Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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VII, 47. Schwere Bruderkämpfe erhoben sich damals zwischen Bürgern des Gebiets von Tours. Sichar nämlich, der Sohn des verstorbenen Johannes, feierte das Fest der Geburt des Herrn mit Austregisil und den andern Gaugenossen in dem Dorfe Manthelan; da sandte der Priester des Orts einen Knecht aus, um einige Leute einzuladen, dass sie zum Gelage in sein Haus kämen. Da aber der Knecht kam, zog einer von denen, die eingeladen wurden, sein Schwert und scheute sich nicht nach ihm zu hauen. Der sank sogleich um und starb. Als dies Sichar, der mit dem Priester in Freundschaft lebte, hörte, dass nämlich dessen Knecht erschlagen worden sei, nahm er seine Waffen, ging zur Kirche und erwartete Austregisil. Dieser aber rüstete sich, da er solches vernahm, auch mit seinen Waffen und ging ihm entgegen. Sie gerieten alle ins Handgemenge, und während ein Teil dem anderen Schaden tat, stahl sich Sichar unter dem Schutz der Geistlichen fort und entfloh auf seinen Hof, ließ aber im Hause des Priesters sein Silber, seine Kleider und vier seiner Knechte, die verwundet waren, im Stich. Nach seiner Flucht brach Austregisil erneut ein, tötete die Knechte und nahm das Gold, Silber und die übrigen Sachen Sichars mit sich. Danach erschienen sie im Gericht der Bürger, und es wurde entschieden, dass Austregisil zu der gesetzlichen Buße zu verurteilen sei, weil er die Knechte getötet und danach die Sachen ohne richterlichen Entscheid an sich gebracht hatte; darüber war ein Vertrag zustande gekommen; als Sichar aber nach einigen Tagen hörte, dass die Sachen, die Austregisil geraubt hatte, bei Auno und seinem Sohne sowie bei seinem Bruder Eberulf aufbewahrt wurden, schob er den Vertrag beiseite, tat sich mit Audin zusammen, brach den Frieden und überfiel sie mit Bewaffneten bei Nacht; er erbrach das Haus, wo sie schliefen, tötete den Vater mit dem Sohn und dem Bruder, erschlug die Knechte und nahm alle ihre Sachen und Herden mit sich fort. Als wir dies hörten, wurden wir sehr darüber betrübt, verbanden uns mit dem Richter des Orts und schickten Botschaft an sie, sie möchten vor uns erscheinen, ihre Sache austragen und in Frieden auseinander gehen, damit der Hader nicht [<<47] noch weiter um sich greife. Als sie aber kamen und die Bürger beieinander waren, redete ich sie also an: „Lasst ab, ihr Männer, von weiteren Freveln, dass dies Übel nicht noch weiter um sich fresse. Wir haben schon Söhne unserer Kirche in diesem Streite verloren und besorgen, dass wir noch andere einbüßen. Verhaltet euch also, ich bitte euch, friedfertig, und wer Unrecht getan hat, zahle um der Liebe willen die Buße, dass ihr Kinder des Friedens seid, würdig, durch die Gnade des Herrn Gottes Reich zu empfangen. Denn er spricht: ,Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heissen‘. Und sehet, wenn der, dem die Schuld zugesprochen wird, zu wenig besitzen sollte, so soll er mit dem Silber der Kirche ausgelöst werden; nur soll der Mann das Leben nicht verlieren.“ So bot ich ihnen das Geld der Kirche an; die Partei des Chramnesind aber, welche für den Tod seines Vaters, seines Bruders und seines Oheims Genugtuung suchte, wollte es nicht annehmen. Also gingen sie fort; Sichar schickte sich nun an, zum König zu ziehen, und begab sich deshalb in das Gebiet von Poitiers, um seine Frau zu besuchen. Und als er dort einen Knecht antrieb, seine Arbeit zu tun, und ihn mit dem Stock schlug, zog dieser das Schwert vom Gürtel und unterstand sich, seinen Herrn zu verwunden. Als der zu Boden stürzte, liefen seine Gefolgsleute herbei, ergriffen den Knecht, schlugen ihn grausam, schnitten ihm Hände und Füße ab und brachten ihn an den Galgen.

