Schreitod im Mordenrot

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Pseudo Nym

Schreitod im Mordenrot

Noch ein Fall für Kommissar Zufall

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der letzte Schrei

Reisen bildet ein

Die Wende vor dem Ende - Ein Hoch auf die Zeit!

Impressum neobooks

Der letzte Schrei

In Passau, der Diözese mit den prozentual meisten Katholiken deutschlandweit, war der Teufel los. Und das buchstäblich in jedem nur denkbaren Sinne. Eine junge Studentin war in einem Studentenwohnheim tot aufgefunden worden und weil niemand so recht wußte, warum oder woran sie gestorben war, schossen die wildesten Spekulationen ins Kraut. Gerüchte machten nicht nur zu vorgerückter Stunde die Runde und es wurde diskutiert sowie debattiert was das Zeug hielt. Auch Reiner Zufall und seine ehemalige Polizeikollegin Levina kamen da nicht umhin, über jenen mysteriösen Fall zu sprechen und das taten sie ausnahmsweise nicht im "Gasthaus zum geschwätzigen Ochsen", sondern in einem gemütlichen Café in der Innenstadt. Bei Kaffee und Kuchen saßen sie zusammen und auch wenn die junge Frau in Gedanken schon bei ihrer fast unmittelbar bevorstehenden Hochzeit war, so stellte auch sie sich die Frage nach dem Warum. "Ich verstehe das einfach nicht: Eine junge Studentin steht während der Geisterstunde an ihrem Fenster und schreit sich die Seele aus dem Leib", äußerte sie fassungslos. "Ja, es gibt da halt manchmal einfach Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir uns nicht erklären können", stimmte ihr der Altmeister unter den Kriminalisten betrübt zu. "Sie kam aus einem recht kleinen Ort im Bayerischen Wald und dort hat man sie sehr christlich erzogen. Ich weiß zwar nicht, ob uns das bei der Suche nach der wahren Todesursache weiterhelfen wird, aber möglich wäre es immerhin." Er schaute sie eindringlich an: "Wir müssen bei dieser Sache schon ganz genau bleiben. Die Todesursache steht ja mittlerweile fest, es war ein Herzinfarkt. Ausgelöst wurde er höchstwahrscheinlich durch einen Schreikampf und es gilt herauszufinden, was genau eigentlich zu jenem Brüllausbruch geführt hat." Sie nickte dankbar und bestätigte: "Ja, ganz genau, Du bringst es mal wieder auf den Punkt. Reiner, ich hab da ein kleines Problem: Wie Du weißt heirate ich schon sehr bald und um ehrlich zu sein, habe ich da gerade keine Zeit und irgendwie auch keine Lust darauf, mich andauernd in diesem üblen Studentenmilieu zu bewegen, weil ja bekannt ist, daß es die meisten Studentinnen und Studenten mit der Treue nicht so ernst nehmen", laberte sie drauflos und er blickte sie sowohl irritiert als auch sehr verwundert an. Sie mampfte noch schnell das letzte Stück Kuchen in sich hinein und erläuterte danach, wobei sie ihre Worte mit wilden und eindringlichen Gesten untermauerte: "Ich begebe mich ja in wenigen Tagen in den eiligen, äh, natürlich heiligen Bund der Ehe und da möchte ich nicht so kurz vor meiner Hochzeit noch in Versuchung geraten. Diese Studenten sind manchmal ganz schlimme Finger und wenn sie es mit einer jungen Polizistin zu tun haben, dann werden sie oft nicht nur frech sowie unverschämt, sondern auch ganz schön anzüglich. Ich möchte, was das betrifft, nicht in Versuchung geraten und deshalb würde ich Dich darum bitten, an meiner Stelle die Untersuchungen im Studentenmilieu durchzuführen." Zufall sah sie ein wenig skeptisch an, trank einen Schluck Kaffee und erwiderte dann: "Soll das heißen, mich könne man zu diesen Partnertauschern schicken, weil bei mir der Ofen ja ohnehin schon längst aus ist?" forschte er schon ein wenig verärgert. "Nein, so hab ich das natürlich überhaupt nicht gemeint. Deine Kompetenz und Deine Erfahrung sind es, die Dich für diesen Fall prädestinieren", bauchpinselte sie ihn ganz schnell, bevor er das Interesse an der delikaten Angelegenheit verlor. "Also gut, Du hast mich überzeugt. Aber was wird der Polizeipräsident dazu sagen?" hakte er noch einmal nach. "Der hat da bestimmt nichts dagegen. Erstens schämt er sich immer noch dafür, daß er Dich von einem SEK überwältigen ließ und zweitens schwärmt er in den höchsten Tönen von Dir, seit Du den Mörder von Fallou ganz allein gefunden und ins Gefängnis gebracht hast." "Ja, aber der wurde leider auch nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags im Affekt verurteilt", moserte Reiner mißmutig herum und danach durfte, beziehungsweise mußte, er sich mal wieder Levines Schwärmereien von ihrem in Kürze bevorstehenden phantastischen Hochzeitstag anhören. Armer alter Mann!

