Solo für Sopran

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9.

»Natürlich ist Urlaubszeit! Glauben Sie, ich weiß nicht, dass Urlaubszeit ist? Wissen Sie eigentlich, von wo ich anrufe?« Lüppo staunte selber, wie unbeherrscht er in den Telefonhörer brüllte. Mit seinen Nerven stand es offenbar nicht zum Besten. Und das schon nach nicht einmal einem halben Tag Stress.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie lautete »klick«.

Seufzend legte er den Hörer an seinen Ruheplatz. Wenigstens kein Anschiss wegen seiner Unbeherrschtheit. Zuweilen musste man ja mit wenig zufrieden sein.

»Und?«, fragte der Mann, der sich an der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtisches breit gemacht hatte. Was ihn nicht viel Mühe kostete, denn breit war er ohnehin. Ziemlich groß, mit ausladendem Kreuz und absolut kompatibler Wampe, einem stoppelhaarigen Rundschädel und kräftigen Armen und Händen. Stahnke. So sah der also aus.

Merkwürdige Augen hat er, fand Lüppo Buss. Rund, hellblau, etwas wässrig, auf den ersten Blick absolut harmlos. Aber sie hafteten wie Saugnäpfe. Wenn der die Leute nur lange genug anschaute, saugte er mit diesen Augen bestimmt allerhand aus ihnen heraus.

»Verstärkung kommt«, sagte der Inselkommissar. »Zwei Leute. Morgen. Mit der Fähre.«

»Zwei?«, fragte Stahnke ungläubig. »Morgen?«

Lüppo Buss lachte bitter. »Genau. Und das, obwohl wir hier gerade auf fünfzig Prozent der Sollstärke reduziert sind, sozusagen! Wittmund sagt, es gehe nicht anders, es sei Urlaubszeit. Tolle Neuigkeit für uns Insulaner.«

Stahnke nickte versonnen. »Tja, das erklärt dann ja auch, warum ich hier bin. Urlaub machen. Komisch, dass ich trotzdem wieder in einem Polizeibüro sitze, was?«

Lüppo Buss zeigte keine Reaktion.

Der massige Mann ihm gegenüber fühlte sich alles andere als willkommen. Ist ja auch klar, dachte Stahnke. Wie würde ich mich denn fühlen, wenn plötzlich ein Kollege von auswärts bei mir reinschneien würde, und zwar just dann, wenn ich in der Klemme sitze? Noch dazu ein höherrangiger, einer, dessen Foto man aus der Zeitung kennt? Bescheiden, äußerst bescheiden würde ich mich fühlen, und mehr als das. Aber wenn ich seine Hilfe brauchen könnte, würde ich ihn nicht wegschicken, sonst wäre ich ja ganz schön blöd. Und blöd sieht dieser Lüppo Buss eigentlich nicht aus.

»Da sieht man mal, was beim Plänemachen rauskommt«, erwiderte der Inselkommissar mit Verspätung.

Stahnke entschied, dies als Einladung zur Mitarbeit zu betrachten. »Packst du nix an, dann schleit di nix fehl, pflegte mein Vater immer zu sagen«, erwiderte er. »Oder mit anderen Worten: Wer keine Pläne macht, der hat auch nichts zum Ändern.«

Lüppo Buss grinste. »Stimmt. In meinem Fall heißt das, dass ich meinen Plan, die ganze Insel sowohl nach dem vermissten Mädchen als auch nach diesem verdächtigen Individuum zu durchkämmen, in die Tonne treten kann. Ohne eine Hundertschaft vom Festland ist das nicht zu machen. Am besten bräuchte ich dazu ein paar Züge Bereitschaftspolizei aus Oldenburg.«

»Und die können Sie nicht anfordern, weil Sie Ihre vorgesetzte Stelle in Wittmund nicht übergehen dürfen.« Stahnke nickte. Befehls- und Zuständigkeitsstrukturen waren ihm gleichermaßen bekannt wie verhasst. »Aber die Blutuntersuchung machen die schon noch für Sie, oder?«

Lüppo Buss nickte. »Die Unnerbüx ist schon unterwegs. Per Lufttaxi.«

»Haben wir auch eine Vergleichsprobe für die Genanalyse?«

»Ja«, bestätigte Buss. »Hilke Smits Waschzeug mit Haarbürste. Habe ich gleich dazugepackt.« Er rieb sich nachdenklich das Gesicht und strich sich danach sorgfältig über die dichten blonden Augenbrauen, ohne an deren raupenartiger Borstigkeit etwas ändern zu können. »In ihrem Zimmer fehlt nichts, sagen Hilkes Mitbewohnerinnen. Gepackt hat sie nicht.«

»Sieht nicht gut aus«, murmelte Stahnke.

