Casa Pipistrelli Das Haus der vergessenen Dinge

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Casa Pipistrelli Das Haus der vergessenen Dinge
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Peter Platsch

Casa Pipistrelli

Das Haus der vergessenen

Dinge

Du bekommst jeden Tag irgendetwas

versprochen.

Von Deinen Eltern, von Deinen Freunden

in der Schule, im Verein

auf Plakaten , auf Deinem Bildschirm

Doch die meisten Versprechen werden nicht gehalten

oder einfach vergessen.

Für alle, die lesen können

aber auch für

Frösche, Wölfe und Schmetterlinge

zum Träumen

zum Gruseln

zum Erinnern

aber nicht

zum Vergessen

Eins

Sie wispern, tuscheln, flattern aufgeregt, dann hängen sie wieder ruhig im düsteren Gebälk von Casa Pipistrelli.

„Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen“, flüstert die eine nachdenklich.

„Er wird sie wohl suchen“, raunt die andere und hängt sich etwas bequemer.

Eigentlich mögen sie die Menschen nicht besonders. Sie sind ihnen viel zu laut, sie bringen alles durcheinander und sie sind schwer zu unterscheiden – wer ist gut, wer ist böse. Aber seitdem der Fluch der Krähe die alte Villa wie ein klebriges Spinnennetz überzogen hat, ist es zu still geworden, sogar die Uhren ticken nicht mehr, als wäre die Zeit stehen geblieben.

„Er muss sie finden, bevor sich diese Gauner alles unter den Nagel reißen.“ murmelt die mit dem grauen Fell und zeigt angriffslustig ihre spitzen Zähne.

„Wenn der Verrückte wüsste, was die so alles treiben in seinem Tal.“ Beifälliges Gemurmel.

„Hätte er sein Versprechen gehalten, wäre alles anders gekommen.“

„Die Bäume würden wieder blühen und wir hätten genug Beute zum Jagen.“ seufzt verdrossen die Junge, die nahe beim Dachfenster hängt.

„Alle haben sie etwas versprochen“, schwirrt es aus der düsteren Tiefe des Gebälks ...….und?

„Menschen , große Menschen! Sie sind so leichtsinnig mit ihren Versprechen“ zischen die anderen verächtlich.

„Ein vergessenes Versprechen ist wie eine Lüge!“ Keiner wusste genau woher die Stimme kam. Sie war selten zu hören.

Nachdenkliche Stille durchdringt den einzigen bewohnten Raum von Casa Pipistrelli.

„Ich glaube er hat sie gefunden. Ich habe sie gesehen, unten am Fluss, es sind drei.“

„ Drei, was? „ knurrt die Graue wieder.

„Ein Mädchen und zwei Jungen.“

„ Alt ? “

„Es sind Kinder, gerade noch Kinder! „

„Na endlich!“ murmelt die Graue. Ein Hoffnungsschimmer schwebt wie ein warmer Lufthauch durchs Gebälk.

„Wir müssen auf sie aufpassen!“

Wieder flüstern und flattern sie aufgeregt sodass der feine Staub im trüben Licht silbrig zwischen den Balken wirbelt. Zu lange haben sie schon auf die unschuldigen Seelen gewartet, die endlich die Geschichte zu Ende bringen.

Zwei

Das Wasser schimmert blau, es sieht so sauber aus und man könnte es trinken, wenn es nicht so bitter nach Chlor schmecken würde. Zwei Blätter schaukeln auf den Wellen, obwohl Windstille herrscht.

Peter liegt faul auf seiner Luftmatratze am Rande des Swimmingpools und schaut gelangweilt der kleinen Katze zu, die im Wasser rudert, nein, sie zappelt und versucht in seine helfende Nähe zu gelangen.

Ihre Augen sind weit geöffnet, und obwohl das blaue Wasser sich darin spiegelt sind sie gelb vor Angst.

„Schafft sie es, oder wird sie ertrinken?“

Der Gedanke, sie könne untergehen, beunruhigt Peter kaum, aber die Langeweile weicht einer kribbeligen Anspannung.

„Vielleicht hätte ich sie doch nicht hineinschubsen sollen.“

„Was soll denn dieser Blödsinn, hol sofort das Kätzchen heraus!“ ruft Selma, die Haushälterin der Familie und kommt schnaufend durch die weit offene Terrassentür auf Peter zugelaufen. Peter dreht sich aufreizend langsam auf den Rücken, blinzelt in die Sonne.

