Ein Fall von großer Redlichkeit

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3

Der Morgen war schon heraufgedämmert – die ersten Läden für Frühaufsteher hatten geöffnet: der Bäckerladen, ein Frühstückscafé, hinter dessen anheimelnd erleuchteten Scheiben Zeitungsleser saßen, und über dein Runddach des Kiosks stand die Morgenröte unwirklich wie ein Reiseplakat –‚ als ihn das Taxi unrasiert und übermüdet vor dem Haus absetzte.

Übelkeit würgte in seiner Brust; ein schaler Geschmack erinnerte ihn daran, dass jedes Vergnügen unweigerlich seinen Preis forderte.

Im Hausflur begegnete ihm der Briefträger. Wegen der schwachen Flurbeleuchtung musste Papst ihm wie ein Straßenräuber erscheinen, denn er drängte sich eilig an ihm vorüber und blickte sich an der Haustür noch einmal um.

Papst schloss seinen Briefkasten auf. Ein großes graues Kuvert aus umweltfreundlichem Papier mit fremden Briefmarken fiel ihm entgegen. Sein Absender war von der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er öffnete es und las:

Sehr geehrter Herr Papst,

durch ein bedauerliches Missverständnis, das erst jetzt aufgeklärt werden konnte, erteilten wir Ihnen kürzlich eine Absage auf Ihre Bewerbung. Selbstverständlich sind wir auch weiterhin an Ihrer Mitarbeit interessiert und würden uns freuen, Sie am kommenden Freitag in Leipzig begrüßen zu dürfen. Ihren Gehaltswünschen konnten wir entsprechen. Die erforderlichen Reise- und Übersiedlungsunterlagen einschließlich einer Fahrkarte erster Klasse liegen im zuständigen Amt Ihrer Heimatstadt bereit. Fräulein Julia Johannsen, Ihre künftige Kollegin am Institut, wird Sie in Ihr vorläufiges Arbeitsgebiet bei der Deutschen Bücherei, Deutscher Platz i, einweisen und Sie auch zur Ankunftszeit des Fernschnellzuges 17 Uhr 12 auf dem Bahnsteig erwarten.

Wir hoffen, damit Ihren Vorstellungen gerecht geworden zu sein und verbleiben mit besten Wünschen für gute Zusammenarbeit und einem herzlichen Willkommen in unserer Republik.

Rektor der Karl-Marx-Universität Leipzig

i. A. Paul Schröder

Oben auf dem Zimmer las er den Brief ein zweites Mal. Sein Arbeitsplatz würde also nicht in den Universitätsgebäuden, sondern in der Deutschen Bücherei sein.

Julia Johannsen ... klingt eher skandinavisch als deutsch, dachte er. Die Deutsche Bücherei: das hieß, täglich in der größten deutschen Bibliothek ein und aus zu gehen, die sämtliches deutschsprachiges Schrifttum des Ostens wie des Westens sammelte und weitaus größer war als die Universitätsbibliothek oder die Deutsche Bibliothek in Frankfurt. Sicher gab es keinen geeigneteren Platz für seine wissenschaftliche Arbeit. Allein dieser Umstand versetzte ihn in Euphorie.

Alles ging plötzlich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Bis Freitag waren es nur noch zwei Tage. Dass seine Papiere auf dem Amt lagen, grenzte bei der Schwerfälligkeit der Behörden an ein kleines Wunder. Julia Johannsen, dachte er wieder.

Er war neugierig auf sie. Dem fremden Namen nach zu urteilen, stammte sie aus dem Norden und mochte ebenso wie er auf die Seite des Sozialismus übergewechselt sein.

Sie werden mir doch keine zänkische alte Jungfer zugeteilt haben?, überlegte er. Es wäre taktisch unklug. Nein, er hielt es für sicher, dass sie jung und hübsch war: das leuchtende Vorbild einer jungen Wissenschaftlerin, die sich dem rechten Weg verpflichtet fühlte.

Aber nur kein Fanatismus, den konnte er nicht ausstehen. Ein gesundes Abwägen der Vor- und Nachteile war das ganze A und O. Er wusste, dass er drüben einer Reihe von Beschränkungen begegnen würde, an die er sich erst gewöhnen musste.

Gut gelaunt nahm er den Koffer aus dem Schrank und begann seine wenigen Habseligkeiten einzupacken.