Andererseits brauchten die meisten Leute in ihrem Leben halt schon was zu tun, von daher war der ehemalige Kriminalhauptkommissar Reiner Zufall auch nicht wirklich böse darüber, auf diese Art und Weise einen völlig neuen Auftrag und Fall erhalten zu haben, denn in seinem doch schon fortgeschrittenen Alter konnte quasi jeder Fall sein letzter sein. Erst einmal begab er sich zum Studentenwohnheim, in dem die junge Frau sich zu Tode geschrien hatte und als er dort eine Weile lang relativ ziellos herumstromerte, kam ein älterer Mann auf ihn zu und erkundigte sich in tiefstem oberpfälzischen Dialekt: "Sakklzefix, scho wida sua a Journalist. Wos wolln Si dou?" "Ich bin von der Kriminalpolizei und ermittle hier im Todesfall von Annemarie Fulterer", ließ der Angesprochene von sich hören." "Na, dou hom Sie sich oba a ganz a blayde Sach asgsoucht. Oba san Sie niat a bissl zu old für den Job?" Reiner schaute den Anderen ein wenig gekränkt an, nickte danach aber nachdenklich und bekannte: "Eigentlich bin ich schon im Ruhestand, aber hin und wieder wird der alte Ackergaul noch mal aufs Schlachtfeld gerufen." Der Hausmeister stellte seinen Schubkarren hin und palaverte: "Jo mei, sua is es Lem, dou komma nix machn. I für mein Teil bin frou, wenn i den ganzn Scheißdreck endli hinta mir ho." Zufall nickte scheinbar verständnisvoll, was dazu führte, daß sich der Hausmeister verstanden fühlte, was zur Folge hatte, daß er einen kurzen Monolog begann: "Wissns, heitzudog is dees echt nimma leicht mit dene junga Krippl. Day dadn am liebstn mit mir a blouß no mit Smartphone kommuniziern, verstengas? Oba niat mit mir! I bin a Mensch as Fleisch und Bloud, koi Maschin. Way i ghert ghobt ho, daß dou a jungs Moidl gschturm is, weils si zu Doud gschrien houd, hobi mir zerrst dacht, day houd holt an Kommilitonen nackt gseng." Reiner verstand den Mann vom Dialekt her einigermaßen gut, aber der Inhalt der Sätze seines aktuellen Gesprächspartners machte ihm doch ziemlich zu schaffen. "Also ich weiß nicht, ob man darüber echt Witze machen sollte", gab er deshalb zu bedenken und runzelte dabei seine faltige Stirn. "Dees wor koi Witz gwen. A Witz vo mir gayt beispielsweise sua: Wos souchn di Passauer Ministrantn am Sunndog nou Korfreidog? Die Ostereier." Reiner Zufall verzog angewidert das Gesicht. "I sig scho, dees gfallt Erner niat sua. Schod, i hayt no vill mehr vo der Sortn. Jo, day junga Dinga. I ho jo an Schlüssl für jeds Zimma und manchmal setz i mi nachts zu so oiner hübschn Studentin ans Bett. I beobachts a Weil ways dou schlouft und dann hull i ma oin unta." Der ehemalige Kommissar starrte den Hausmeister des Studentenwohnheims völlig entsetzt an. "An Schokokeks as da Packung im Küchenschrank ganz urm. Dees merkn day doch überhappst niat. Wos hom Sie denn denkt?" "Guter Mann, seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich habe heute noch ein paar Gespräche zu führen und Sie", Reiner deutete auf den gefüllten Schubkarren, "haben bestimmt auch noch was vor." "Jo, dees stimmt scho, oba i bin dou flexibl. I bin mei eigena Chef und deswegn konn i machn wos i wül und wann is wül." Daraufhin trennten sich die Wege der beiden älteren Männer und Zufall atmete sehr erleichtert auf. Er glaubte zwar nicht daran, daß der Herr Hausmeister irgendetwas mit dem Tod der jungen Studentin zu tun hatte, aber es gab ganz sicher angenehmere Zeitgenossen als jenen Rasenmähermann mit dem arg schlüpfrigen Humor, der manchmal so derb rüberkam, daß es selbst einem gestandenen Niederbayern ab und zu beinahe die Sprache verschlug. "Hopfen und Malz, Gott segne die Oberpfalz", dachte sich der Beamte etwas ironisch und traf sich wenig später mit einer jungen Studentin, die von sich behauptete, eine der besten Freundinnen von der Toten gewesen zu sein. "Erst einmal herzliches Beileid", begann der erfahrene Kripomann ganz vorsichtig. Sie schaute ihn traurig an, nickte