieht so atemberaubend aus.“ Taylor hatte Granny Pegs kantige Gesichtszüge und ihre pralle Erscheinung. Wie Katherine Hepburn. Colette Greer war eine elegante Schönheit mit einem Gesicht wie das Mädchen-von-nebenan. Man hatte sie als die nächste Loretta Young bezeichnet.

Taylor drückte auf die Infotaste der Fernbedienung, um die Beschreibung der Folge zu lesen. „Vivica Spenser sagt wegen Unterschlagungen ihres Finanzchefs als Zeugin vor Gericht aus. Ausgestrahlt 1985.“

Colette saß mit einer typisch großen Achtziger-Jahre-Frisur und reichlich Make-up im Zeugenstand. Die Schultern hinten, das Kinn erhoben, verlieh sie Vivica Leben. Sie beantwortete die Fragen, ohne zu zögern. Als sie aus dem Zeugenstand entlassen wurde, stand sie auf, ging zum Tisch der Verteidigung, nahm ein Glas Wasser und spritzte es dem Angeklagten ins Gesicht.

„Ha, ha, ha, weiter so, Victoria.“ Taylor stupste Jack mit ihrer Hüfte an und versuchte ihn zu wecken. „Schau mal, Jack. Colette, oder eher Vivica, hat einem Mann Wasser ins Gesicht geschleudert. Dafür ist sie doch berühmt. Vielleicht könntest du sie für die FRESH-Kampagne gewinnen. Sie könnte so tun, als wäre sie kurz davor, jemandem Wasser von FRESH ins Gesicht zu schütten, und es dann doch nicht tun und sagen: ,Nein, warte mal, diese Flasche FRESH ist zu gut für dich.‘ Dann nimmt sie ein Glas mit irgendetwas, das nicht FRESH ist, und schüttet das dem anderen ins Gesicht. Verstehst du? Brillant.“ Taylor kuschelte sich in die Kissen. „Mal ehrlich, so schwierig ist das mit der Werbung doch auch wieder nicht.“

Jack antwortete darauf mit einem tiefen, ausgedehnten Schnarcher.

Sie starrte ihn an, wie er so schlief, seine Haare standen ab, seine Lippen waren rosig und süß. „Es gibt keinen Doug Voss, Jack. Es gibt nur dich.“

Aber ihm ihr Herz vor seinem wachen Gesicht auszuschütten schien ihr unmöglich. Selbst, als er ihr den Heiratsantrag machte, und dann später, als sie bei Sonnenuntergang am Strand standen und ihre Eheversprechen und zwei Platinringe tauschten, wurden die Worte „Ich liebe dich“ seltsamerweise nicht ausgesprochen. Als fürchteten sich beide davor, ihre Liebe zu erklären. Oder eine Liebeserklärung einzufordern. Aber als sie sich das erste Mal liebten und dann ein zweites und ein drittes Mal, wusste sie, dass sie ihn liebte.

Dann kamen sie nach Hause, und die Wellen des Lebens spülten über die flache Küste ihrer Beziehung – und darüber, wie sie sie sich gegenseitig bekundeten.

„Herr, wenn du mich hören kannst, hilf uns.“

Sie glaubte, dass Gott Menschen wichtig waren, dass sie Gott wichtig waren. Sonst würde das ganze Ding mit Jesus am Kreuz keinen Sinn ergeben. Aber alles, was sie hatte, war ihr Sonntagsschulglaube.

Und der Herzschlag. Den Herzschlag, den sie als Kind gehört hatte, wenn sie abends ins Bett gekrabbelt war und ihre Gebete aufgesagt hatte.

Das war der Grund, warum sie Doug verlassen hatte. Als sie mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie den Herzschlag nie gehört, wie sehr sie sich auch anstrengte. Sie hatte gewusst, dass das Licht, das in ihr brannte, im Ausgehen begriffen war.