Er hatte immer den Standpunkt vertreten, dass ein gewisses Pensum an Maßregelung nötig, ja unbedingt notwendig war, wenn man die sozialistische Gesellschaft verwirklichen wollte. Keine Maßregelungen um ihrer selbst willen. Im Grunde war dieses frühe Stadium des Sozialismus der Erziehung im Kindesalter vergleichbar. Wer auf Autorität und Unterordnung verzichtete, würde als einer dieser nervenschwachen Burschen enden, mit denen die westliche Gesellschaft mehr als gesegnet war.

Man tat Kindern keinen Gefallen damit, sie antiautoritär zu erziehen. Dafür gab es genügend Belege.

Und so musste auch der Erwachsene erst von seinem jahrtausendelangen Weg des Eigennutzes und der Habgier abgebracht und auf gemeinschaftliche Pfade gelenkt werden. Es war ganz natürlich, dass es dabei manchmal Fehltritte gab und der eine oder andere untergeordnete Funktionär übers Ziel hinausschoss. Er bedauerte, was an der innerdeutschen Grenze geschah. Das war nicht zu rechtfertigen. Er würde diese Meinung immer offen vertreten. Ebenso verabscheute er die Praxis der Ausbürgerung.

Mit den Ausgebürgerten sammelte sich im Westen ein Heer von Intellektuellen, deren Ressentiments eine Gefahr für Frieden und Verständigung darstellten. Denn schließlich besaß jeder von ihnen Freunde und Verwandte im Osten, die ihre Meinung insgeheim teilten. So zog man sich das Rebellenheer von morgen heran.

Der Abschied fiel ihm noch leichter, als er geglaubt hatte. Er besuchte seine wenigen Freunde, die meisten Studienfreunde oder Mädchen, mit denen er eine Weile zusammen gelebt hatte. Bei allen stieß er auf dasselbe Unverständnis. Gewiss: der Lebensstandard sei gestiegen.

Allerdings solle eine simple Quarzuhr, die man in unseren Kaufhäusern für neunundzwanzigfünfzig bekomme, dort noch immer über vierhundert Mark kosten. Sie maßen alles an materiellen Werten. Nach ihrer Vorstellung flüchteten in das Bruderland auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nur Asoziale und Kriminelle: Mörder, Betrüger – oder aber Halbidioten, die sich etwas erträumten, das nur in ihren Köpfen existierte.

Er meldete seine Autoversicherung ab und verkaufte den Opel zu einem Spottpreis, da er ihn in Leipzig nicht benötigen würde. Bei einem Straßenbahnfahrpreis von zwanzig Pfennig wäre es eine unnötige Verschwendung gewesen. Nach den Unterlagen, die man ihm ausgehändigt hatte, wohnte er zunächst im Hotel Stadt Leipzig direkt gegenüber dem Bahnhof.

Die Verbindung zur Bibliothek war günstig. Das Hotelzimmer wies auf einen eher überstürzten Entschluss hin, ihn nach Leipzig zu holen.

Bis er eine angemessene Wohnung gefunden habe, wolle man ihm kein Zimmer in einem der zahlreichen Studentenwohnheime zumuten, da sie sehr einfach eingerichtet seien.

Auf Wunsch sei es natürlich möglich, einige lägen nahe der Bibliothek an der Straße des 18. Oktober. Man rate jedoch ab. Die Hotelkosten übernehme der Staat. Papst hatte nichts gegen dieses großzügige Angebot einzuwenden.

Von seinem erbärmlichen Zimmer trennte er sich ohne Bedauern. Es war die letzte Nacht, in der er von den im Wind quietschenden Brettern an der Außenwand geweckt werden würde.

Ein Ton, der den Kindern Angst einjagte und die Hunde regelmäßig dazu herausforderte, mit ähnlichem Geheul zu antworten. Wenn er überhaupt irgendetwas nachtrauerte, dann der praktischen Arbeit im Garten. Nun würde sie für lange Zeit durch reine Kopfarbeit ersetzt werden. Das ungesunde Leben am Schreibtisch forderte seinen Tribut. Leipzig war, nach allem was er wusste, eine Stadt der Kultur.

Hedda und den Kindern brachte er einen Strauß Blumen und zwei Schachteln Pralinen mit (die Hunde überging er in dem deutlichen Bewusstsein, sich so für ihr abendliches Heulen und Jagen wenigstens halbwegs revanchiert zu haben).