»Morgen schicken sie mir also ein Ermittlerteam.« Der Ärger über die Kompetenzlage ließ Lüppo Buss offenbar so schnell nicht los. »Eins! Ich hatte drei angefordert, aber wer bin ich schon?« Hatte seine Stimme zuvor schon bitter geklungen, so wurde sie jetzt ätzend. »Hauptkommissar Dedo de Beer und eine Mitarbeiterin. De Beer wird die Sache an sich reißen, ist ja klar. Ich bin ja gerade gut genug für den Kleinscheiß. Fahrraddiebstähle, Ladendiebstähle, vielleicht mal ’n kleiner Einbruch. Oder hier, heute Morgen reingekommen, ein Bootsdiebstahl im Yachthafen! Aber wehe, es kommt mal dicker. Dann muss natürlich ein Hauptkommissar vom Festland ran.« Er schaute Stahnke an, als hätte er dessen Existenz zwischenzeitlich ausgeblendet: »Nichts für ungut, Herr Hauptkommissar.«

»Klar.« Stahnke räusperte sich. »Sagen Sie, sind Sie denn nicht gerne hier auf Langeoog? Ich meine, wenn Sie sich beruflich verändern wollen, mal andere Schwerpunkte setzen, andere Tapeten begucken, dann haben Sie natürlich auf dem Festland ganz andere Möglichkeiten als hier.«

»Um Gottes Willen, nein!« Lüppo Buss hob abwehrend die Hände. »Ich lebe furchtbar gerne hier. Bin auch hier geboren. Nicht, dass ich nicht schon mal was anderes gesehen hätte; während meiner Ausbildung bin ich ziemlich rumgekommen. Emden, Oldenburg, sogar Hannover. Habe mich durchaus schon ein bisschen orientiert. Gerade deshalb lebe ich ja so gerne hier.« Er beugte sich vor und pochte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Tischplatte: »Aber dann soll das hier auch mein Beritt sein, bitteschön, verstehen Sie? Meiner und der von Bodo, meinem Kollegen. Dann will ich nicht den Eindruck haben, dass ich nur der Platzhalter bin, solange hier nichts läuft, was einen kompetenten Fachmann verlangt! Quasi als Trachtenfuzzi, der den Sessel warm hält, bis echte Polizisten kommen! Können Sie das nachvollziehen?«

»Kein Problem, kann ich«, entgegnete Stahnke, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber dass das eine ziemlich blauäugige Einstellung ist, wissen Sie schon, oder? Keiner von uns hat Anspruch auf Revierabgrenzungen und so etwas in der Art. Wir sind schließlich Beamte, keine Sheriffs. Oder Kopfgeldjäger. ‚Mein Beritt’ oder ‚mein Fall’ – das gibt es offiziell nicht.«

»Weiß ich doch«, sagte Buss. »Offiziell. Aber man ist doch auch Mensch. Ich jedenfalls. Sie wohl auch, oder? Emotional funktioniert eben vieles anders als offiziell. Und emotional mag ich mir meine Motivation nicht gerne kaputttrampeln lassen. Meine Motivation ist nämlich sehr hoch, und sie ist für mich ein sehr hohes Gut. Ich betrachte es geradezu als Dienstpflicht, sie zu erhalten.«

»Gute Einstellung«, sagte Stahnke.