Aber den Sprung zu wagen und mit Jack durchzubrennen – war das nicht das Gleiche in Grün?

Taylor stand vorsichtig auf und schob Jack so zurecht, dass er seine langen Beine auf der ganzen Länge des Sofas ausstrecken konnte. „Gute Nacht, Jack.“

„Tay?“

„Ja?“

„Die Salami war lecker.“

„Freut mich. Schlaf weiter.“

Zurück in ihrem Schlafzimmer, nahm sie sich eine andere Decke aus dem Wäscheschrank und rollte sich in ihrem Bett zusammen. Als sie einschlief, zeigte der Wecker 2 : 30 Uhr. Ein Gebet aus ihrer Kindheit stahl sich in ihre Träume.

… Lieber Jesus mein,

lass mich dir empfohlen sein …


Kapitel Acht

COLETTE

Park Avenue West, Manhattan

Nachdem die Aufzeichnung der Serie vorbei war, hatte Colette sich daran gewöhnt, bis zehn Uhr den Morgenmantel anzubehalten. Aber länger nicht. Sie ging bis an die Grenzen des Anstands, indem sie herumgammelte, aber das hielt sie höchstens bis zum Vormittag aus.

Zweiundachtzig Jahre hin oder her, sie hatte ein Leben zu leben. Das hoffte sie jedenfalls. Außerdem waren ihr manche Dinge einfach viel zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, um sie jetzt noch zu ändern. Seit sie sieben Jahre alt war, war sie morgens um sechs aufgestanden, um ihren Pflichten auf der Morley Farm nachzukommen. Eine Zeit, an die sie sich nicht gern erinnerte und die sie auch nicht sehr schätzte.

Eine Zeit des Krieges und des Todes. Oh, der Schmerz, wie sehr sie Mama und Papa vermisste.

Colette schaute aus dem Fenster ihrer Schlafzimmersuite. Unter ihr breitete sich der Central Park aus und erinnerte sie auf mysteriöse Weise daran, wie klein sie war, wie winzig ihr Erfolg. Im großen Ganzen war sie nicht mehr als ein kleiner Fleck. Eine Eintagsfliege in der Weltgeschichte.

Aber den Herzschmerz des kleinen Mädchens, das seine Eltern, seine Unschuld, seine eine wahre Liebe, seine Schwester, sein … alles verloren hatte, konnte nicht einmal der Central Park fassen.

Und trotzdem sehe ich dich.

 

Colette drückte sich die Hand aufs Herz. Ihr Puls raste. Das tust du wohl.

Sie hatte die innere Stimme Gottes schon einmal gehört. Hin und wieder hatte Er ihr zugeflüstert, aber sie hatte nie lange genug innegehalten, um Ihn zu fragen, was Er wollte. Tief im Inneren wusste sie es. Er wollte sie.

Aber sie konnte nicht aufgeben. Was, wenn der Allmächtige ihr so das Herz brach, wie das Leben es ihr bereits gebrochen hatte? Wo wäre sie dann? Worauf konnte sie dann hoffen?

Sie wandte sich vom Fenster, dem göttlichen Flüstern und der lächerlichen Reise in die Vergangenheit ab und zog sich ins angeschlossene Bad zurück, um zu duschen und sich anzuziehen.

Um elf Uhr war sie in ihrem Büro und wartete auf ihre Koautorin, Justine Longoria. Sie fühlte sich unruhig.

Diese ganze Ruhestandsgeschichte war eine eher unschöne Sache. Sie fand das alles höchst unangenehm. Zweiundachtzig Jahre hin oder her, sie wollte arbeiten. Sie wollte etwas tun, ihre Hände mit etwas Nützlichem beschäftigen. Leerraum gab ihr viel zu viel Zeit. Da kamen nur diese alten Erinnerungen zu Besuch.