Inzwischen ging in das Gebiet von Tours die Rede aus, Sichar sei umgekommen. Als Chramnesind dies vernahm, entbot er seine Verwandten und Gefolgsleute und stürmte nach Sichars Hause. Nachdem er es ausgeplündert und mehrere Knechte getötet hatte, äscherte er alle Häuser ein, sowohl die des Sichar als die der andern, die an dem Hof Anteil hatten, und nahm die Herden und alles, was fortzubringen war, mit sich. Darauf wurden die Parteien vom Richter nach der Stadt gefordert und vertraten hier ihre Sache; und die Richter fanden das Urteil, dass der, welcher früher die Buße nicht angenommen und vielmehr die Häuser niedergebrannt habe, die Hälfte des Wergelds, das ihm zuerkannt worden war, verlieren sollte – dies war eigentlich gegen die Gesetze und geschah nur, um endlich Frieden zu schaffen; – die andre Hälfte der Buße aber sollte Sichar erlegen. Darauf gab die Kirche das Geld her, Sichar zahlte die Buße nach dem Urteilsspruch und erhielt Sicherheit: die Parteien schwuren sich nämlich gegenseitig, dass kein Teil mehr zu irgendeiner Zeit sich gegen den andern erheben wollte. So nahm der Streit ein Ende.

IX, 19. Der Kampf zwischen den Bürgern von Tours, den wir oben als beendet bezeichnet haben, erhob sich wiederum mit erneuter Wut. Sichar hatte nämlich mit Chramnesind, obwohl er ihm seine Verwandten erschlagen hatte, innige Freundschaft geschlossen, und sie liebten einander so herzlich, dass sie oftmals zusammen ihr Mahl verzehrten und auf einem Lager beisammen schliefen; als daher einst [<<48] Chramnesind ein Nachtmahl anstellte, lud er Sichar zu diesem Gelage ein. Sichar kam, und sie saßen zusammen bei Tische. Sichar erlaubte sich aber, vom Wein erhitzt, gegen Chramnesind viele aufreizende Reden und soll zuletzt gesagt haben: „Großen Dank, herzlieber Bruder, habe ich von dir dafür verdient, dass ich deine Verwandten erschlagen habe; denn du hast das Wergeld für sie empfangen, und nun ist in deinem Hause Gold und Silber die Fülle; arm aber und dürftig würdest du jetzt leben, hätte dies dich nicht etwas zu Kräften gebracht.“ Dies hörte jener; er nahm die Worte Sichars mit Bitterkeit auf und sprach in seinem Herzen: „Wenn ich den Tod meiner Verwandten nicht räche, so verdiene ich nicht ferner ein Mann zu heißen; ein schwaches Weib muss man mich dann nennen.“ Sofort löschte er die Lichter und spaltete jenem mit seinem Schwert den Kopf. Sichar stieß noch im letzten Augenblick einen schwachen Schrei aus, dann sank er nieder und starb. Die Diener aber, die mit ihm gekommen waren, entflohen. Chramnesind riss darauf dem Leichnam die Kleider ab und hing ihn so an den Pfahl einer Zaunhecke, dann bestieg er Sichars Pferde und eilte zum König. Er ging sofort in die Kirche, warf sich dem König zu Füßen und sprach: „Ich bitte dich um mein Leben, ruhmreicher König, denn ich habe die erschlagen, die meine Verwandten heimlich getötet und alle meine Habe mitgenommen haben.“ Und da er alles vollständig berichtete, hörte die Königin Brunichilde voll Unwillen, dass Sichar, der unter ihrem Schutze stand, so ums Leben gekommen sei, und sie fing an, ihrem Zorne gegen ihn Luft zu machen. Da jener sah, sie sei wider ihn, begab er sich nach dem Gau Vosagus in dem Gebiete von Bourges, in dem auch seine Verwandten lebten, weil er in dem Reiche König Gunthramns lag. Tranquilla aber, die Ehefrau des Sichar, ließ ihre Kinder und die Habe ihres Mannes im Gebiet von Tours und Poitiers im Stich und ging zu ihren Verwandten nach dem Dorfe Mauriopes, wo sie sich abermals verheiratete. Sichar endete aber mit etwa zwanzig Jahren. Er war ein leichtfertiger Mensch, ein Trunkenbold und Totschläger, der manchem in der Trunkenheit Gewalt antat. Chramnesind aber ging später noch einmal zum König, und sein Urteil fiel dahin aus, er solle den Beweis erbringen, dass er Sichar in Notwehr erschlagen habe. Das tat er denn wirklich. Da aber die Königin Brunichilde, wie gesagt, Sichar unter ihren Schutz genommen hatte, befahl sie, das Vermögen Chramnesinds einzuziehen; doch wurde es ihm in der Folge von dem Haushofmeister Flavianus zurückgegeben. Denn Chramnesind begab sich zu Aginus und erwirkte von ihm einen Brief, dass ihm niemand etwas anhaben sollte. Ihm war nämlich Chramnesinds Vermögen von der Königin zuerteilt worden.