„Was kann ich dafür, wenn die blöde Katze nicht schwimmen kann.“

„Na warte“, zischt Selma, legt sich mit einem Seufzer auf den Bauch und erreicht mit ausgestrecktem Arm gerade noch das Kätzchen, packt es am Nacken und zieht es heraus auf die sicheren Fliesen am Pool.

Das Kätzchen sieht mit dem nassen Fell noch kleiner und sehr dünn aus. Es liegt eine Zeitlang bewegungslos in der Pfütze

am Boden, nur sein magerer Bauch zuckt so schnell wie das kleine, immer noch angstvolle Herz schlägt. Dann springt es plötzlich auf, läuft eilig vom Swimmingpool und Peter weg und verkriecht sich unter einer der schicken Sonnenliegen im Garten.

„Du bist ein hartherziger Weichling!“, faucht Selma und gibt Peter eine schallende Ohrfeige. Ihre Bluse und Schürze sind vorn pitschenass, aber das ärgert sie nicht so sehr wie Peters bösartiges Verhalten.

„Du hast mich geschlagen, du hast mich geschlagen“, jammert Peter, „das werde ich meinen Eltern erzählen.“ Keine Träne füllt seine Augen, nur Trotz.

„Erzähle es nur, ich werde deinen Eltern berichten, was du gerade hier angestellt hast. Du wolltest doch das Kätzchen ertrinken sehen, oder?“

Peter bleibt still, seine Wange brennt und ohne Selma anzuschauen rennt er in das Haus hinauf in sein Zimmer.

Die Lüftung seines Computers summt aber er dreht erst einmal seine Stereoanlage auf und dumpfes Techno-Wumm-Wumm dröhnt durch das Haus.

Seine Jeans, T-Shirts, Strümpfe liegen auf dem Boden verstreut. Er schubst sie mit dem Fuß in eine Ecke neben seinem Bett.

„Selma hat heute noch nicht aufgeräumt, das werde ich Mama sagen“, zischt er durch die zusammengebissenen Zähne und wirft sich auf das kleine rote Sofa neben der Stereoanlage. Er dreht sie noch ein bisschen lauter auf. Der Bass wummert durch seine Gedanken.

„In zwei Wochen beginnen die Sommerferien und Mama und Papa haben noch nicht gesagt, wohin wir dieses Jahr verreisen werden. Am liebsten würde ich ja wieder nach Spanien in diesen Club fliegen, da war immer etwas los. Ich weiß gar nicht mehr wo meine Eltern die ganze Zeit über waren. Sogar zur Siegerehrung, als ich den Pokal der Minichampions gewonnen hatte, kamen sie zu spät. Aber die Tennislehrerin war sehr lieb.“

Peter betrachtet den Pokal im Regal gegenüber, das Bild dahinter an der Wand zeigt ihn mit der braungebrannten Tennislehrerin. Er hat sich an ihre Hüfte gelehnt, sie hat ihren Arm um seine Schulter gelegt und der Pokal in seinen Händen erschien ihm auf einmal viel zu groß.

„Wir sollten im Sommer vielleicht doch anderswo hinfahren, Papa hat dieses Mal bestimmt mehr Zeit, um mit mir am Strand ein riesiges Sandkrokodil zu bauen.“

„Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“, ruft Selma aus der Küche, „und stell diesen Lärm bitte leiser!“

Peter spürt immer noch die Ohrfeige, er hat Selma noch nie so wütend erlebt.

„Das mit dem Kätzchen hätte ich doch nicht tun sollen.“ Widerwillig drückt er mit der großen Fußzehe auf die Off-Taste seiner Stereoanlage.

In die plötzliche Stille fragt Selma: „Soll ich dich Vokabeln abhören?“

„Nein, wir haben nur Mathe und Deutsch auf.“ Er will jetzt nicht Selma unter die Augen treten. Schlecht gelaunt setzt Peter sich an seinen Schreibtisch und holt seine Hefte aus dem Schulrucksack. „Verdammt ist der schwer.“

Er schlägt sein Hausaufgabenheft auf und schaut dabei aus dem Fenster. Das Kätzchen ist verschwunden aber sein schlechtes Gewissen bleibt.