Nein, danke vielmals. Colette hatte nie verstanden, was andere daran fanden, von den guten alten Zeiten zu träumen. Jetzt, wo Peg nicht mehr war, hatte sich Colette vorgestellt, dass die Vergangenheit endgültig mit ihr begraben wäre. Dabei lag alles nur ein paar Spatenstiche tiefer.

Aber sie fand sich selbst in Trauer, sehnte sich nach jemandem, mit dem sie über das gute alte Großbritannien sprechen konnte, über Mama und Papa, über die Kriegsjahre. Über Freud und Leid von Heart’s Bend.

Colette sank in ihren Stuhl. Justines Los würde es wohl sein, ihr zuzuhören, zu hören, was sie alles zu erzählen hatte. Ob Colette sie das dann schreiben ließ oder nicht, stand auf einem anderen Blatt.

Pegs Enkelin zu sehen hatte eine Sehnsucht in Colette geweckt, die sie seit Jahren nicht gespürt hatte. Jahrzehntelang nicht, um genau zu sein. Und noch mehr Geheimnisse drängten an die Oberfläche.

Peg hatte Colette mit eiserner Hand regiert. Sie konnte und wollte ihr Geheimnis nicht preisgeben.

Sie waren Schwestern, die mehr durch Schmerz miteinander verbunden waren als durch Liebe.

Siebzig Jahre später hatte Colette recht. Es war noch nicht vorbei. Hatte sie den Mut, darüber zu schreiben? Peg war nicht mehr da, konnte nicht mehr protestieren.

Konnte Colette die Wahrheit sagen? Darüber, was sie aus Heart’s Bend vertrieben hatte? Sollte sie die Geschichte erzählen, wie sie nie vorgehabt hatte, in New York zu bleiben? Wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, nach Heart’s Bend zurückzukehren? Wie die Schauspielerei ein Glückstreffer gewesen war, ihr Ruhm eine Farce?

„Ms. Greer?“ Ihr Mädchen für alles erschien in der Tür. „Möchten Sie vielleicht Tee?“

Zoé, eine geschäftige junge Frau, war gebildet und sportlich. Sie ging so forsch an die Arbeit, dass man das Gefühl bekam, sie wolle dadurch nur noch mehr Kalorien verbrennen. Sie war Colettes neuer Ersatz für Anna, die zwanzig Jahre lang ihre Assistentin gewesen war und die vor einem halben Jahr gekündigt hatte.

„Im Moment nicht, danke. Aber wenn die Autorin kommt, nehmen wir Tee und Sandwiches. Nichts Besonderes. Und die Bücherei und das Wohnzimmer müssten einmal gründlich gereinigt werden. Im Medienzimmer sind immer noch Zeitungen.“

„Ich werde mich heute darum kümmern.“ Und weg war die junge Frau, die so energisch ging, dass ihr Pferdeschwanz auf und ab hüpfte. Colette musste daran denken, Ford bei Gelegenheit einmal zu fragen, wie er an dieses Energiebündel gekommen war.

Pünktlich um eins brachte Zoe die Autorin ins Arbeitszimmer.

Justine war klein und süß. Ihr Haar trug sie kurz, in einem Schnitt, der ihre Gesichtszüge unterstrich. Sie trug eine Brille, was komischerweise das Einzige war, was Colette die Gewissheit gab, dass die Frau überhaupt irgendwelche Schreiberfahrungen hatte.

Autoren sollten Brillen tragen.

„Ms. Greer. Es ist eine Ehre, mit Ihnen zu arbeiten. Ich bin Justine Longoria.“

„Natürlich sind sie das.“ Colette schüttelte ihre Hand und wies dann auf den Stuhl am Couchtisch. „Bitte setzen Sie sich doch.“

Stattdessen stellte Justine ihren Laptop ab und streifte durchs Zimmer. „Diese Wohnung ist unglaublich.“ Sie beugte sich vor, um aus dem Fenster zu sehen, die geschäftige Straße hinunter. „Wohnen Sie schon lange hier?“

„Fünfzig Jahre“, sagte Colette.