Vorlage: Bruno Krusch/Wilhelm Levison (Hrsg.), Scriptores rerum merovingicarum tomi I pars I: Gregorii episcopi turonensis libri historiarum X (Monumenta Germaniae Historica Scr.I/1), 2. Aufl. Hannover 1951, S. 366–368, 432–434; auch abgedruckt in: Gregor von Tours, Zehn Bücher [<<49] Geschichten, Buch VII, 47: Von dem Bürgerkrieg zu Tours + Buch IX, 19: Vom Ende Sichars von Tours, bearbeitet von Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2), Darmstadt 1990, Bd. 2, S. 152–157, 256–259 (dort mit Übersetzung).

Die Sichar-Geschichte stammt aus den „Zehn Büchern Geschichten“ des Gregor von Tours. Gregor (ca. 538–594), Bischof in der heute französischen Stadt Tours, schilderte Begebenheiten seiner eigenen Zeit, oftmals Vorgänge, die er selbst miterlebt hatte. Auch in der Fehde zwischen Sichar und seinen Gegnern Austregisil und Chramnesind kam Gregor eine Rolle zu. Gregors Geschichtswerk zeigt ungeschminkt die Gewaltbereitschaft der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts und weist an zahlreichen Stellen darauf hin, wie schlecht und aussichtslos das irdische Leben verlief. Damit unterstreicht sein Buch zugleich die Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen und bekräftigt das Vertrauen in den göttlichen Heilsplan. Wie immer gibt es auch bei ihm keine objektive Geschichtsschreibung, und Gregors Motive haben sowohl seine Stoffauswahl als auch seine Wertungen geprägt. Die Geschehnisse selbst dürften sich im Großen und Ganzen allerdings so zugetragen haben, wie sie berichtet sind.

Mit ihren zahlreichen Personen und unterschiedlichen Handlungsabschnitten sind die zwei Episoden nicht leicht zugänglich. Ein wesentlicher Punkt steht aber von Beginn an außer Frage. Gewalt und Selbsthilfe bestimmten in ganz erheblichem Maße das tägliche Leben zu Gregors Zeit. Kurioserweise brach die Auseinandersetzung ausgerechnet an den Weihnachtstagen aus. Doch statt Frieden auf Erden einzuläuten, wie ihn die Engel im Lukasevangelium verkündigen, stand die Einladung zu einer gemeinsamen Weihnachtsfeier am Beginn eines kaum vorstellbaren Gemetzels. Nach dem Totschlag an einem priesterlichen Knecht nahm Sichar die Fehde auf und strebte nach Blutrache. Schon der Anfang der Episode zeigt überdeutlich, dass sich hier nicht verfeindete Familien oder „Sippen“ gegenüberstanden. Wer auf welcher Seite stand und kämpfte, hing eher von persönlicher Sympathie und Nähe ab, weniger von den Blutsbanden. Mittelalterliche Isländersagas überliefern denselben Eindruck. Die Fehdeparteien bestanden häufig, aber weder zwingend noch immer, aus Familienangehörigen.

 

Der erste Waffengang vor oder in der Kirche scheint für Gregor von Tours keine Unrechtstat gewesen zu sein. Es war Gewalt ausgebrochen, und die einzelnen Teilhandlungen in ihrem sich steigernden Hin und Her gehörten zur Fehde offenbar dazu. Doch nachdem Austregisil einige verwundete und schon am Boden liegende Knechte Sichars erschlagen und Wertgegenstände entwendet hatte, kamen beide Parteien vor Gericht. Ohne dies ausdrücklich zu kommentieren, bestätigt Gregor damit einen Grundzug der vorstaatlichen Rechtsgeschichte. Der Gang zum Gericht war freiwillig, niemand übte hier Zwang aus. Die Gegner standen in iudicio civium, vor einem Gericht der Bürger von Tours. Wie viele und welche Teilnehmer die Gerichtsversammlung [<<50] genau hatte, spielt für die Geschichte keine Rolle. Jedenfalls erlegte dieses Gericht Austregisil eine Buße auf, weil er die wehrlosen und verletzten Knechte getötet und Reichtümer fortgeschafft hatte. Offenbar kannte man bestimmte Spielregeln, die in einer Fehde zu beachten waren, denn die Tötungen der kämpfenden Gegner kamen gar nicht zur Sprache. Die Höhe der Buße bleibt ebenfalls offen. Dafür unterstreicht Gregor von Tours abermals die Freiwilligkeit des gerichtlichen Verfahrens. Es gab nämlich keinen Zwang für die Parteien, die zuerkannte Buße tatsächlich zu zahlen. Vielmehr schlossen sie zusätzlich einen Vertrag über die Sühneleistung. Das Gericht vermittelte auf diese Weise den Ausgleich zwischen Sichar und Austregisil und versuchte, die Fehde zu beenden.