Lüppo Buss schmunzelte. »Sehen Sie«, meinte er dann, »das hätte Kollege de Beer niemals gesagt.«

»Aha, so ist das.« Stahnke richtete sich auf. »Dann lassen Sie uns doch mal überlegen, was wir bis morgen früh tun können. Auch ohne Hundertschaft. Solange die Motivation noch hoch ist.«

»Klinken putzen«, entgegnete Lüppo Buss prompt. »Restaurants, Kneipen, Cafés. Bilder von dem vermissten Mädchen habe ich ja bekommen. Vor allem die Läden abklappern, wo Jugendliche verkehren. Oase, Dwarslooper, Düne 13 und wie die alle heißen. Und dann die Hotels und Pensionen. Nachfragen, ob irgendwo ein Mann abgestiegen ist, auf den die Beschreibung passt.« Er grinste wieder: »Letzteres machen Sie am besten. Dann sparen wir uns das Phantombild. Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und dem Sittenstrolch scheint ja doch frappierend zu sein.«

Stahnke grinste müde zurück: »Was glauben Sie, mit was für Gangstern ich schon verwechselt worden bin! Da könnte ich Ihnen Storys erzählen. Na, vielleicht ein anderes Mal.« Er schickte sich an aufzustehen, hielt aber inne: »Was ist eigentlich mit den Eltern des Mädchens? Sind die schon informiert?«

»Habe ich versucht«, sagte Lüppo Buss. »Es geht aber keiner ans Telefon. Die Lehrerin, diese Frau Taudien, glaubt sich zu erinnern, dass das Ehepaar Smit die Gelegenheit genutzt hat, ohne ihre Tochter in Urlaub zu fahren. Südsee oder noch weiter weg. Anschrift oder Telefonnummer liegen nicht vor. Wenigstens wusste die Lehrerin die Blutgruppe des Mädchens.«

»Man fragt sich, wozu sich manche Leute eigentlich Kinder anschaffen, wenn sie dann doch nur ihre Ruhe vor ihnen haben wollen«, sagte Stahnke. »Erst werden die Kleinen verhätschelt bis zum Gehtnichtmehr, und dann heißt es: ›Hier ist dein Computer, da dein Fernseher, da hast du dein fettes Taschengeld – aber nun lass mich gefälligst auch in Frieden!‹ Und wir wundern uns dann über unsere Klienten.«

»Haben Sie Kinder?«, fragte Lüppo Buss.

»Ich? Nein, wieso?« Stahnke hieb sich beide Handflächen auf die Oberschenkel: »So, an die Arbeit! Wir haben noch den halben Nachmittag vor uns. Und den ganzen Abend.«

»Von der Nacht ganz zu schweigen«, ergänzte Lüppo Buss. Fasziniert blickte er seinem Kollegen nach, der sein mächtiges Kreuz schon zur Tür hinauswuchtete.

Macht einen durchaus zufriedenen Eindruck, überlegte er. Als sei er froh, endlich wieder etwas zu tun zu haben. Offenbar ist Urlaubmachen doch nicht jedermanns Sache.

10.

Sie wartete in der Nähe des Wasserturms auf ihn, nicht weit von dem neuen Lale-Andersen-Standbild, wie abgesprochen, und tat so, als studierte sie die Auslagen der Inselbuchhandlung. Ohne ein Zeichen des Erkennens wandte sie sich ab, kaum dass sie Blickkontakt aufgenommen hatten, und spazierte den breiten, befestigten Weg entlang in Richtung Strand. Er folgte ihr in gebührendem Abstand.

Das Wetter war immer noch ausnehmend schön, und die Sonne schien mit einer für diese Jahreszeit erstaunlichen Kraft. Zahlreiche Badegäste waren unterwegs, überwiegend ältere Leute, aber auch Ehepaare mit kleinen Kindern. Kaum jemand achtete auf das Mädchen mit den langen dunkelblonden Haaren, dem bunten Wickelrock, der hellgelb gestreiften Strandtasche und dem nachlässig geknöpften Herrenoberhemd, dessen untere Zipfel von gelegentlichen Windböen hochgeweht wurden und dabei kurze Blicke auf straffe, zimtbraune Haut ermöglichten. Und niemand achtete auf den schlanken, ebenfalls sommerlich gekleideten Herrn in mittleren bis vorgerückten Jahren, den es offenbar ebenfalls zu einem nachmittäglichen Sonnenbad an den Strand zog.

 

An der Dünenpromenade wandte sie sich nach links, vorbei an niedrigen, dicht bewachsenen und vom Weg aus gut einsehbaren Dünen, die für ihre Zwecke ungeeignet waren. Weiter voraus aber lag das nächste Dünenschart, eine der Stellen, wo der hohe Randdünengürtel, der die Insel auf ihrer der Nordsee zugewandten Seite schützend umgab, durchquert werden konnte. Dort führte ein Weg durch die Randdünen zum Strand. Diesen Punkt steuerte sie an.