„Der Park … wow. Man kann ja alles sehen von hier aus.“ Justine drehte sich zum Zimmer um und stemmte die Hände in die Hüften. „Das fühlt sich hier alles so groß an. Als könnte ich einziehen, und Sie würden es noch nicht einmal bemerken.“

„Ich nehme an, ich würde hier und da Ihre kleinen Mäuseköttel finden.“ Colette saß in ihrem Stuhl am Tischhaupt. Das war der gleiche Ort, an dem sie morgens ihren Saft und nachmittags ihren Tee trank, während sie den Wolken über der Stadt zuschaute.

„Ja, aber erst nach sehr langer Zeit.“ Justine setzte sich endlich hin und griff nach ihrem Laptop.

„Also, wie wird das hier vonstatten gehen?“ Colettes Unruhe verstärkte sich, jetzt, wo sie kurz davor war, ihre Geschichte zu erzählen. „Ich quassele vor mich hin, und Sie nehmen das auf? Oder sollen wir das als eine Art Interview machen?“

Justine öffnete den flachen Computer mit einem Apfel darauf. „Ich habe mir überlegt, dass ich aufnehme, wie wir uns unterhalten. Sie erzählen Geschichten. Ich frage nach. Der Verlag hat mir Ihren knappen Lebenslauf und etwas älteres Interviewmaterial zur Verfügung gestellt. Außerdem Ausschnitte aus der Tonight Show, Dina Shore und Michael Douglas. Dann Ihre erste Seifenoper, Leben und Liebe, wo Sie gefeuert wurden, wenn ich recht informiert bin, und Ihre ersten Tage bei Morgen ist ein neuer Tag.“

„Ich wurde ersetzt. Nicht gefeuert.“ In Wahrheit hatte man sie gefeuert, aber der Sender hatte der Presse mitgeteilt, man habe Colette „ersetzt“. Wenn sie allerdings das Buch zu ihrer Offenbarung mache wollte …

Justine tippte auf ihrer Tastatur und fragte nach dem WLAN – das war der Punkt, an dem Colette nach Zoé rief –, und nach ein paar Augenblicken erklärte Justine, sie sei so weit.

„Der Verlag hätte gern Anfang des Jahres einen ersten Entwurf. Das scheint mir machbar. Hat man Ihnen gesagt, dass sie planen, das Buch zum Jahrestag der Erstausstrahlung von Morgen ist ein neuer Tag erscheinen zu lassen? Irgendwann im nächsten Sommer, also müssen wir uns ranhalten. In der Verlagswelt haben wir jetzt schon Verspätung.“

„So denn“, sagte Colette, beugte sich vor und rief sich Vivica Spensers Mut herbei. „Was würden Sie gern wissen?“

Justine platzierte ein iPad für die Aufnahme auf dem Couchtisch, streifte die Schuhe ab und schlug ein Bein unter. Auf ihren Knien balancierte sie ihren Laptop. „Erzählen Sie mir, wie Sie nach New York gekommen sind.“

„In einem Auto.“

Sie lachte. „Einfach in einem Auto? Sie sind eines Morgens aufgewacht und haben sich selbst gesagt: ‚Ich glaube, ich steige jetzt ins Auto und fahre nach New York‘?“

„Wie sind Sie denn nach New York gekommen, Justine?“

Sie zuckte mit den Schultern und dachte nach. „Ich bin nach dem College hergekommen. Mein Freund war hier, und ich wollte in einer Kunstgalerie arbeiten. Aber in Galerien gab es gerade keine Jobs, also fing ich an, über Kunst und das Leben in der Stadt zu bloggen. Und auf einmal schreibe ich die Lebensgeschichten anderer Leute auf. Ich habe herausgefunden, dass ich eine ziemlich gute Koautorin bin. Und sieben Jahre später sitze ich nun in Ihrem Wohnzimmer.“

Justines Offenheit forderte Colette heraus. Sie antwortete ehrlich, ohne Sarkasmus.