Sichar aber brach den Frieden, den die Gegner zuvor geschlossen hatten. Von einem förmlichen Urfehdeeid, also von einem gegenseitigen Schwur, auf weitere Gewalt zu verzichten, spricht Gregor nicht. Ob Sichar zugleich seinen eigenen Eid verletzte, bleibt offen. Doch die neu aufflammenden Tötungen riefen nunmehr Bischof Gregor von Tours gemeinsam mit dem Richter auf den Plan. Erneut zeigt sich ihre schwache Zwangsgewalt. Sie konnten die gegenseitige Blutrache nicht einfach stoppen, sondern beschränkten sich darauf, Sichar und Austregisil erneut vor Gericht zu laden. Hierfür fehlte es an einem privaten Ankläger, doch mochte es sich um eine ungewöhnliche Konstellation handeln, weil der Bischof selbst sich eingeschaltet hatte. Der Geistliche trat nunmehr persönlich vor dem sog. Bürgergericht auf. Neben seinem Appell an christliche Liebe und Friedfertigkeit unterbreitete Gregor den Parteien ein handfestes Angebot. Er bot ihnen Geld der Kirche an, damit sie die fälligen Sühneleistungen leichter erbringen konnten.

Die Kirche beteiligte sich häufiger mit Schenkungen oder Krediten, wenn es darum ging, Gewalt durch Bußzahlungen abzuwenden. Ein Verbot von Fehde oder Rache scheint schlechthin unvorstellbar gewesen zu sein, und so versuchte die Kirche, die Selbsthilfe zu begrenzen und Ausgleichszahlungen zu erleichtern. Eine Urkunde aus dem Schweizer Kloster St. Gallen aus dem frühen 9. Jahrhundert spricht dieselbe Sprache. Auch dort stellten die Geistlichen einem Doppelmörder die fällige Buße zur Verfügung, damit er sich friedlich lösen konnte. In der St. Gallener Quelle taucht auch der in der Rechtsgeschichte eingebürgerte Begriff auf, den Gregor von Tours nicht nennt. Die Buße für die Tötung eines Menschen hieß zeitgenössisch Wergeld (von lat. vir, Mann). Die kirchlichen Geldangebote bestätigen zugleich, wie hoch die üblichen Bußsummen gewesen sein müssen, wenn einige Parteien sie nicht aufbringen konnten und gerade deshalb den Weg der Gewalt einschlugen.

Bei Gregor von Tours scheiterte dieser Versöhnungsversuch jedoch. Chramnesind, dessen Verwandte Sichar auf der Suche nach seinen entwendeten Wertsachen [<<51] umgebracht hatte, nahm die angebotenen Wergelder nicht an, und damit war die Gerichtsverhandlung gescheitert. Erneut stand Freiwilligkeit über Zwang. Niemand konnte durchsetzen, dass die geschädigte Seite es mit der angebotenen Buße, im Text teilweise compositio genannt, auch gut sein ließ. Eine obrigkeitliche Gerichtsgewalt war machtlos. Es gab zwar einen Richter, doch er beschränkte sich auf Vermittlungsbemühungen. Eine Entscheidung oder ein förmliches Urteil konnte es nicht geben, wenn die Parteien eine Verhandlung ablehnten und das Gericht verließen.