Peter braucht sehr lange für seine Hausaufgaben, denn er schaut immer wieder aus dem Fenster in den Garten. Das Wasser im Pool glitzert golden in der untergehenden Sonne, er achtet nicht darauf, schon als Baby hat er darin geplanscht, das Kätzchen bleibt verschwunden.

Normalerweise war das Abendessen stets der Teil des Tages, an dem die ganze Familie beisammen saß, seine Eltern wissen wollten, was er tagsüber so gemacht hat, wie es in der Schule gelaufen ist, ob es Probleme gab und manchmal fragten sie auch, ob er glücklich sei. Es gab auch Schelte, wenn er seine klebrigen Finger gedankenlos über das T-Shirt strich anstatt die Servierte zu nehmen. Aber es waren doch die Stunden, an denen er seine Eltern fast für sich hatte.

In der letzten Zeit saßen sie kaum noch zum Essen beisammen. Meistens aß er mit Selma zu Abend.

Seine Mutter wirbelt ins Haus, als sie gerade ihre Teller in die Küche tragen. Ein flüchtiger Begrüßungskuss. „Hallo, mein Schatz, ihr habt ja schon gegessen?“

„Selma, für mich bitte nur etwas Salat, ich muss noch telefonieren.“

Dann verschwindet sie, mit dem Handy am Ohr, in ihrem Arbeitszimmer und er hört nur noch: ....ja, ja wenn Sie meinen, dann schau ich mir das gleich noch einmal an.“

Mama ist Rechtsanwältin und arbeitet für einen großen Konzern, dessen einzelne Firmen über die ganze Welt verstreut sind. So passiert es oft, dass das Telefon läutet, wenn alle noch oder schon schlafen.

„Mama, kuscheln wir noch auf der Couch und schauen uns die Simpsons an?“

„Ich muss nur schnell etwas durchlesen, dann komme ich zu dir, schalte doch schon mal an.“

Selma kommt aus der Küche und trocknet ihre nassen Hände an der Schürze.

„Du könntest schon deinen Schlafanzug anziehen und die Zähne putzen, bis deine Mama kommt.“

 

Peter hat schon eine patzige Antwort auf den Lippen aber er will Selma nicht noch weiter verärgern. Vielleicht hat sie das Kätzchen schon vergessen und wird Mama nichts erzählen.

Widerwillig, langsam steigt er die Treppe hinauf in sein Zimmer und setzt sich vor seine Playstation. Von unten hört er seine Mama immer noch telefonieren.

„Hallo, ist noch jemand auf?“

Peter springt barfuß die Treppe hinunter und wagt einen Hechtsprung in die ausgebreiteten Armen seines Vaters.

„Hi mein Großer, alles klar?“

„Na jaa“, nuschelt Peter und schlingt seine Arme um den Hals seines Vaters.

„Na, gab es Probleme?“

„Ja, heute am Pool, als ........“, beginnt Selma mit fester Stimme und legt am Esstisch zwei Gedecke für die Eltern auf.

Peter blickt mit zornig zusammengekniffenen Augen zu Selma, aber die schaut ihn ruhig an.

„Wissen Sie, unser Peter hat ...“, in diesem Augenblick kommt Peters Mama in das Esszimmer zurück. Sie hält noch das Handy in der Hand, geht auf ihren Mann zu, der Peter immer noch festhält und gibt beiden einen herzhaften Kuss.

Selma denkt, das habe auch noch bis morgen Zeit und fragt, ob Peters Eltern gemeinsam essen wollen und verschwindet wieder in die Küche.

`Uff, das war knapp´, denkt Peter und versucht, seine Eltern von Selams Ankündigung abzulenken.

„In zwei Wochen beginnen die großen Ferien, wo fahren wir denn dieses Jahr hin?“

Peters Eltern schauen sich unsicher an.

„Wir haben darüber noch gar nicht nachgedacht“, antwortet sein Vater zögernd und blickt hilfesuchend zu seiner Frau. Sie blickt auf ihr Handy.

„Das wird dieses Jahr problematisch. Ich muss unbedingt bis September den Vertrag mit der amerikanischen Firma noch hinkriegen. Ich habe Dir doch von San Antonio erzählt “.

„Ja, und ich muss die Produktionsverlagerung nach China noch dieses Jahr über die Bühne bringen.“

Beide blicken erst auf ihre Hände, dann entschuldigend zu Peter.