Colette nahm Vaters altes Feuerzeug vom Beistelltisch, den einzigen Schatz, den sie aus Großbritannien hatte mitbringen können – alles andere war verloren –, und benutzte es als Requisite. „Ich bin mit Spice Keating hergekommen.“

Justine nickte und tippte. „Sie sind also mit einem hohen Tier hergekommen.“

„1951 war er noch kein hohes Tier. Nur ein junger Mann, der nach dem Durchbruch im Showbusiness strebte. Wir wussten ja noch nicht, dass er einmal Shows wie Go West oder Mulberry Street produzieren würde.“

„Meine Mutter hat Mulberry Street geliebt. Sie war eine der Glücklichen, deren Ursprungsfamilie genauso war wie in der Serie. Zu schade, dass sie selbst keinen Ehemann gefunden hat, mit dem sie ihren Kindern das gleiche Glück hätte bereiten können.“

„Bei Spice war es genauso. Mulberry Street war die Geschichte der Familie, die er immer haben wollte. Nicht die, in der er aufgewachsen ist.“ Colettes erste ehrliche Beichte fühlte sich gut an. Selbst wenn es dabei um Spice ging.

„Meine Familie schaut sich jedes Jahr die Wiederholungen um Weihnachten herum an. Meine Mutter hat sich für unsere Sicherheit und unser Glück die Finger wundgearbeitet, sie hat versucht, uns unsere eigene Version von Mulberry Street zu erschaffen.“ Justine fuhr sich mit der Hand durchs Haar und ruinierte dabei ihre Frisur. Jetzt stand es ihr wirr vom Kopf ab. „Das war ein schlimmer Verlust für die Unterhaltungsindustrie, als Spice Keating starb.“

„Ja, er war viel zu jung. Erst zweiundfünfzig.“

„Er hat auf großem Fuß gelebt, nach dem, was man so hört. Waren Sie in ihn verliebt?“

„Verliebt?“ Colette spielte mit dem Feuerzeug, drehte es in ihren Händen hin und her. „Nein, nein, wir waren Freunde. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich 1951 wusste, was Liebe überhaupt bedeutete.“ Die Worte bohrten sich in ihr Herz und fraßen sich tief ein. Lüge. Sie hatte gewusst, was Liebe bedeutet. Sie trug einen Namen – Jimmy Westbrook.

„Wie haben Sie Spice kennengelernt?“

„An der Highschool. Und dann waren wir offenbar gleichzeitig bereit für eine Veränderung. Ich wollte weg, und Spice bot mir eine Mitfahrgelegenheit an.“

„Wie kam es zu dem Vorsprechen für Ihre erste Seifenoper, Leben und Liebe?“ Justine schien die Fragen aus ihren Notizen auszugraben.

„Spices Cousine arbeitete bei der Produktion. Sie hat es geschafft, dass wir beide zum Vorsprechen eingeladen wurden.“

„Wollten Sie schon immer Schauspielerin werden?“

„Meine Güte, nein. Ich hatte vorher noch nie geschauspielert, aber ich hatte eine Menge Gefühle in mir aufgestaut, auf die ich zurückgreifen konnte. Ich hatte einen Krieg und eine Schiffsreise nach Amerika überlebt und war in eine Kleinstadt nach Tennessee zu Verwandten gezogen, die ich vorher noch nie getroffen hatte. Ich hatte Angst und war aufgeregt, ich fürchtete mich und war voller Hoffnung.“

„Wovor hatten Sie Angst? Vor dem Tod? Vor dem Alleinsein?“

„Vor dem Leben.“

„Einfach dem Leben an sich?“

„Der Krieg malt das Leben in sehr beängstigenden Farben.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Justine überflog ihre Notizen, während sie etwas auf ihrem Computer tippte. „Sie und Ihre Schwester wurden während der Bombardements auf London aus der Stadt geschickt.“