Nach Papsts Eindruck war seine Schwester nicht sehr darum verlegen, dass er blieb. Ihr Händedruck wirkte merkwürdig kühl, als verabschiede sie ihn zu einer kurzen Reise. Niemals zuvor hatte er deutlicher das Gefühl gehabt, dass sie ihn für einen armen Irren hielt. Schließlich rief er seinen alten Professor an, der jetzt ein zurückgezogenes Leben führte und sich der Herausgabe einer „ersten vollständigen Ausgabe deutscher Schimpfwörter“ widmete.

Papsts Ankündigung nahm er mit einem seiner chronischen Hustenanfälle auf.

„Alles Gute, Papst“, sagte er. „Weiß Gott, ja, das wünsche ich Ihnen. Ich habe Sie immer für eine recht ordentliche Begabung gehalten, aber dieser Art von Sozialismus sein Leben zu verschreiben, ist ein großer Fehler.“

Als er Freitagmorgen auf dem Bahnsteig stand – ein Novembermorgen mit der Melancholie des ersten Frosteinbruchs und stehendem Dunst in den kahlen Baumwipfeln –‚ versuchte er sich selbst vergeblich die Antwort zu geben, ob es ein Abschied für immer sein würde.

Das Mädchen am Ende des Bahnsteigs erinnerte ihn an seine jüngere, früh verstorbene Schwester: strohblond und von zierlicher Gestalt, aber glücklicherweise ohne Margotts gerötete Albinoaugen, obwohl es eher ihm als Hedda glich.

Ihr lustiger Pferdeschwanz wurde trotz des Regenschirms von wirbelnden Schneeflocken getroffen. Sie trug einen dunkelblauen, etwas zerknitterten Popelinemantel und stand dort im ersten Schnee jenseits der Bahnsteigüberdachung wie eine dieser entgegenkommen den Fremdenführerinnen, die sich trotz ihrer kalten Füße ein professionelles Lächeln abringen.

Er stieg aus und ging auf sie zu, da sonst niemand auf dem Bahnsteig wartete.

Ehe er ganz heran war und die Hand zur Begrüßung ausstrecken konnte, sagte sie: „Sie sind Herr Papst, nicht wahr? Ich erkenne Sie vom Bewertungsfoto.“

Es erleichterte ihn, in ihr Gesicht zu sehen, das keine Spur von sozialistischer Sturheit zeigte – obwohl es etwas zu belesen wirkte nach seinem Geschmack, trotz des derben, beinahe bäuerlichen Zugs um den Mund. Aber keine dieser blutleeren Buchleichen, die er aus den Instituten kannte.

 

„Und Sie sind Julia Johannsen.“ Genauso hübsch, wie ich sie mir vorgestellt habe, fügte er in Gedanken hinzu. Man würde keine alte Jungfer schicken. Es wäre ein schlechter Anfang. „Stammen Sie aus Schweden?“

„Aus Norwegen. Ich bin in Levanger geboren, das liegt nördlich von Trondheim.“

„Sind Sie schon länger hier?“

„Erst sieben Wochen.“

„Und Ihre ganze Liebe gehört dem Sozialismus – Sie haben hier noch keinen Freund, stimmt‘s?“

„Ja. Aber wieso wissen Sie das?“

„Die Partei plant und lenkt. Man hat es darauf angelegt, uns zusammenzubringen. Eine solche Bindung erleichtert den Anfang.“

„Merkwürdig. Daran habe ich auch schon gedacht.“

Papst nahm seinen Koffer vom Boden auf; sie gingen schweigend in die Halle. Er betrachtete erstaunt die riesigen Ausmaße des Gewölbes aus Felsstein, Eisenträgern und Glas, an das noch zwei Vorhallen von der Größe gewöhnlicher Stationen grenzten.

„Es ist der größte Bahnhof Europas“, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. „Sie kommen nicht in die Provinz oder ans Ende der Welt, falls Sie das geglaubt haben.“

Es war, als versuche sie ihm zu beweisen, dass sie ebenso ironisch sein konnte wie er.

„Hat man Sie auch in ein Luxushotel einquartiert, ehe Sie eine Wohnung bekamen?“

„Nein, man erlaubte mir erst die Einreise, als die Wohnungsfrage geregelt war.“

„Das deutet auf die Dringlichkeit meiner Arbeit hin“, erklärte er lächelnd.