Das Pflaster des Weges ging in schrundige, verwitterte hölzerne Planken über, die teilweise von puderfeinem Sand bedeckt waren wie von niedrigen Schneewehen. Heiden liebte diese Bohlenwege, die so eindringlich das Gefühl von Urwüchsigkeit und Abgeschiedenheit vermittelten. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, anzuhalten und Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um das raue Holz und den weichen Sand ganz unmittelbar auf der Haut zu spüren. Er verzichtete jedoch darauf, um nicht das Risiko einzugehen, die junge Frau aus den Augen zu verlieren.

Zu Recht, denn die verließ soeben den Bohlenweg, stieg seitlich über den niedrigen Drahtzaun, obwohl zahlreiche Hinweistafeln das Betreten des Schutzbereichs verboten, und bog in die Randdünen ab. Einige Urlauber schüttelten die Köpfe, die meisten aber kümmerten sich nicht darum, und schon gar keiner machte den Versuch, sie aufzuhalten. Abstecher in die geschützten Dünen galten als Kavaliersdelikt, solange man sich dort gesittet verhielt und keine Lagerfeuer entzündete oder wilde Partys feierte.

Heiden passierte die Stelle, an der das Mädchen abgebogen war, und schlenderte weiter, ohne sie auch nur eines Seitenblicks zu würdigen. Ein paar Dutzend Schritte weiter hockte er sich hin, um sich nun doch seiner Leinenschuhe und der hellgrauen Socken zu entledigen. Im Aufstehen blickte er sich wie von ungefähr um, stellte fest, dass sich gerade niemand in seiner Nähe befand, und bog ebenfalls in die Dünen ab.

Der weiche Sand schien an seinen Füßen zu saugen, während er energisch voranstapfte. Trotz des schweren Geläufs kam er flott voran. Wenig später war der Strandweg bereits außer Sicht.

Er hielt sich zwischen den knapp zwanzig Meter hohen, mit Quecke, Strandhafer und Sanddornsträuchern bewachsenen Sandhügeln, um kraftraubende Anstiege zu vermeiden und seine Deckung nicht zu gefährden. Wo sich eine Düne direkt vor ihm aufbaute, hielt er sich links. So müsste es klappen, schließlich war das Verfahren erprobt.

Und richtig, da war sie. Wie hingegossen lag sie auf einem blauen Badelaken, das sie am Fuß einer Düne ausgebreitet hatte. Wickelrock und Hemd hatte sie ausgezogen. Der hellrosa Bikini schien neu zu sein, jedenfalls kannte er ihn noch nicht. Das Oberteil war im Nacken geschnürt und formte ein atemberaubendes Dekolleté, und das Höschen war ziemlich knapp. Leise pfiff er durch die Zähne. Diese Sabrina verstand es wirklich, ihre körperlichen Vorzüge zu vermarkten.

Heiden ließ sich neben seine Schülerin auf das Badelaken sinken, sorgsam darauf bedacht, dass seine Gelenke nicht knackten, und beugte sich über sie. Ohne alle Umstände schlang sie ihre weichen Arme um seinen Nacken, zog ihn ganz zu sich heran und küsste ihn. Auch davon verstand sie etwas. Als sie wieder von ihm abließ, rang Heiden nach Atem.

Sie strahlte ihn an. »Klasse!«, sagte sie. »Ich freu mich so.«

Heiden lächelte geschmeichelt. »Ach, das war doch noch gar nichts«, erwiderte er, während seine langen Finger Sabrinas anmutig geschwungene Taille und Hüfte entlangfuhren. Er liebte es, diese zarte, elastische Haut mit den winzigen Flaumhärchen zu berühren, die golden vor dem zimtbraunen Untergrund flirrten. Bloß gut, dass die Tinnekens nicht diesem modischen Magerkeitswahn huldigte wie so viele ihrer Schulkameradinnen. Ihr Körper war trotzdem schlank und straff, dabei aber kein bisschen knochig, sondern griffig und geschmeidig, genau so, wie er es liebte.