danach dankbar und begann daraufhin mit ihrer Litanei: "Danke. Ich bin Yolanda, aber alle meine guten Freunde nennen mich Yola. Egal, die Annemarie und ich, wir haben uns hier beim Studium kennengelernt und wir waren ziemlich schnell unzertrennlich. Dabei sind wir so unterschiedlich gewesen. Sie war tief religiös und hat immer so voll düstere Spukgeschichten aus ihrer Heimat erzählt, ich dagegen bin überzeugte Agnostikern und glaube nur an die Wissenschaft. Jedenfalls mochten wir uns sehr und haben auch in unserer Freizeit viel zusammen unternommen." Der Kommissar glaubte eine erste Spur entdeckt zu haben, weshalb er sich kurz räusperte, damit die Studentin zu reden aufhörte und fragte: "Was für Spukgeschichten?" "Na ja, so Sachen von einer weißen Frau und lauter solches echt krasses Zeug halt . Dort im tiefsten Bayerischen Wald, von wo die Annemarie ja halt mal herkommt, wird es ja immer sehr bald dunkel und es bleibt ewig lang Nacht, von daher kursieren in der Gegend jede Menge Spukgeschichten. Eigentlich ganz unterhaltsam und nicht wirklich der Rede wert, außer halt wenn man daran glaubt", schnatterte die junge Frau ganz angeregt weiter und der Polizist wünschte sich, daß sie wenigstens etwas langsamer reden würde, denn von ihrem Sprechtempo bekam er schön langsam Kopfweh. Wenn Sie halt wenigstens irgendetwas Sinnvolles geplaudert hätte, aber so! "Moment, was soll das mit der weißen Frau?" wollte er wissen. Sie schaute ihn ein wenig genervt an, ließ sich dann aber doch noch dazu herab, ihm zu antworten: "Also gut, wenn Sie es so genau wissen wollen, dann meinetwegen gern. Ich halte das alles zwar für absoluten Humbug, aber womöglich hat es etwas mit dem Fall zu tun. Immer wieder gab es im Bayerischen Wald äußerst schwere Verkehrsunfälle und häufig gaben die verletzten Autofahrer im Krankenhaus an, in ihrem Auto hätte plötzlich auf der Rückbank eine weiße Frau gesessen, was sie so erschrocken hätte, daß sie das Lenkrad verrissen haben und deshalb entweder in ein anderes Auto, oder an einen Baum, oder halt in die Leitplanken gefahren sind. Annemarie glaubte diese Geschichten und hat mir auch hin und wieder erzählt, sie hätte in der Wohnung gegenüber immer um Mitternacht auch so eine weiße Frau gesehen. Ich hielt das für völligen Unsinn und habe mich deswegen über sie lustig gemacht, sie aber blieb bei ihrer Meinung und beharrte darauf, daß diese weiße Frau es auf sie abgesehen hätte und sie vermutlich eines Tages holen würde." Nun war Reiner Zufall sowohl baff als auch sprachlos. Er hatte in seinem Leben als Kriminalist ja schon so Einiges gehört gehabt, doch so eine Story war ihm noch nie zuvor untergekommen. "Sie können mir das alles ruhig glauben, aber auch gerne im Internet recherchieren. Dort feiern Autoren, die Geschichten von unerklärlichen Phänomenen, insbesondere in der hiesigen Region, veröffentlichen, richtig große Erfolge, vor allem bei den jungen Leuten", versicherte sie ihm und verabschiedete sich danach ganz schnell, denn sie hatte angeblich ein ganz wichtiges Seminar, bei dem sie auf gar keinen Fall zu spät kommen dürfe, weil man sonst die unangenehmen Aufgaben delegiert bekommen würde. Reiner bedankte sich bei ihr für das Schauermärchen und ließ sie bereitwillig ziehen, denn er fand jene Yolanda ziemlich anstrengend und war froh darüber, ihrer Stimme, die ihm teilweise wie ein Maschinengewehr vorgekommen war, wieder entgangen zu sein. Zwar hätte er sich schon noch gerne ein wenig auf dem Gelände des Studentenwohnheims umgeschaut, insbesondere, da dort ja die junge Studentin ihren Tod gefunden hatte, doch da er befürchtete, noch mal auf den sehr sonderbaren Hausmeister zu treffen, verzog er sich lieber und begab sich statt dessen in die wunderschöne Altstadt von Passau, wo reges Treiben herrschte, denn auch den Touristen sagte jene Dreiflüssestadt unheimlich zu, weshalb es täglich Unmengen von ihnen gab.