„Ihr Spezialgebiet ist der Sprachvergleich, nicht wahr?“

„Ich habe mir gedacht, jeder braucht sein besonderes Etwas – wie die Zigarettenmarken im Westen.“

„Hier werden Sie alles, was mit Reklame zu tun hat, vergessen können. Es gilt nicht als schicklich, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Natürlich soll man hervorragende Arbeit leisten. Aber die Universität fördert keinen wissenschaftlichen Starkult. Der höchste Maßstab ist die solidarische Arbeit zum Nutzen des ganzen Volkes.

Ihr Hotel liegt gleich auf der anderen Straßenseite – der Bau dort.“

Sie unterquerten die Fahrbahn durch einen Fußgängertunnel. „Dies ist Ihr Hotelausweis“, sagte sie, als sie in der Empfangshalle standen. Eine Gruppe kleinwüchsiger Kirgisen mit den Gesichtern junger Bauernburschen bewegte sich diszipliniert, aber unbeholfen in neu wirkenden Anzügen zum Speisesaal.

Gegen die Vorlage des Passes und Hotelausweises wurde ihm ohne weitere Umstände sein Schlüssel ausgehändigt.

„Man hat mir aufgetragen, Sie zu einem Begrüßungscocktail an der Hotelbar einzuladen.“

„Ich stelle nur meinen Koffer ab.“

Sie setzte sich in einen der Klubsessel nahe beim Fahrstuhl.

Zimmer 630 war ein Doppel und zu Papsts Erstaunen so groß wie ein Apartment. Der Wohnbereich ließ sich vom Schlafbereich durch einen Vorhang abteilen.

Es gab Radio, Telefon und Farbfernseher. Als er probeweise die Taste drückte, erschien das Testbild des westdeutschen Fernsehens. Ist das ihre besondere Art, einen für sich einzunehmen?, dachte er argwöhnisch.

Selbst der Toilettendeckel behauptete nach internationalem Standard mit seinem übergelegten Papierstreifen „hygienisch versiegelt“ zu sein. Nur die Heizung war auf sozialistische Sparstärke herabgedreht: kaum mehr als achtzehn Grad – als wolle man den Komfort nicht unglaubwürdig erscheinen lassen.

Draußen hatten sich die rieselnden Flocken zum Schneetreiben verstärkt. Hinter dem schmalen Streifen Park mit blattlosen Sträuchern und Bäumen begann eine Haltestelle, an der zahllose Straßenbahnen abfuhren. Sie besaßen offene Radkästen und quietschten altertümlich.

Und wo sind die Abhörwanzen?, dachte er mit einem Anflug von Spott, während er sich im Zimmer umblickte. Es war, als müsse er vor sich selbst eine gewisse Distanz wahren, um nicht kritiklos übergelaufen zu sein …

Auf der Ablage am Ende der Couch standen zwei Flaschen Mineralwasser. Im Schrank lag eine kleine Nähgarnitur für den Notfall, und im Badezimmer fand er Seife „Lavendel VEB“ und Badezusätze. Ein aufmerksamer Geist schien für alles gesorgt zu haben. Es ist der übliche Service, vor allem für Westtouristen, sagte er sich. Wenn es auch ganz und gar nicht mit dem ärmlichen Bild des Sozialismus übereinstimmte, das er sich drüben gemacht hatte.

Im Fahrstuhl hörte er polnische und russische Laute. Ein Mann mit dunkler Pelzmütze drückte zweimal denselben Knopf. Jemand hinter ihm lachte.

„Werden wir heute noch Herrn Schröder besuchen?“, fragte er, als er wieder unten war.

„Herrn …“

„Aus dein Rektorat. Der Mann, der so freundlich war, mir die frohe Nachricht zu übermitteln.“

„Ah, richtig. Nein.“ Einen Augenblick lang musterte sie Papst verwirrt. „Soviel ich weiß, unterschreiben Sie morgen Nachmittag an der Universität nur Ihren Vertrag – und morgens führe ich Sie erst einmal in der Bibliothek ein, damit Sie wissen, wo Sie arbeiten, ehe Sie sich endgültig entscheiden.“

„Aber ich habe mich bereits entschieden. „

„Na fein.“ Sie nickte und reichte ihm ihre kleine Hand. „Herzlich willkommen.“

„Das muss begossen werden“, sagte er. „Sie werden mich doch heute Abend nicht allein lassen – mutterseelenallein in der fremden dunklen Stadt?“

Es war tatsächlich ungewohnt dunkel draußen. Außerhalb der hell erleuchteten Hotelhalle versank die Welt in Finsternis. Blasse Lichtkreise lagen auf dem Pflaster. Das Licht der wenigen trüben Laternen kämpfte vergeblich gegen die Schwärze an, und die weit verstreuten Leuchtreklamen schienen wie untergehende Notsignale.