Das Mädchen schaute ihn einen Augenblick lang verständnislos an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. »Nein, doch nicht der Kuss! Das habe ich doch nicht gemeint. Von der Amerikareise habe ich gesprochen!«

Pikiert richtete Heiden sich auf, stützte sich auf den linken Ellbogen und zog seine rechte Hand zurück. »Ja, klar. Die Reise. Habe ich doch gerne für dich getan.«

Ihr Lachen brach ab. »Du bist ja wohl nicht der Einzige, der etwas dafür getan hat«, sagte sie in scharfem Ton.

Heiden zuckte noch ein Stückchen weiter zurück. Da war er wieder, dieser selbstzufriedene Gesichtsausdruck, der ihm schon heute Vormittag im Haus der Insel aufgefallen war. Diesmal noch deutlicher, verstärkt durch einen Schuss Ärger über seine offenbar als Anmaßung empfundenen Worte. Ja, war denn dieses Mädchen, diese kindsköpfige junge Frau wirklich und wahrhaftig der Ansicht, ihr Chorleiter habe angesichts ihrer überragenden Leistungen gar nicht anders gekonnt, als sie mit Kusshand ins Amerika-Aufgebot zu berufen?

Dann dämmerte es ihm. Himmel, dachte er, wie blind war ich eigentlich. Dabei lagen die Fakten doch klar auf der Hand. An denen war nichts zu deuteln, die standen so fest wie die Noten einer Partitur. Der feine und entscheidende Unterschied aber lag in der Interpretation. Wie so oft. Und eben nicht nur in der Musik. Frühreifes, unerfahrenes junges Mädchen erliegt dem betörenden Charme eines erfahrenen Gentleman, lernt durch ihn die Liebe kennen und wird für ihre Hingabe mit einer schönen Reise belohnt – so hatte er die Sache gesehen. Jetzt sah er die Dinge mit Sabrinas Augen, und diese Perspektive trieb ihm trotz der wärmenden Herbstsonne kalte Schauer über den Rücken. Clevere, durchtriebene junge Frau will unbedingt ihren Ehrgeiz befriedigen, und weil die Sangeskunst allein dafür nicht ausreicht, setzt sie bedenkenlos auch ihren Körper ein. Und der geile alte Bock von Chorleiter ist eitel genug, sich darauf einzulassen und mit ihr in die Kiste zu steigen. Bums, schon ist die Amerikareise gebucht. Kein Wunder, dass das Früchtchen mit sich zufrieden war.

Er biss sich auf die Lippen. Na schön, dachte er, dann machen wir mal gute Miene und spielen das böse Spielchen auch zu Ende.

»Du hast recht«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Hast dich mächtig ins Zeug gelegt. Respekt, meine Liebe. Deine Steigerung in den letzten Wochen war unverkennbar.«

»Wie meinst du das?« Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »In welcher Hinsicht gesteigert? Beim Singen oder …«

Diesmal zog er sie zu sich heran, strich ihr mit beiden Händen über Nacken und Wirbelsäule, so wie sie es gerne hatte, und küsste sie. Schließlich verstand auch er einiges davon, und der Zorn, den er auf Sabrina empfand, tat seiner Lust auf ihre jungen, weichen Lippen keinen Abbruch.

»Wo denkst du hin«, sagte er, als sie beide wieder Luft holen konnten. »Beim Singen natürlich. Was das andere angeht, wie willst du dich da steigern? Du bist doch ein absolutes Naturtalent!«

Sie lachte geschmeichelt und dockte ihren Mund erneut an seinem an.

Unglaublich, dachte er, was man diesen jungen Dingern so auftischen kann. Drei Nummern gröber geschmeichelt als die absolute Schmalzgrenze – ganz egal, die glauben einfach alles. Gierig ließ er seine Hände über ihre Haut wandern.

Sie löste ihr Gesicht von seinem, fragte atemlos: »Willst du? Hier, mitten in den Dünen?«

Wäre ja nicht das erste Mal, schoss es ihm durch den Kopf. Laut aber sagte er: »Lust hätte ich schon, aber ich weiß nicht, ob wir hier wirklich ungestört sind. Um uns tagsüber zu treffen, sind die Dünen ja ideal, da sind unsere Leute entweder am Strand oder im Ort, aber für alles andere … zu riskant. Lieber heute Abend. Ich habe uns wieder ein Zimmer besorgt. Wollen wir uns so gegen halb zehn treffen? Beim Dünenfriedhof, wie immer?«

»Ist gut«, sagte sie und ließ von ihm ab. Sie kramte in ihrer Strandtasche, förderte eine Plastikflasche Mineralwasser zu Tage und trank durstig. Dann hielt sie ihm die Flasche hin.