 

Eigentlich verkehrte jemand wie Kommissar Zufall nicht in Studentenkneipen, doch in diesem Fall blieb ihm halt gar nichts Anderes übrig und so sorgte er mit seinem Erscheinen in der "Unkopier-Bar" für großes Aufsehen, denn die dort anwesenden Studentinnen sowie Studenten erkannten natürlich sofort, daß es sich bei dem älteren Herren definitiv um keinen ihrer Professoren handelte. "Ich bin von der Kriminalpolizei und ermittle im Todesfall von Annemarie Fulterer. Kennen Sie hier drin jemanden, der sie gekannt haben könnte?" begehrte Reiner von der Frau am Tressen zu wissen. Die beratschlagte sich kurz mit einem studentischen Barkeeper und deutete dann auf einen jungen Mann mit dunklen Locken, der allein in einer Ecke saß. "Balthasar war mit ihr befreundet, soviel ich weiß. Ich glaube, die waren auch Beide in der christlichen Gemeinde hier aktiv", ließ sie sich entlocken. Zufall bedankte sich und begab sich daraufhin zu besagtem Studenten, den er mit einem lauten sowie deutlichen "Grüß Gott!" begrüßte. "Grüß Gott! Sind Sie etwa auch ein Glaubensbruder?" wollte der Angeredete erfreut wissen. "Damit kann ich leider nicht dienen. Das Einzige, woran ich wirklich voller Überzeugung glaube, ist die menschliche Dummheit", gestand der Bulle ohne Pulle. "Willkommen im Klub! Was wünschen Sie?" "Eine Auskunft. Es heißt, Sie wären mit der Annemarie Fulterer befreundet gewesen." Da bekam der junge Mann plötzlich ganz glänzende Augen und schwärmte: "Ach ja, die Annemarie, die war so ein fesches und keusches Mädel. Schade, daß der Herrgott sie so früh zu sich gerufen hat", bedauerte er und trank danach einen Schluck von seinem Fruchtsaft. "Meine Aufgabe besteht darin, herauszufinden, ob das wirklich Ihr Herrgott gewesen ist, oder ob es nicht doch andere Gründe für ihr plötzliches Dahinscheiden gab", machte Reiner deutlich und der Andere schaute ihn ganz erschrocken an, bevor er insistierte: "Wie meinen Sie das?" "Nun ja, es ist schon etwas sehr ungewöhnlich, daß so eine junge Frau auf einmal so schnell ihren letzten Atemzug macht. Sogar noch ungewöhnlicher, als Ihr sehr spezieller Name, mein lieber Balthasar." Jener schaute den Kommissar verwirrt an, bevor er forschte: "Was soll das heißen?" "Nichts, gar nichts. Ich finde nur, daß der Name Balthasar hier bei uns nicht sonderlich verbreitet ist." "Allerdings, da kann ich Ihnen nur zustimmen. In der christlichen Gemeinde, in der ich aktiv bin, amüsieren sie sich auch immer köstlich darüber. Dort habe ich meistens den Spitznamen Kasper, manchmal nennt man mich auch Melchior. Das sind halt richtige Scherzkekse dort." Der Ermittler setzte sein Pokerface auf und blieb dran: "In der Tat, das hört sich nach richtigen Humorgranaten an. Was machen Sie denn so in dieser christlichen Gemeinde?" "Na ja, wir beten, singen Lieder, spielen auch Theater, besuchen viele Gottesdienste, kümmern uns um sozial Schwache und Benachteiligte, Nächstenliebe und so Sachen halt." "Und die Annemarie war da auch immer voll dabei, oder?" "Oh ja, die war sehr engagiert und auch unheimlich motiviert. Ihr hat es immer große Freude bereitet, anderen Menschen zu helfen." "Können Sie sich erklären, was sie da so zu Tode erschreckt hat? Ihre Freundin Yolanda erzählte irgendetwas von einer weißen Frau." "Das kann dann aber nur die Mutter Gottes gewesen sein, die unsere liebe Annemarie zu sich gerufen hat", platzte es aus dem Lockenkopf heraus und Reiner verdrehte genervt die Augen. Wenig später hatte er sich bereits verabschiedet und den Rückzug angetreten, denn ihm war klar geworden, daß von jenem jungen Studenten nichts Substantielles oder sonderlich Erhellendes mehr zu erwarten gewesen wäre.