„Im August 1939. Da war ich gerade sieben. Peg war acht. Wir wurden in einen Zug gesetzt und zu einer Familie aufs Land geschickt. Mein Vater war Pilot bei der Royal Air Force, und meine Mutter arbeitete bei der Fernmeldetruppe. Ich hatte furchtbare Angst davor, sie zu verlassen. Ich war überzeugt davon, dass ich sie nie wiedersehen würde.“

„Und haben Sie sie denn wiedergesehen?“

„Meine Mutter nicht. Weil Peg und ich so jung waren, hielt Papa es für das Beste, dass wir nicht an ihrer Beerdigung teilnahmen. Erst hinterher kam er zu uns und hat uns erzählt, dass Mama jetzt im Himmel in Sicherheit sei und dass sie bei ihm wäre, wenn er durch die Wolken flog.“

Justine sah auf, betrachtete Colette und flüsterte leise: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“

„Nein, das will man sich auch nicht vorstellen.“

„Also blieben Sie bei Ihrer Gastfamilie?“

„Papa wollte unser Leben nicht durcheinanderbringen. Und es gab ja auch keinen Ort, wo wir sonst hätten hingehen können. Unsere Großeltern waren nicht in der Lage, sich um uns zu kümmern, und Mamas Schwester lebte hier, in Amerika. Papa sahen wir im Laufe der Jahre immer wieder. Immer, wenn er es einrichten konnte, kam er uns auf der Farm besuchen.“ Colette lächelte. „Ach, das waren glückliche Zeiten.“

 

„Und wann starb er?“ Justine schrieb auf ihrem Computer.

„Bei der Luftschlacht um Berlin ‘44. Er wurde abgeschossen.“

Justine schüttelte den Kopf und starrte dann Richtung Fenster. „Man hört von der Geschichte, man liest davon, man sieht Geschichte in Filmen oder im Fernsehen, aber man begreift nie, welchen Einfluss sie auf die Menschen hat, bis man jemanden kennenlernt, der dabei war.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Colette. „Wie haben Sie davon erfahren? Dass Ihr Vater gestorben ist, meine ich? Ein Telegramm? Und wie haben Sie sich da gefühlt? Ängstlich? Allein?“

„Unsere Gastfamilie hat es uns gesagt. Und ja, wir fühlten uns sehr alleine. Wir hatten große Angst.“

„Wer war Ihre Gastfamilie?“

„Die Morleys. Eine Bauernfamilie in Carmarthenshire, in Wales.“

„Die hatten keine eigenen Kinder?“

„Doch, einen Sohn. Nigel.“ Colette setzte sich anders hin. Sie hatte Nigel nie besonders gemocht.

Justine lächelte. „Das ist alles sehr gut, aber wir kratzen nur an der Oberfläche, wenn wir ins Leben der großartigen Colette Greer einsteigen wollen.“

„Die großartige Colette Greer war nichts weiter als ein dummes Mädchen, das eine dumme Schauspielerin geworden ist, die sechzig Jahre lang dieselbe dumme Frau im Fernsehen gespielt hat.“ Sechzig Jahre. War sie mehr Vivica als Colette?

Wenn Justine schlau war – und Colette hatte den Verdacht, dass sie das sein könnte –, würde sie nach und nach die Wahrheit entdecken. Colette war nie ein Mädchen auf der Suche nach einem Abenteuer gewesen oder eines, das sich danach sehnte, im Rampenlicht zu stehen. Sie war ein Mädchen gewesen, das nach einem Ort suchte, an dem es sich verstecken konnte.