„Ist es Ihnen auch aufgefallen? Ja, die Winter sind sehr dunkel hier.“

„Soll ich das als Zusage verstehen?“

„Ich bin schließlich abkommandiert“, sagte sie.

„Dann machen wir also das Nachtleben unsicher?“

„Da werden Sie wenig Glück haben.“

Sie tranken zwei Cobbler an der Hotelbar, und Papst beobachtete, wie sie das Glas zum Mund führte. Es ist verrückt, dachte er. Kaum bin ich hier, packt mich plötzlich das Bedürfnis, nach alter Manier weiterzumachen.

„Wieso kein Glück?“, fragte er.

„Viele Bars schließen um achtzehn Uhr.“

„Aber es gibt doch andere Lokale?“

„Meist muss man auf einen Tisch warten, oder sie sind schon reserviert. Und an den einfachen Kneipen werden Sie leicht vorüber laufen, weil sie selten Lichtreklame haben.“

„Das ist ein wenig wie in Levanger, was?“, fragte er.

„Waren Sie schon mal dort?“

„Nein, aber ich stelle mir ein paar Holzhäuser vor, den Fjord … es ist ganz ähnlich.“

„Nur ohne Wasser.“

„Dafür ist das Bier besser.“

„Schließlich sind wir nicht zum Trinken hergekommen“, sagte er und leerte sein Glas.

Das Lokal, in das sie ihn ohne weiteren Kommentar führte, lag in einer hohen Geschäftspassage, und erst, als sie die Treppen hinuntergingen, entdeckte er, dass es Auerbachs Keller war.

„Donnerwetter“, sagte er. „Sie wollten mir nur einen Schreck einjagen, hab ich recht?“

„Einen Schreck – wieso?“

„Wegen der Lokale.“

„Warten Sie‘s ab. Man muss sich anstellen und Geduld haben, bis man einen Tisch zugewiesen bekommt. Das kann lange dauern.“

Papst musterte den riesigen Raum. „Da sind doch welche frei“, sagte er und zeigte auf mehrere Tische in der Ecke unter den holzgetäfelten Wänden.

„Wir würden nichts bekommen, wenn wir uns ohne Einladung setzen. Nicht einmal die Speisekarte.“

„Das ist sozialistische Planwirtschaft“, nickte er.

„Bitte nicht so laut …“ Sie blickte sich unbehaglich nach dem Kellner um.

„Auf Kritik steht Platzverbot, was?“

„Sie werden noch viel lernen müssen.“

Es dauerte eine Weile, bis der Kellner ihnen einen Tisch in der freien Ecke zuwies. Sie studierten die Weinkarte und bestellten eine Flasche bulgarische „Eselsmilch“. Papst bemerkte nach dem ersten Glas, dass sie nicht viel vertrug, obwohl sie den Wein wie Mineralwasser hinunterkippte.

„Fangen wir oben auf der Karte an und arbeiten wir uns langsam bis zur Mitte vor“, schlug er vor, als die Flasche leer war.

„Wollen Sie mich betrunken machen?“

„Ich will nur, dass wir uns etwas näherkommen. Fürs erste würde ein Du reichen.“

„Also gut.“ Sie streckte zögernd ihre Hand aus. „Julia – schließlich sind wir Arbeitskollegen.“

„Wolfhard.“

„Ernsthaft? Ein seltener Name. Ich werde Sie – ich meine.., ich werde dich Wolf nennen, obwohl es nicht zu dir passt.“

„Ja, ich gehöre eher dem Kreis der Lämmer an.“

Sie bestellten eine Flasche halbsüßen Tschechen und tranken sie bis zur Hälfte aus. Er sah, dass sie Schwierigkeiten hatte, gerade auf dem Stuhl zu sitzen.

„Wir sollten unsere Karten offen auf den Tisch legen“, sagte er plötzlich. „Welche Instruktionen hat man dir gegeben?“

Instruktionen ...?

„Mag sein, dass es nicht das richtige Wort ist. Aber irgendetwas muss man dir doch ans Herz gelegt haben.“

„Ich verstehe nicht, wovon du redest.“

„Wie ich mich einlebe, was ich rede. Ob ich ein guter Freund der Republik bin – oder ob ich mit anderen Absichten komme.“

„Mit welchen anderen Absichten?“, fragte sie und musterte ihn verständnislos.