Deswegen versuchte er es lieber bei der hohen Geistlichkeit, also in dem Fall bei dem Pfarrer, der in der Gemeinde aktiv war, in der sich in Passau auch Annemarie Fulterer engagiert hatte. Sie saßen zusammen in einem Beichtstuhl, also jeder an dem für ihn vorgesehenen Platz, damit sie nicht etwa belauscht oder anderweitig abgehört wurden und Reiner stellte seine allererste Frage: "Wie gut kannten Sie Annemarie Fulterer?" Der Gefragte antwortete erst nach kurzem Zögern: "Nun ja, wie gut man sich in einer christlichen Gemeinde eben kennt. Annemarie war sehr zurückhaltend, fast schon ein wenig menschenscheu, nicht gerade eine Entertainerin, wenn Sie verstehen was ich meine." "Ich glaube schon. Aber das ist auch das Einzige, woran ich glaube. Jedenfalls hatte sie Angst vor einer weißen Frau, die sie nachts immer zu sehen glaubte. Was können Sie mir dazu sagen?" "Also wir hier in der katholischen Kirche haben höchstens Angst vor dem Leibhaftigen, vielleicht manchmal auch vor dem Papst, dem Bischof oder dem Generalvikar. Aber ich glaube, ich weiß, worauf Sie anspielen. Als Kaplan bin ich nämlich im Bayerischen Wald in einer Pfarrgemeinde aktiv gewesen und dort kursierten auch diese wilden Geschichten von der weißen Frau, die da irgendwelche Autofahrer einfach in den Tod gerissen haben soll." Zufall horchte auf. Er fand es durchaus bemerkenswert, daß selbst dem Pfarrer solche Spukgeschichten vertraut waren. Die Mimik und die Gestik des Geistlichen konnte er im dunklen Beichtstuhl nur sehr eingeschränkt wahrnehmen, deshalb achtete er um so stärker auf dessen Worte und ihre Betonung. "Und was halten Sie von diesen Stories?" hakte er interessiert nach. "Alles nur Aberglauben, nicht wirklich ernst zu nehmen, aber halt leider auch nicht zu unterschätzen. Ich kannte da im Bayerischen Wald einen Taxifahrer und der hat mir im Vertrauen erzählt, daß es bei ihm auch schon vorgekommen wäre, daß da nachts öfter mal eine weiße Frau in seinem Auto aufgetaucht wäre. Er behalte dann immer voll die Ruhe und behandle sie wie einen ganz normalen Fahrgast, wenngleich er natürlich weiß, daß sie das nicht ist. Außerdem bezahlt sie ja auch nicht für ihre Fahrt, aber er lasse sich von ihr ganz einfach nicht aus der Fassung bringen. Schwierig werde es nur, wenn Fahrgäste im Taxi sitzen und die weiße Frau dann plötzlich darin auftaucht. Manche nehmen sie nicht wahr und bekommen von ihr nichts mit, bei denen ist das alles natürlich kein Problem. Aber Andere flippen richtig aus und wollen sofort aussteigen, weil sie glauben, daß es in seinem Taxi spuken würde. Wieder Andere machen