„Das fällt euch ja verdammt früh ein“. Peter kann seine Enttäuschung und seine Tränen nicht unterdrücken. Beleidigt rennt er die Treppe hinauf und schlägt laut seine Zimmertür hinter sich zu.

„Oh je, jetzt ist aber einer sauer, ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass schon bald Schulferien sind, was machen wir jetzt?“

„Ich muss unbedingt nach China und das für mindestens zwei Monate. Am besten ist, du fährst mit Peter zwei Wochen ans Meer.“

„Das geht nicht“, braust Peters Mutter auf. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich den Vertrag mit den Amerikanern verhandle und deshalb die nächste Zeit verfügbar sein muss, das ist genauso wichtig wie deine Chinesen.“

Peter steckt sich seine Kopfhörer in die Ohren. „Jetzt streiten sie wieder, wer den wichtigsten Job hat und vergessen dabei, dass ich auch noch da bin.“

„Alles soweit in Ordnung mein Großer? “ Peters Vater hat die Tür einen Spalt geöffnet und streckt den Kopf in das Zimmer.

„Nein, ich möchte, dass wir alle zusammen in den Urlaub fahren“, quengelt Peter und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.

„Ok, ok ich lasse mir etwas einfallen. Gute Nacht, Mama kommt auch gleich.“

Peter verkriecht sich immer noch unter seiner Bettdecke, als sich seine Mama auf das Bett setzt und versucht, ihn unter der Decke zu kitzeln. Aber ihm ist es gar nicht nach einer zärtlichen Rauferei oder Kissenschlacht zumute.

„Ich will, dass wir alle in Urlaub fahren“, klingt es dumpf aus der Zudecke.

„Für einen Gutenachtkuss lasse ich mir etwas einfallen.“

Peter schlägt die Zudecke zurück, schlingt die Arme um seine Mama und beide fallen lachend ins Bett.

„Versprochen?“

„Versprochen!“

„Lass die Tür auf“, ruft ihr Peter nach, als sie sein Zimmer verlässt.

Bevor er einschläft, hört er seine Eltern wieder streiten:

„......ich rede mit meinem Chef ...keine Chance ....vielleicht Ende der Ferien ....die paar Tage ....alle oder keiner...., das ist eine gute Idee....“

Als Selma ihn weckt, ist Peter noch richtig müde. Er hat die ganze Nacht nur vom Meer, hohen Wellen, Sandkrokodilen, die nach ihm schnappten und von einem großen düsteren Haus geträumt.

„Beeile dich“, ruft seine Mutter, die in der Küche auf und ab läuft, in der einen Hand das Handy und in der anderen eine Tasse Kaffee. Sein Vater hat schon gefrühstückt und das Haus verlassen.

Selma schenkt ihm, wie immer eine Tasse Kakao ein und legt ihm zwei Marmeladentoasts auf den Frühstücksteller. Sie gibt ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und er weiß, dass sie noch nichts über den gestrigen Vorfall den Eltern erzählt hat.

Trotzdem isst er stumm und missmutig seine Toaste, murmelt ein “Tschüss“ zu Selma und folgt seiner Mutter zum Auto.

Kurz bevor sie die Schule erreicht haben, stupst ihn seine Mama an.

„Dein Vater hatte gestern Abend noch eine tolle Idee, was du in deinen Ferien machen könntest. Da wird von einem Club ein Sommercamp für Schüler angeboten, mit Sport, Abenteuerausflügen, ach und einem Haufen anderer toller Sachen.“

Sie merkt nicht, dass Peters Augen sich mit Tränen füllen.

„Und du lernst jede Menge Jungen und Mädchen kennen. Vielleicht findest du auch einen Freund, du bist sowieso viel zu viel alleine.

So, wir sind schon da. Ich verspreche dir, nächstes Jahr fahren wir gemeinsam in Urlaub, wohin du willst.

Tschüss, mein Schatz, lerne etwas und sei brav.“

Peter steigt aus dem Auto, der Rucksack ist viel schwerer als sonst. Er will nicht winken, vergräbt beide Hände tief in den Hosentaschen, blickt auf den bunt gepflasterten Weg, der quer über den Schulhof führt. Immer diese tollen Sprüche. Er spürt, wie ihn die Augen vor Wut und Enttäuschung brennen.