„Karten auf den Tisch“, sagte er und berührte mit der Hand ihren Unterarm. „Damit es nachher keine Enttäuschungen gibt. Was haben sie dir aufgetragen?“

„Du bist verrückt.“

„Es ging plötzlich alles zu schnell. Da sind mir einfach Zweifel gekommen.“

„So? Na, ich kann dir nicht helfen. Welche Karten legst du denn auf den Tisch?“

„Harmlos bis ins Mark.“ Er hob beschwörend zwei Finger.

„Hier gibt es nur eine Überraschung“, sagte sie und zeigte zu einer schweren dunklen Holztür hinunter. „Wenn man lange genug bleibt, wird manchmal um Mitternacht der Hexenkeller geöffnet, und alles, was Rang und Namen hat im Faust, tanzt durch den Raum.“

4

Der Lesesaal der Deutschen Bücherei war ein hoher, düsterer Raum mit umlaufenden Balustraden und dunkel lasierten Holztreppen an jeder Ecke. Unter den schmalen Fenstern hoch in der Außenwand stand das Pult der Aufsicht, einer blau gekleideten, älteren Frau. Es befand sich zwischen zwei Karteikästen, von einem Globus gekrönt.

Papst konnte über mehrere Tischreihen hinweg erkennen, dass sie unermüdlich ernst und voller Strenge die verstreuten Leser auf den zweihundert Sitzplätzen beobachtete und jedes zu laute Geräusch mit einer nervösen Geste des Kopfes beantwortete.

Wenn das nicht ausreichte, tat sie einige Schritte in die Richtung des Störenfrieds. In der Regel genügte es, um ihn sofort zum Verstummen zu bringen.

Ein Mittelgang teilte den Saal. Die eine Hälfte der Tische sah zur anderen Hälfte – als genüge der strenge Blick der Aufsicht noch nicht, sondern müsse durch die Blicke der jeweils anderen Seite unterstützt werden.

Über jedem Tisch aus dunklem Holz befand sich eine gedämpfte Leuchtstoffröhre, und wenn Papst nur flüchtig von seinem Ende in der hintersten Reihe aufblickte, sah er nichts weiter als dieses Heer rötlichgelber Leuchtstoffröhren, über denen – in kaum mehr als drei, vier Metern Höhe – schon wieder dieselbe Finsternis begann, wie sie an trüben Novembertagen auch draußen herrschte.

Drei Glastüren an der Breitseite wurden manchmal geöffnet: immer lautlos, denn jeder der Eintretenden schien zu wissen, dass Ruhe und Ordnung das oberste Gebot war. Ein Schild neben dem Eingang verbot das Mitbringen von Essen und Getränken.

Hier wird also für einige Wochen mein Arbeitsplatz sein, dachte Papst und musterte manchmal von seinem Holzsessel aus den Buchbestand an den Wänden.

In den Wandregalen unten auf der Zwischenetage standen die Gebiete Politik, Philosophie, Militärwesen, Klassiker des Marxismus-Leninismus, Psychologie und Pädagogik, ferner Geschichte, Kunst und Recht, doch der größere Teil der Werke wurde an den beiden Ausgaben in der Vorhalle bestellt und aus riesigen, für Leser unzugänglichen Magazinen geholt.

Da Julia mit der Ankündigung weggegangen war, sie wolle sich um die Zuweisung seines Arbeitsgebietes kümmern, blätterte er in der alten militärtechnischen Ausgabe eines Düsseldorfer Verlages aus dem Jahre achtundfünfzig.

Nach einiger Zeit sah er auf die Uhr über dem einen Saaldurchgang: merkwürdig, überlegte er, sie muss schon eine gute halbe Stunde fort sein.

 

Er hatte erwartet, dass sie in Begleitung eines Angestellten zurückkommen würde, doch als sie in den Flügeltüren erschien, war sie allein und gab ihm nur einen Wink, ihr zu folgen.

„Es ist oben“, sagte sie. „Herr Felder erwartet uns.“

„Felder?“

„Ein umgänglicher Mensch.“

„Von der Universität oder einer der Bibliothekare?“

„Ich weiß nicht ... aber was spielt das schon für eine Rolle?“ Sie ging voraus.

Das Zimmer, in das sie ihn führte, war ein winziger Raum hinter einer weißlackierten Tür, in dem sich nichts weiter als ein Schreibtisch und zwei Stühle befanden. Der Mann auf der anderen Tischseite nickte Papst wohlwollend zu.