den verhängnisvollen Fehler, mit der weißen Frau ein Gespräch zu beginnen und die erzählt ihnen dann ihre ganze unglückliche Lebensgeschichte." "Und was ist daran so schlimm?" wunderte sich der Kriminalbeamte. "Sie bekommen großes Mitleid mit ihr und wollen ihr helfen. Sie lassen sich total auf sie ein und das führt sie letztendlich ins Verderben. Der Taxifahrer hat mir glaubhaft versichert, daß alle Fahrgäste, die sich auf die weiße Frau eingelassen hätten, früher oder später tot gewesen wären." Schön langsam zog ein schauderndes Frösteln durch Zufalls Körper. "Ich glaube, ich habe genug gehört", urteilte er. "Glauben heißt nicht wissen", konterte der Pfarrer. "Daß ausgerechnet Sie so etwas sagen, bedeutet schon so Einiges. Was halten Sie von dem Ganzen?" "Na ja, um ehrlich zu sein, der Taxifahrer ist kein übler Kerl, aber meiner Meinung nach hat er das alles ziemlich aufgebauscht, um sich wichtig zu machen. Im Grunde steht er bei der Geschichte ja als toller Held da, weil er den Kontakt mit der weißen Frau halt als Einziger überlebt hat", bilanzierte der Beichtvater und verließ daraufhin den kühlen Beichtstuhl. Reiner tat es ihm gleich und wärmte sich wenig später in der Sonne. Was er da gehört hatte, beunruhigte ihn nicht sonderlich, doch irgendwie nachdenklich machte es ihn schon. "Ach, übrigens, bevor ich es noch vergesse: Wenn sich das autonome Fahren durchsetzt und irgendwann niemand mehr selber Auto fährt, dann hat sich das ohnehin mit der weißen Frau erledigt." Der Kommissar schaute ihn an, als wäre er ein Verrückter. "Autonomes Fahren? Aber man darf diese Autonomen doch nicht auch noch Autofahren lassen, diese Meister der nichtolympischen Disziplinen." Der Geistliche schaute ihn etwas verwirrt an, bevor er forschte: "Wovon reden Sie da eigentlich gerade überhaupt?" "Na ja, Steineschmeißen, Brandsätze werfen, Gehwegplatten von Hausdächern auf die Straße fallen lassen, Autos anzünden, lauter solches Zeug, was diese schrecklichen Autonomen halt so machen." "Ach, Sie reden vom Schwarzen Rock?" "Nein, vom Schwarzen Block." "Wie dem auch sei, ich sprach nur vom autonomen Fahren, also wenn die Autos irgendwann selbst am Steuer sitzen sozusagen. Die lassen sich von einer plötzlich in ihnen auftauchenden weißen Frau eher nicht beeindrucken, ablenken, oder in den Tod reißen." "Ich verstehe. Ja, da könnten Sie durchaus Recht haben." "Wollen wir das Allerbeste hoffen", wünschte sich und ihm der Pfarrer, bevor er sich vom Polizisten ohne Zysten verabschiedete und Beide wieder ihrer Wege gingen.

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