Genau an dieser Stelle führt Gregor dramatisch geschickt den König in die Handlung ein. Anders als in der germanischen Zeit des Tacitus hat man es im 6. Jahrhundert nicht mit Kleinkönigen über einzelne Teilstämme zu tun, sondern mit dem Herrscher über das ausgedehnte Frankenreich, einem Nachfolger König Chlodwigs (466–511), der zum Christentum übergetreten war und ein Großreich errichtet hatte. Sein Geschlecht, die Merowinger, herrschte für zweieinhalb Jahrhunderte und war unter sich genauso zerstritten und blutrünstig, wie Gregor es für seine Zeitgenossen insgesamt schildert. Am Ende der Episode taucht der König noch zweimal auf. In den Augen der Parteien, die sich an ihn wandten und zu ihm reisten, galt er als Richter, dessen Spruch besondere Autorität besaß. Chramnesind, der am Ende als Überlebender siegreich aus der Fehde hervorging, ließ sich vom König bestätigen, er habe sich seinerseits rechtmäßig verhalten. Hierfür erlegte der König ihm durch Urteil einen Beweis auf. Die Einzelheiten bleiben unklar, doch das königliche Urteil verkündete nicht etwa das Ergebnis, sondern stellte lediglich klar, auf welchem Wege Chramnesind seine Unschuld beweisen sollte. Hier zeigt sich der Charakter des Urteils als Beweisurteil. In späteren Jahrhunderten sind die Feinheiten erheblich deutlicher zu sehen, aber bereits in der merowingischen Zeit kannten die Zeitgenossen neben den bloßen Vergleichsvorschlägen zur Sühneleistung auch verfahrensrechtliche Entscheidungen, die bestimmte Beweisführungen vorgaben. In diesen Fällen stand das Urteil nicht am Ende eines Rechtsstreits, sondern gab vielmehr den Fortgang des Verfahrens vor. Ob der auferlegte Beweis gelang oder nicht, scheint im Folgenden für jedermann klar ersichtlich gewesen zu sein. Eines weiteren abschließenden Urteilsspruches scheint man deswegen nicht bedurft zu haben. In welchem Ausmaß der König als Richter obrigkeitliche Gewalt verkörperte und ob er seinerseits mächtig genug war, um für seine Befehle auf Gehorsam zu hoffen, ist unklar. Die Literatur weist teilweise darauf hin, die Könige der merowingischen Zeit hätten bereits echte öffentliche Gerichtsgewalt ausgeübt. Andere bestreiten genau dies. Die Leitfrage nach dem Verhältnis von Staat und Gerichtsbarkeit bleibt daher offen. Doch das Spannungsfeld zwischen dem herrscherlichen Gebot und den einzelnen dinggenossenschaftlichen Gerichtsversammlungen begegnet auch in den folgenden Jahrhunderten als ein Grundproblem der Prozessrechtsgeschichte. [<<52]

Genau auf dieses Wechselspiel weist auch Gregor von Tours hin, denn zwischen die jeweiligen Reisen zum König fügt er in seine Erzählung eine weitere Episode zu den gerichtlichen Verhandlungen in Tours ein. Offenbar aus eigenem Antrieb lud der Richter von Tours die Fehdeparteien nach weiteren Gewaltakten zu abermaligem gerichtlichen Austrag. Die Urteiler, die nun eine Entscheidung verkündeten, nachdem beide Seiten erschienen waren, heißen bei Gregor iudices. Derjenige, dem zuvor eine Kompositionszahlung zuerkannt worden war und der dennoch weitere Fehdehandlungen verübt hatte, sollte die Hälfte des ihm bereits zuerkannten Wergeldes verlieren. Chramnesind hatte sich zuvor geweigert, Sichars Bußleistung anzunehmen. Zur Annahme konnte ihn auch niemand zwingen. Doch die eigenmächtige Fortsetzung des Kampfes trotz des im Raume stehenden Sühnevorschlags war für ihn mit Nachteilen verbunden. Eine friedliche Einigung war nunmehr nur noch halb so einträglich. Doch die Bemühungen zeigten an dieser Stelle Erfolg. Die Kirche stellte Sichar die fällige Buße zur Verfügung, und er zahlte sie an Chramnesind aus. Endlich kam es zu einem förmlichen Urfehdeschwur. Beide Seiten gelobten, künftig friedlich und gewaltlos zusammenzuleben.