Hoffentlich spricht mich keiner von diesen “Knallköpfen“ an denkt er, läuft in Richtung Toilette, dort ist um diese Zeit niemand und schließt sich ein.

Er wischt sich die Tränen aus den Augen und überlegt, ob er ins Sekretariat gehen soll, um zu melden, dass er wegen Bauchschmerzen nicht am Unterricht teilnehmen kann.

Selma kann nicht Autofahren und seine Eltern haben ja keine Zeit um ihn abzuholen. So entscheidet sich Peter, doch in das Klassenzimmer zu gehen.

Die erste Stunde Französisch. Die Lehrerin wartet schon und teilt Blätter für eine Ex aus. Bis auf die zwei Einser-Mädchen protestiert der Rest der Klasse.

Sie hatte versprochen, so kurz vor den Ferien gibt es keine Ex mehr.

„So sind die Erwachsenen“, denkt Peter zornig, „sie versprechen etwas und halten es nicht.“

Drei

Als sie Elsa schlachten rennt Julia in die Scheune, steigt die Leiter hinauf zum Heuboden und wirft sich in das getrocknete Gras. Hier oben im Heu eingegraben kann sie weinen, ihren Schmerz, die ihr zugefügten Ungerechtigkeiten, hilflose Wut, mit Tränen aufweichen.

Heute ist so ein Tag, der sie mit Traurigkeit und Wut erfüllt.

Julia liebt Elsa seitdem sie klein, weiß, so nackig auf die Welt kam. Elsa war das kleinste der sieben Ferkel und sie kam

nie rechtzeitig, noch besaß sie die notwendige Rücksichtslosigkeit, wenn sich ihre Geschwister hungrig um die Zitzen am Mutterbauch drängten.

In der hintersten Ecke eines wackeligen Regals in der Speisekammer hatte Julia damals die mit Teddybären bemalte Nuckelflasche ihres jüngsten Bruders gefunden. Wenn die Kühe gemolken wurden, holte sie sich aus dem großen glänzenden Edelstahlbehälter ein Fläschchen voll warmer, frischer Milch. Elsa hatte sich sehr schnell an den schon porösen Schnuller gewöhnt, leerte schmatzend das Fläschchen und kuschelte sich danach zu einem Mittagsschläfchen in Julias knallrote Schürze.

Bald war Elsa das rosigste, kräftigste und schlaueste Schweinchen in der Umgebung. Es begleitete Julia überall hin und folgte ihr auf ‘s Wort.

Obwohl ihr Vater schon Unterstellplätze für private Reitpferde in die stabilere der beiden Scheunen eingebaut hat und auch alle Boxen belegt sind, die zweiundvierzig braun weiß gefleckten Milchkühe die meiste Milch in der Region ihren tief hängenden Eutern sammeln und Herrmann, der kräftige Bulle mit dem glänzenden hellbraunen Fell bei der letzten Landwirtschaftsschau prämiert wurde, reicht das Geld, das sie mit all dem verdienen, gerade für das tägliche Leben. Besondere Wünsche können zurzeit nicht erfüllt werden. Nach der Übernahme des Bauernhofes von seinem Vater hatte Julias Papa eine Menge Geld für die Modernisierung des Hofes von der Bank geliehen.

Julias Zimmer mit den warmen Holzdielen liegt direkt über der guten Stube und so hat sie letzte Nacht durch die Holzdecke hindurch ihre Eltern streiten hören.

„Das kannst du Julia nicht antun und Elsa verkaufen oder einfach schlachten.“, hört sie ihre Mutter sagen.

„Elsa ist das letzte Jungschwein, im Moment ist der Kilopreis so hoch wie nie und wir brauchen das Geld!“ Vater Heinrichs Stimme klingt zornig.

„Julia ist alt genug um es zu verstehen“. Seine Stimme hat nun einen zärtlichen Unterton.

Meistens hat Julia ihre Eltern durch den Holzboden lachen gehört. Manchmal haben sie auch gemeinsam musiziert, Gitarre und Zither gespielt. Aber in der letzten Zeit ist das immer weniger und ruhiger geworden. Ihre Eltern haben Sorgen.

Dass Elsa nicht für alle Zeiten im Hof, im Garten, zwischen den Boxen, sogar im Haus grunzend, schnüffelnd, vor Aufregung quiekend herumwühlen würde, war Julia schon oft in den Sinn gekommen. Aber ausgerechnet zwei Wochen vor den großen Ferien; das ist nicht fair.