„Wie steht es mit Freunden, Geliebten? Sie sagten, es sei nichts gelaufen zwischen Ihnen und Spice, aber Sie waren, nein, Sie sind eine schöne Frau. Sie müssen zahlreiche Verehrer gehabt haben.“

„Sind Sie verheiratet, Justine?“

Sie seufzte. „Nein, bin ich nicht.“

„Was ist mit dem Jungen passiert, für den Sie hierhergezogen sind?“

„Wir haben uns getrennt.“

„Haben Sie jetzt einen Freund?“

Sie rubbelte mit der Daumenkante über ihre Stirn. „Ich arbeite zu viel.“

„Also verstehen Sie es ja. Manchmal schlägt das Leben einen Pfad ein, der nicht zur Liebe führt.“

„Das ist ein morbider Gedanke. Ich will heiraten, vielleicht nach Long Island ziehen und Kinder haben.“

„Manchmal steht es eben nicht so in den Karten“, sagte Colette und streckte ihren steifen Rücken. Mit den Händen wies sie auf die Wände ihres Penthouses. „Hierher hat mein Leben mich gebracht, und ich bin damit ganz zufrieden.“

„Aber Sie hatten doch Liebhaber, oder? Nur eben keine Ehemänner.“

Colette legte den Finger auf die Lippen. „Pscht, Liebes. Eine Dame spricht nicht über solche Dinge.“

„Wirklich? Weil ich einen Vertrag habe, in dem steht, dass ich Ihre ganze Lebensgeschichte aufschreiben soll.“ Justine sah Colette mit zusammengekniffenen Augen an. „Was erzählen Sie mir denn da nicht? Wenn Sie so ausweichen, klingt das in meinen Ohren ganz nach einem, der entwischt ist.“

Colette drückte sich das Feuerzeug in die Handfläche.

„Colette, gab es da jemanden, der Ihnen entwischt ist? Einen Verflossenen?“

„Vielleicht. Oder vielleicht bin ich auf einmal zu Verstand gekommen und habe ihn ziehen lassen.“


September 1948

Nach dem Flutlicht

Tante Jeans große, warme Küche war gefüllt mit Licht und dem Lachen rotwangiger Jungs. Cousin Clem war mit vielen gutaussehenden Burschen befreundet, stramm und robust durch den vielen Sport.

Colette saß zwischen ihnen und nippte an ihrem Eistee, einem Getränk, das neu für sie war und das sie sehr mochte. In Carmarthenshire trank man meistens heißen, bitteren Tee oder schwarzen Kaffee ohne Zucker, denn der war während des Krieges ein seltener Luxus.

Onkel Fred erlaubte Clem, jeden Freitag nach den Spielen Partys zu veranstalten, solange sich die Jugendlichen benahmen und hinterher beim Aufräumen halfen. Obwohl sie erst seit einem Monat in Heart’s Bend lebte, fand Colette diese Partys wunderbar. Sie waren eine großartige Gelegenheit, neue Freunde kennenzulernen.

Durch Clem wurden Peg und sie in der Schule schnell akzeptiert. Die Jungens grüßten Colette, wenn sie durch die Flure ging. Die Mädchen bestanden darauf, dass sie in der Mittagspause mit ihnen aß. Alle mochten ganz besonders Peg, die mit ihren rotbraunen Locken, neugierigen braunen Augen und dem kleinen Schmollmund klassisch „hübsch“ war. Neuerdings hatte sie angefangen, Lippenstift aufzutragen, und Tante Jean sagte kein Wort dazu.

Peg verzauberte die anderen auch durch ihre Begabung, Dinge nachzuahmen. Stimmen. Zeichnungen. Handschriften. Sie imitierte Shakespeares Handschrift nach einem Foto, das im Schulflur hing, und verursachte bei ihrem Englischlehrer beinahe einen Herzinfarkt, als sie behauptete, es sei ein Original. „Das Stück befindet sich schon seit Generationen im Besitz unserer Familie.“

Wie sich die anderen auf Mr. Bruners Kosten amüsiert hatten.