Die Zahlung der Komposition wahrte auf beiden Seiten das Ansehen. Weder die Ehre des Empfängers noch die der zahlenden Partei wurden gekränkt. Gregor selbst stellte mit seinen mehrfachen Hinweisen auf die gerichtlichen Ausgleichsbemühungen den friedlichen Streitaustrag auch deutlich über die gewaltsame Fehde. Frieden war nicht erzwingbar, aber doch zu wünschen. Das Kompositionensystem – soweit es angebracht ist, von einem System zu sprechen – hatte seine Schwächen, doch die Kirche förderte mit eigenen Geldleistungen genau diese Form des Unrechtsausgleichs.

2.4.2 Zum Verhältnis von Blutrache, Ehre und Sühne

Die rechtshistorische Literatur hat lebhaft über den Zusammenhang von Ehre, Blutrache und Sühneleistung nachgedacht. Gerade in der älteren Forschung haben hierbei romantische Vorstellungen vom freien germanischen Krieger eine maßgebliche Rolle gespielt. Vielleicht erschienen Unrechtstaten gegen die eigenen Verwandten und Freunde den Zeitgenossen in erster Linie als Ehrverletzungen, und möglicherweise waren Rachehandlungen zugleich Versuche, die geschändete Ehre zu verteidigen und wiederherzustellen. Gregor von Tours scheint diesen Zusammenhang zu bestätigen. Sichar brüstete sich leicht angetrunken, Chramnesinds Reichtum beruhe nur auf den empfangenen Wergeldern, und daher müsse Chramnesind ihm für den Totschlag an seinen Verwandten geradezu dankbar sein. Für Chramnesind konnte eine mannhafte Antwort auf diese Beleidigung nur darin bestehen, Sichar sofort den Schädel [<<53] zu spalten. Beim Verzicht auf sofortige Rache hätte Chramnesind als Schwächling dagestanden. Der enge zeitliche Zusammenhang, die Nähe zu einer spontanen Ehrverteidigung verbieten allgemeine Aussagen. Mehrfach schildert Gregor von Tours gerichtliche Sühneversuche, ohne dass Ehrkränkungen dort zur Sprache kämen. Teilweise geistert ein angebliches Rechtssprichwort durch die Diskussion. „Ich will meinen Bruder nicht im Beutel tragen.“ Mit dieser Einstellung sollen Unrechtsopfer und ihre Unterstützer auf Kompositionszahlungen verzichtet haben und lieber frei und offen zur Fehde geschritten sein. Doch das geflügelte Wort entstammt einem anderen Zusammenhang. In der isländischen Saga von Thorstein dem Weißen verzichtet der Racheberechtigte mit diesen Worten auf das angebotene Wergeld. Er schreitet aber nicht etwa zur Blutrache, sondern versöhnt sich mit seinem Widersacher, ohne dafür Geld zu nehmen. Vielmehr begründen beide ein neues Vater-Sohn-Verhältnis. Für eine durch Ehre gebotene Rachepflicht geben die Quellen wenig her. Auch in dieser Hinsicht sind die frühen Formen der Rechtsdurchsetzung von Freiwilligkeit geprägt.

Zweimal spricht Gregor von Tours in seiner Sichar-Erzählung ausdrücklich vom Gesetz. Einmal geht es um eine censura legalis, die Austregisil zahlen sollte, also um eine Art rechtlich gebotenen Ausgleich, danach um die Halbierung des Wergeldes contra legis actum, obwohl das „Gesetz“ entgegenstand. Offenbar gab es normative Vorstellungen, die über die reine Befriedung einzelner Fehden hinausreichten. Gregor nannte sie leges. Doch waren damit kaum obrigkeitlich erlassene Gesetze gemeint, denn die gab es im Frankenreich zu dieser Zeit nicht. Vielmehr spielt er wohl auf Rechtsgewohnheiten an, auf überkommene und weithin verbreitete Rechtsanschauungen in der Bevölkerung oder wenigstens innerhalb der Gerichtsgemeinde. Die neuere rechtsgeschichtliche Literatur hat sich abgewöhnt, für die Zeit vor der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts von Gewohnheitsrecht zu sprechen. Gewohnheitsrecht setzt allgemeine, abstrakt-generell formulierbare Rechtssätze voraus, die einen Gegenpol zum Gesetzesrecht bildeten. In einer Zeit ohne Gesetzgebung und Rechtswissenschaft müssen solche Annahmen wenig zeitgerecht wirken. Doch Gregors doppelter Hinweis lenkt den Blick von Sichar und seinen Feinden zu den Rechtsgewohnheiten der fränkischen Zeit und damit auf die zahlreich überlieferten Stammesrechte.