Julia ballt mit traurigem Zorn ihre Fäuste und kriecht noch tiefer in das Heu.

Mit geschlossenen Augen vernimmt sie ein leises Rascheln und spürt wie jemand an ihren nackten Füßen kitzelt. Erschrocken reißt sie die Augen auf, schaut an ihren braunen Beinen entlang und sieht Babu.

Babu hat ein graues, lila schimmerndes Fell und blaue Augen. Er spürt immer, wenn einer in der Familie leidet. Als Opa letztes Weihnachten mit einem Hexenschuss nicht mehr aufrecht laufen konnte, sprang Babu zu ihm auf das Sofa, zwängte sich zwischen Lehne und Opas Rücken und wärmte die Stelle an der Opa die meisten Schmerzen hatte.

Schnurrend setzt der Kater eine Pfote vor die andere, bis er sich ganz nahe vor Julias Gesicht nach drei Umdrehungen, ins Heu einrollt. Er reibt seinen Kopf sanft an Julias Wange und legt ihn dann vorsichtig in die Kuhle unterhalb von Julias Hals.

Beide liegen ganz still. Irgendwann fühlt Julia ihrer beider gleichmäßigen Atem.

Babus Schnurrhaare kitzeln Julia am Kinn. „Du verstehst mich“, flüstert Julia; eine letzte Träne rollt ihr über die Wange.

„Juuliaa!“ Ihre Mutter kennt das Nest, in das Julia sich stets flüchtet, wenn sie alleine sein will. „Komm herunter, es ist vorbei!“

Babu hebt den Kopf und verschwindet im Heu. Julia wischt sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts die Nase, sie wäre am liebsten mit Babu eingeschlafen.

„Ich komme gleich, “ antwortet sie trotzig.

„Nix gleich, wir müssen noch die Wäsche von der Leine nehmen und Hausaufgaben hast du bestimmt auch noch nicht gemacht, oder?“

„Vor den Ferien haben wir nicht mehr viel auf.“ Julia fährt sich mit ihren braunen, kräftigen Händen durch das kurzgeschnittene, wuschelige, blonde Haar und klopft sich das Heu von den Shorts.

Als sie die Leiter hinuntersteigt und von den letzten vier Sprossen auf den staubigen Scheunenboden springt, hört sie ihre Mutter seufzen. „Ach, ihr habt ja bald Ferien.“

„Dieses Jahr fahren wir doch ans Meer, alle meine Freundinnen verreisen mit Ihren Eltern in den großen Ferien.“

„Vor lauter Arbeit habe ich gar nicht mehr daran gedacht, Papa bestimmt auch nicht.“

Enttäuscht schiebt Julia ihre Unterlippe vor und würde am liebsten wieder hinauf in die noch warme Kuhle im Heu steigen.

„Nicht gleich wieder traurig sein.“ Zärtlich drückt die Mama Julia an ihren weichen Bauch. „Wir werden das heute beim Abendessen mit Papa und deinen Geschwistern besprechen. Komm, lass uns die Wäsche abnehmen. Ich glaube, heute Abend zieht von Westen ein kräftiges Sommergewitter auf.“

 

Die Luft ist schon schwül, als sie aus der Scheune hinaus und hinüber zur Wiese gehen, wo die Wäsche an den zwischen den Obstbäumen gespannten Leinen flattert.

Julia schiebt ihre kleine Hand in die raue Hand ihrer Mama und sagt leise: „Ich möchte so gerne ans Meer.“

Vielleicht ist es der aufkommende Wind, der die Träne in Mamas Augen glitzern lässt.

Heute Abend wird Julias Lieblingsgericht gekocht. Julia isst am liebsten Nudeln, am allerliebsten Spaghetti und am aller, allerliebsten Spaghetti mit Tomatensoße und viel Parmesan-Käse.

Nur ihr kleiner Bruder Leo freute sich auch darauf. Ihre große Schwester Elisabeth, Mama und Papa essen lieber Fleischgerichte. Aber die Familie hatte die Vereinbarung getroffen, dass jede Woche ein anderes Familienmitglied den Speiseplan für die nächste Woche zusammenstellen darf, dem sich die anderen unterordnen müssen. So gibt es nie Streit über das, was auf dem Teller liegt.