„Na ausgezeichnet. Willkommen in Leipzig“, sagte er.

Seine Stimme klang tief und bestimmt. Er hatte die Angewohnheit, während der Sprechpausen manchmal mit dem Daumen über seine Schneidezähne zu streifen.

Papst schätzte ihn auf etwa fünfundfünfzig. Kein Fältchen verunzierte sein lang gestrecktes, schmales Gesicht. Die Ohren waren etwas zu klein geraten: als hätten sie im Kindesalter aufgehört zu wachsen.

„Ich werde draußen warten“, sagte Julia und setzte sich, ehe er protestieren konnte, auf den einzigen Stuhl im Gang, der nach Papsts Überzeugung allein für diesen Zweck hinausgestellt worden war.

„Zigarette? Nein, richtig – Sie sind Nichtraucher. So laufen Sie nie Gefahr, im Bett zu verbrennen.“

Er legte das unangebrochene Päckchen lächelnd in die Schublade zurück.

„Worauf spielen Sie an?“

Der andere überging seine Frage. „Wir werden in den nächsten Wochen gelegentlich miteinander zu tun haben. Neben Julia bin ich Ihr zweiter Kontaktmann. Sie können sich mit allen Problemen oder Beschwerden an mich wenden.“

„Sind Sie mein unmittelbarer Vorgesetzter an der Universität?“

„Nicht direkt.“

„Wann werde ich ihn sehen?“

„Nachmittags. Wenn Sie Ihren Vertrag unterschreiben. Unsere Republik will jedem Neuankömmling die Eingliederung erleichtern. Dazu werden solche Kontaktleute wie ich eingesetzt.“

„Was ist mein erstes Arbeitsgebiet?“

Felder schien diese Frage erwartet zu haben. Er legte ein maschinengeschriebenes, etwas vergilbt aussehendes Manuskript im DIN-A4-Format auf den Tisch.

„Da Sie mit unserem System sympathisieren, sind Sie sicher auch in seiner Geschichte bewandert. Sie erinnern sich, dass Lenin, als er aus sibirischer Verbannung kam, unter dem falschen Namen Meier in München lebte und dort die erste Nummer der Iskra – auf deutsch ‚Der Funke’ – herausgab?

Neben dieser nach Russland geschmuggelten neuen Zeitung sozialistischen Typs verfasste er, was wenig bekannt ist, einige kurze politische Schriften in deutscher Sprache, von denen in unseren Archiven Kopien maschinengeschriebener Manuskripte existieren. Sie wurden in Lenins Auftrag von verschiedenen Mitarbeitern nach seinen handgeschriebenen Manuskripten angefertigt und sollten unter deutschen Sozialdemokraten verbreitet werden. Lenin wohnte damals bei einem sozialdemokratischen Gasthausbesitzer namens Rittmaier, ehe er in eine Mietskaserne nach Schwabing umzog.

Es war kurz vor der Abfassung seiner bekannten Schrift ‚Was tun?’, und viele Gedanken finden sich bereits in diesen vorausgehenden Arbeiten. Sie können sich denken, dass sie für die Geschichte des Sozialismus von allergrößter Bedeutung sind.

Wir halten es für möglich, dass der Schwiegersohn Rittmaiers – angeblich treuer Sozialdemokrat, in Wirklichkeit aber ein eingeschleuster Spitzel – eine Fälschung verfasste, die viele abweichende und verzerrende Meinungen enthält, da er zu dieser Zeit ebenfalls an den Manuskriptabschriften arbeitete.

Ihr Titel ist ‚Die Basis der sozialistischen Revolution’.“

Felder tippte auf den Stapel Papiere vor sich.

„Es dürfte schwierig, aber für Sie als einen Experten im Sprachvergleich nicht unmöglich sein, an Hand anderer deutschsprachiger Schriften Lenins – wie z. B. „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“ von 1916 – nachzuweisen, dass Lenin nicht der Verfasser sein kann.“

Er schwieg und musterte Papst erwartungsvoll.

„Leider ist die Lösung des Problems nicht inhaltlich, sondern nur auf der Grundlage von Sprachstrukturen denkbar. Wir nehmen an, dass Ihre Methode dazu die geeignetste ist.“

„Sie haben sehr lange für diesen Verdacht gebraucht.“

„Oh – die Frage stellt sich uns natürlich seit vielen Jahren. Es war bisher nie möglich, den exakten wissenschaftlichen Nachweis zu führen. Deshalb schätzen wir Ihre Mitarbeit in unserer Republik ganz besonders.“

Er reichte ihm das Manuskript. „Und dies ist eine Liste aller in Frage kommenden Vergleichsschriften. Ich möchte Sie nur bitten, die Arbeit vertraulich zu behandeln, weil ihre Veröffentlichung zu Missverständnissen in den Auffassungen Lenins führen könnte.“

„Und Julia?“, fragte er.