Früher hätte ich die Flasche zuerst bekommen, dachte Heiden grimmig. Aber er sagte nichts, sondern griff zu und lächelte dankend.

»Sag mal«, fragte Sabrina, während sie ihr Hemd wieder überstreifte, »was wird jetzt eigentlich mit Hilkes Platz im Chor? Du hast doch bestimmt schon einen Ersatz für sie im Auge, ganz egal, ob ihr nun etwas zugestoßen ist oder nicht. Ist doch so, oder?«

»Tja.« Er zögerte. »Von den Leistungen her wäre Theda Schoon wohl dran. Trotz ihres Patzers neulich.«

»Nee, nicht?« Sabrina richtete sich im Sitzen steil auf, ein einziges Stück Ablehnung. »Auf keinen Fall Theda! Jede andere, aber nicht die.«

»Na sag mal!«, fuhr Heiden auf. »Wie kommst du denn dazu, so etwas zu sagen? Ich kann doch wohl besser beurteilen, wer hier am ehesten die Leistung bringt, die wir …«

»Und ich kann wohl am ehesten beurteilen, auf wen du scharf bist!« Sabrinas Stimme wurde schneidend. »Glaubst du, ich merke nicht, wie die sich an dich ranschmeißt? Dir schöne Augen macht? Ich weiß ja, dass dir so etwas gefällt. Aber das kommt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.«

»Und was, wenn doch?« Der Chorleiter war jetzt richtig sauer. »Willst du dann vielleicht vor lauter Wut deine Teilnahme an der Amerikareise absagen? Glaubst du etwa, du bist unersetzlich?«

»Frag nicht so dämlich«, sagte sie leise. »Dann gehe ich zur Taudien. Ich bin zwar schon über sechzehn, aber noch bin ich Schülerin. Und zwar deine. Von Unzucht mit Abhängigen hast du ja wohl schon gehört.«

Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten fragte sich Heiden, wie blind er denn gewesen war. Natürlich war er sich des Risikos bewusst gewesen – eines theoretischen Risikos, gewiss, aber keiner wirklichen Gefahr. Ihn, den Verehrungswürdigen, schwärzte man doch nicht an! Seine Gunstbeweise waren schließlich Geschenke, die heiß ersehnt und dankbar akzeptiert wurden …

Ja, Scheiße. Angeschmiert war er, und zwar nicht zu knapp. Diese miese kleine Göre hatte ihn jetzt in der Hand, und er musste nach ihrer Pfeife tanzen. Jedenfalls für ein Weilchen. Trotzdem, schlimm genug.

Er entschied sich einzulenken. »Wahrscheinlich hast du recht. Es muss auch nicht Theda sein. Da gibt es ja noch andere, die nicht viel schlechter sind. Wie wäre es denn …« Er ließ die Riege der Kandidatinnen vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Wirklich hässlich war keine von ihnen, stellte er fest; in einem gewissen Alter schienen alle Mädchen reizvoll zu sein. Jedenfalls für ihn.

Dann hatte er es. »Wie wäre es mit Wiebke Meyer?«

Sabrina nickte. »Wiebke ist in Ordnung«, sagte sie gönnerhaft. »Die ist noch voll das Kind. Total unreif.«

Sie erhob sich, schlang sich den Wickelrock um die Hüften und zerrte an ihrem Badelaken: »Steh mal auf!«

Gehorsam rappelte er sich hoch. »Dann sehen wir uns heute Abend?«

»Halb zehn, alles klar«, erwiderte Sabrina, ohne ihn anzusehen, und packte ihre Tasche fertig.

Sie hat die Zügel nicht nur fest in der Hand, sie hat sich auch schon an diesen Zustand gewöhnt, stellte Heiden fest. Eine unangenehme Situation.

Nachdenklich stapfte er durch den weichen Sand zurück in Richtung Wasserturm.

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