Mama hat aus dem letzten Italienurlaub vor drei Jahren die langen, schlanken Spaghettigabeln mitgebracht, und Julia bekommt jedes Mal Sehnsucht nach dem Meer, wenn sie die Spaghetti damit aufrollt.

Julia trägt die tiefen Teller zu dem langen Esstisch, an dem bequem zehn Personen Platz finden, verteilt sie auf die Plätze, an denen die fünf Familienmitglieder immer zum Abendessen sitzen. Auf jedem Teller sind unterschiedliche Nudeln gemalt. Den mit den Spaghetti darauf stellt sie auf ihren Platz. Leo ist schon auf seinen Stuhl geklettert. Er sitzt auf einem dicken Kissen, sodass sein kleines, rundes Kinn gerade an den Tellerrand stößt. Mit seinem Lego-Auto fährt er geräuschvoll zwischen seinem Teller, der Gabel, dem Glas und Serviette hin und her.“ Dann wechselt er sein Motorbrummen in einen quietschenden Bremston, dass Julia beinahe der letzte Teller vor Schreck aus der Hand gefallen wäre und ruft mit verstellter Papa-Stimme: „Kinder wir sind da, ist das nicht ein schöner Platz, direkt am Meer! Alle aussteigen, wir müssen jetzt…..“ In diesem Augenblick kommt Vater in die gemütliche Wohnküche und fragt lachend: „Wo sollen wir aussteigen, Leo?“

„Auf dem Campingplatz am Meer, Papa.“

„Ach ja...“ hilfesuchend schaut er zu seiner Frau, die am Herd gerade die Tomatensoße aus dem Kochtopf in eine Schüssel gießt und sich verzweifelt auf die Unterlippe beißt.

„Ist deine Schwester schon zu Hause?“

„Nein, sie muss heute Überstunden machen und kommt später“, wirft Julia ein.

„Dann lasst uns schon mit dem Abendessen anfangen und wenn Katrin kommt, werden wir darüber reden, was wir dieses Jahr in den Ferien unternehmen werden“.

„Hallo ihr Lieben!“ Katrin wirbelt in die Stube und lässt sich mit einem Schnaufer auf ihren Stuhl fallen. “Gut, dass ihr schon angefangen habt, ich habe überhaupt keinen Hunger, der Chef hat uns Pizza spendiert.“

Mama und Papa werfen sich einen fragenden Blick zu. „Du!“

Papa holt tief Luft. „Also.....jetzt habt ihr ja bald Ferien und wir hatten ja geplant, ans Meer zu fahren. Aber.....dieses Jahr......“

Julias helle Augen werden immer dunkler.

„... dieses Jahr wird es wohl nicht klappen, weil Mama und ich den Hof nicht alleine lassen können. Dies ist nun der erste Sommer, seitdem eure Großeltern nicht mehr bei uns sind, und wir müssen uns erst einmal daran gewöhnen, dass sie uns nicht mehr mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir haben den Hof modernisiert, der neue Kuhstall, der Bulldog, das hat alles viel Geld gekostet und gehört immer noch der Bank. Wir werden diese Jahr wohl nicht in den Urlaub fahren können.“

In die plötzliche Stille - es ist nur noch das Klappern der Gabeln auf den Tellern zu hören, platzt Julia: „Alle fahren weg, nur wir nicht!“

„Also, ich habe damit kein Problem, bei uns in der Firma ist die Hölle los. Wir haben einen großen Auftrag bekommen und mein Chef hat schon Urlaubssperre für die nächsten drei Monate angekündigt. Der Sommer ist dann eh schon vorüber“, versucht Katrin den Eltern zu helfen. „Aber ich will ans Meer“, quengelt Leo und knallt mit seinem Lego-Auto gegen den Spaghettitopf .

Julia ist der Appetit vergangen, sie stochert mit ihrer Gabel traurig in den Spaghetti herum.

„Darf ich aufstehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schiebt sie ihren Stuhl zurück und verlässt schluchzend die Stube.

Sonst ist das Abendessen immer der Moment des Tages, an dem die ganze Familie beisammen sitzt, gemeinsam die für die Familie wichtigen Angelegenheiten bespricht, Julia und Leo von der Schule erzählen, Katrin die neuesten Computer-Anwendungen erklärt und über den Tratsch in der Gemeinde gelacht wird. Es ist immer lustig, obwohl auch manchmal über ernste Themen wie Glauben und aktuelle Weltpolitik diskutiert wird. Der Abend vergeht dann so schnell, dass Mama und Papa noch einen liebevollen Gutenachtkuss bekommen und die Kinder in ihren Zimmern verschwinden.