Letzte Woche schrieb Peg einen Brief für einen der Oberstufenschüler, Larry, der die Schule geschwänzt hatte, um seine Freundin in einer anderen Stadt zu besuchen. Er brachte den Einkaufszettel seiner Mutter als Vorlage mit. Pegs Abschrift war makellos.

Larry war mit einem breiten Lächeln aus dem Büro der Schulleitung gekommen und hatte Peg den erhobenen Daumen gezeigt.

Sie wollte gern, dass ihr Talent ein Spaß war. Eine Art, Beliebtheit zu erlangen. Aber in der letzten Woche hatten noch drei Weitere nach ihren Diensten gefragt.

Colette hatte sie erst am Vorabend gewarnt. Die Gewohnheit könnte ihr Untergang werden.

„Die werden dich erwischen, glaube mir. Du glaubst, du tust was Gutes, aber das tust du nicht.“

„Du bist so eine Schwarzseherin. Lass mich in Ruhe, ich habe Spaß dabei. Warte nur, bis ich mir einen Brief von Prinzessin Elizabeth schreibe.“

Ihr Lachen ließ es Colette eiskalt über den Rücken laufen. „Du kannst doch nicht …“

„Wir haben schon das Schlimmste durchgestanden, was es geben kann.“ Peg schürzte die Lippen und senkte die Stimme. „Wie in aller Welt kann denn nach so etwas ein bisschen Täuschung jemandem wehtun?“

„Du hast gesagt, wir sollen nicht über ihren Tod sprechen.“

„Hast du mich darüber sprechen gehört? Ich habe nämlich ganz sicher nichts gehört.“ Peg knipste das Licht aus. „Schlaf jetzt.“

„Schlafen? Nein. Jetzt will ich darüber reden, wo du schon davon angefangen hast.“ Colette schaltete das Licht wieder ein. „Peg …“ Aber ihre Schwester war verstummt, hatte sich von ihr weggedreht und ließ sie allein mit ihrer Trauer.

Aus dem Wohnzimmer drang Musik in die Küche und holte Colette wieder in die Gegenwart zurück. Sie wirbelte herum, um zu sehen, wie Clem den Teppich aufrollte und sich die hübsche Sharon Hayes schnappte, um mit ihr den Jitterbug zu tanzen. Er drehte sie immer und immer wieder, bis ihr Rock sich aufblähte und ihr langer blonder Pferdeschwanz auf ihren Schultern hüpfte.

„Los geht’s, Leute, ab auf die Tanzfläche.“ Einer der anderen Jungs rannte an ihr vorbei. Er zog ein dunkelhaariges Mädchen mit runden Hüften hinter sich her. „Wir können Clem nicht den ganzen Spaß allein überlassen.“

Die Burschen schnappten sich die anderen Mädchen, und Peg, die ganz gut im Jitterbug geworden war, seit sie in Heart’s Bend lebten, tanzte mit einem Typen namens Spice.

Colette liebte es zu tanzen. Sie übte in ihrem Zimmer vor dem Spiegel. Aber sie würde sich nicht trauen, mit einem dieser Knaben hier zu tanzen. Als Peg sie erwischte, wie sie den Boogie-Woogie übte, hatte sie gelacht und ihr gesagt, sie sehe dämlich aus.

Clem landete mit einem Satz vor ihr und erschreckte sie. Mit großer Geste verbeugte er sich vor ihr. „Meine liebe englische Kusine, dürfte ich um diesen Tanz bitten?“

„Oh, ich weiß nicht.“ Sie würde sich so unsicher fühlen. „Ich habe noch nie richtig geta…“

„Keine Sorge.“ Clem nahm ihre Hand und zog sie auf die Beine. „Ich zeig’s dir.“

„Nur zu, Süße, tanz.“ Tante Jean nahm Colettes Eistee und drängte sie aus dem Stuhl heraus. In ihren freundlichen Worten klang ihre englische Herkunft durch, und ihre leuchtenden Augen waren denen Mamas so ähnlich.

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