„Ist eingeweiht …“

„Haben sich schon andere Experten damit befasst?“

„Von der inhaltlichen Seite, ja. Dr. Alfons Margott, der bekannte marxistische Theoretiker und einige russische Fachgelehrte, die des Deutschen genügend mächtig sind. Sie gelangten zu keiner eindeutigen Stellungnahme. Verstehen Sie uns richtig! Wir sind immer davon überzeugt gewesen, dass es sich um eine Fälschung handelt, aber dieses Urteil ist eher intuitiver Natur.

Wladimir Iljitsch kann seine Ansichten nicht innerhalb weniger Wochen derart geändert haben. Es war ein konterrevolutionäres Störmanöver. Weisen Sie es durch sprachvergleichende Untersuchungen nach. Ein Platz in der Literaturgeschichte dürfte Ihnen sicher sein.“

„Man sagte mir, das Denken nach solchen Gesichtspunkten sei hier verpönt?“

„Unsere beiden Bruderstaaten sind nicht so weit voneinander entfernt, wie man immer glaubt. Sie werden manche Gemeinsamkeiten entdecken.“

Er lächelte breit und strich wieder über seine Schneidezähne.

„Im Guten wie im Schlechten. Denken Sie nur an die menschlichen Erleichterungen der letzten Monate …“

Felder reichte ihm die Hand, um ihn zu verabschieden. Papst hätte sich gern nach seiner genauen Funktion an der Universität erkundigt. Doch da er nicht ausschloss, dass man irgendeinen verdienten Funktionär der Partei zu seiner Betreuung abgestellt hatte, unterließ er die Frage.

Julia wandte ihm den Rücken zu, als er wieder im Gang war. Sie sah auf das angebaute Magazin der Bibliothek hinaus. Es wirkte wie ein überdimensionaler, auf die Seite gelegter Container und überragte mit seinen glatten, fensterlosen Fassaden aus Kunststoff das Dach des Hauptgebäudes. Ein Gang in der ersten Etage verband es mit dem altertümlichen Hauptteil. Dahinter war, zwei Straßen entfernt, die vergoldete Turmspitze der russischen Gedächtniskirche zu sehen.

„Nun?“

„Meine erste Arbeit“, sagte er und schlug auf die Mappe unter seinem Arm.

„Dann lass uns jetzt zum Essen gehen. Um zwei unterschreibst du deinen Vertrag an der Universität.“

Sie fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum. Man musste sich die Streifenkarten vor Antritt der Fahrt besorgen, aber Julia hatte vorgesorgt.

Es war ein Lokal in der Nähe des Alten Rathauses. Obwohl man einen Tisch für sie reserviert hatte, ließ das Essen auf sich warten, und während Julia in den Waschraum ging, blätterte Papst ein wenig in dem Manuskript.

Offenbar war es keine Kopie wie die Vergleichsarbeiten und schon sehr alt: Flecken, Eselsohren und vergilbtes Papier deuteten darauf hin, dass es zwei Weltkriege überdauert hatte.

Ein wenig wunderte es ihn, dass man ihm ein historisches Dokument ohne weitere Vorbehalte überließ. Felder hatte ihn nicht einmal dazu angehalten, besonders sorgsam damit umzugehen, wenn man Von seiner Befürchtung absah, es könnte in der Öffentlichkeit ein falsches Bild Lenins erzeugen.

Einige Korrekturen waren handschriftlich mit schwarzer Tinte hinzugefügt. Natürlich ist es nichts wert, wenn es sich um eine Fälschung handelt, dachte er. Und davon gehen sie aus. Die Arbeit reizte ihn; aber er hatte es sich Felder gegenüber nicht anmerken lassen.

Nachdem Papst an der Universität seinen Vertrag unterschrieben hatte, verspürte er wenig Lust, noch einmal in die Bibliothek zurückzukehren. Julia bestärkte ihn darin, dass der erste Arbeitstag in Ruhe und Zerstreuung zugebracht werden müsse; alles andere sei ein schlechtes Vorzeichen.