Heute trottet sogar Leo, der Oberschmuser der Familie, mit gesenktem Kopf in sein Zimmer. Als der Reihe nach die Leselampen ausgehen, ist von niemandem das übliche „Gute Na..acht“ zu hören.

Bedrückt sitzen die Eltern in der Stube. „Ach du meine Güte, da müssen wir uns `was einfallen lassen. Ich habe wegen der vielen Arbeit überhaupt nicht mehr an die Schulferien gedacht“, stöhnt Papa mit belegter Stimme. „Als die Großeltern noch lebten, war das alles viel einfacher.“

Mama schaut gedankenversunken auf die halb leer gegessenen Teller. Der Tisch wird immer gemeinsam abgeräumt.

„Weißt du, vor ein paar Tagen hat uns jemand einen Prospekt in den Briefkasten gelegt, in dem sie ein Sommer-Camp für Schüler anbieten. Das wäre doch `was für Julia, sie ist doch so sportlich und ein bisschen Nachhilfeunterricht in Mathe - das ist auch in diesem Paket enthalten - würde ihr für das neue Schuljahr gut tun. Es liegt irgendwo in den italienischen Alpen und ich glaube, es ist nicht einmal so teuer.“

„Das ist eine gute Idee, da werde ich mir morgen gleich deren Website anschauen. Aber was machen wir mit Leo?“

„Leo ist noch zu klein für so ein Camp, das Beste ist, wir bringen ihn für ein paar Tage zu Tante Ingeborg nach München. Da gibt es große Freibäder, den Tierpark und Onkel Volker, der ist doch jetzt in Pension, freut sich bestimmt, mit Leo auf die Spielplätze mit angegliedertem Biergarten zu gehen“.

„Du bist genial mein Schatz!“ Julias Papa umarmt seine Frau, gibt ihr einen Kuss auf den lächelnden Mund und dann räumen beide frohgelaunt den Tisch ab.

„Julia, Frühstück ist fertig. Trödle nicht so lange im Bad herum, sonst verpasst du noch den Schulbus.“

Die grau grünen Augen, die schon morgens lustig funkeln, sind heute dunkel vor Trotz. Sogar der kleine goldene Punkt, der immer auf ihren Pupillen tanzt, ist verschwunden, als Julia sich an den Frühstückstisch setzt.

„Papa und ich haben uns gestern Abend noch lange unterhalten und ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die dir gefallen wird.“

Der goldene Punkt glimmt wieder auf. Mit einem Hoffnungsschimmer in den fragenden Augen schaut Julia ihre Mama an.

„Was hältst Du davon, diesen Sommer deine Ferien in einem Schüler-Camp zu verbringen?“

„Alleine, ohne euch, ohne Leo und Katrin?“

Enttäuschung klingt aus Julias Stimme, aber auch Neugier blitzt in ihren Augen.

„Du bist da nicht alleine, da werden viele Mädchen und Jungen in deinem Alter sein und es wird eine Menge angeboten – Sport, Musizieren, bestimmt werden sie eine Theatergruppe bilden............“

„Vielleicht kann ich auch reiten!“

„Die haben bestimmt eine Website. Wenn du von der Schule zurückkommst, kannst du alles genau anschauen. So, jetzt beeile dich, sonst fährt der Bus ohne dich ab.“

Als Julia nach Hause kommt, sitzt ihr Papa am Küchentisch vor seinem Laptop, mit einer Tasse Kaffee in der Hand.

„Nun mein Schatz, wie war es in der Schule?“

„Mmmm, wir haben in Mathe eine Ex geschrieben und ich war überhaupt nicht vorbereitet, das ist gemein, so kurz vor den Ferien, aber ich glaube, das ändert nichts an meiner Vier für das Zeugnis .... und wenn schon“, fügt sie trotzig hinzu.

„Mama hat ja schon mit dir über unseren Vorschlag gesprochen, ich habe hier das Programm. Da wird wirklich viel geboten, unter anderem auch Nachhilfeunterricht in Mathe, das passt doch, oder?“