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Pete Walker

Das Tao der Gefühle

Vergebung praktizieren und traumatische

Kindheitserinnerungen hinter sich lassen


Impressum

Pete Walker

Das Tao der Gefühle: Vergebung praktizieren und

traumatische Kindheitserinnerungen hinter sich lassen

1. deutsche Ausgabe 2021

ISBN 978-3-96257-229-7

© 2021, Narayana Verlag GmbH

Titel der Originalausgabe:

The Tao of fully Feeling: Harvesting Forgiveness out of Blame

© 1995, Pete Walker

Übersetzung aus dem Englischen: Elisabeth Möller-Giesen

Coverlayout: Nicole Laka, www.Nicole-Laka.de Coverabbildung: shutterstock 503896363, © HstrongART

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH,

Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970-0

E-Mail: info@unimedica.de www.unimedica.de

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Für meine beste Freundin, Sat Ferren, die wie eine Mutter für mich war.

Für Jim Dowe, »Walt Whitman in a Buick«, meine wichtigste Vaterfigur.

Für meine Schwestern Pat, Diane und Sharon durch deren Liebe in der Kindheit mein Herz am Leben blieb.

Ich weiß, es gibt kein Gefängnis, außer dem, das ich mir selbst schaffe, um mich davor zu schützen, meinen Schmerz zu spüren. – Sheldon Kopp

Den Schmerz einzuladen, Teil meiner Erfahrung zu werden, und mein Leben nicht kontrollieren zu müssen, um den Schmerz zu kontrollieren, bedeutet eine solche Freiheit! – Christina Baldwin

Inhalt

Begriffe

Einleitung

Kapitel 1 – Die Bedeutung der Wiedererlangung des ganzen Spektrums der Gefühle

Schluss mit der Flucht vor den Gefühlen

Wie Schuldzuweisungen zur Vergebung führen

Trauer geht der Erlösung voraus

Wie kann ich dir verzeihen, wenn du keine Schuld hast?

Vergeben, aber nicht vergessen

Der Lohn der emotionalen Genesung

Kapitel 2 – Vergebung als Verleugnung

Verleugnung verschleiert Selbstschädigung

Vorschnelle Vergebung und Schuld

Vorschnelle Vergebung und der Verlust der fundamentalen Menschenrechte

Falsche Vergebung und Perfektionismus

Verleugnung des Perfektionismus

Perfektionismus tötet das Selbstwertgefühl, so wie Falschheit die Liebe tötet

Es gibt nicht den perfekten Menschen

Wunderliche Vorstellungen von Perfektionismus

Inselbegabte der emotionalen Art

Kapitel 3 – Das Tao der Gefühle

Grundlegende Dynamik der emotionalen Natur

Ganzheitlichkeit

Polarität

Polarität zu verstehen hilft uns mit normaler Einsamkeit umzugehen

Ambivalenz

Ambivalenz und Spaltung

Ambivalenz und Spiritualität

Im Fluss

Kapitel 4 – Die Gaben des Trauerns

Die Verluste der Kindheit betrauern und zurückfordern

Die durchs Trauern zurückgewonnenen Emotionen bereichern die Lebenserfahrung

Mögliche Ziele der Genesung

Trauern weckt das Selbstmitgefühl

Trauern aktiviert den Selbstschutzinstinkt

Trauern mildert emotionale Flashbacks

Die dysfunktionale Familie als Kriegsgebiet

Trauern verringert Somatisierung

Trauern öffnet die Tür zu Frieden und Entlastung

Trauern befähigt das Herz, wieder zu lieben

Umschiffung meiner Einsamkeit

Geführte Meditation

Trauern vermindert die Verleugnung und Verharmlosung

Trauern lindert Furcht und Scham

Kapitel 5 – Die vier wesentlichen Trauerprozesse

Weinen

Selbstmitleid in Selbstmitgefühl umwandeln

Weinen heilt Katastrophisieren und Dramatisieren

Weinen und positive Nostalgie

Wütend sein

Techniken, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen

Wut ablassen schafft Vertrauen

Vorübergehende Abspaltung der Wut hilft bei der Genesung

Verbale Entlastung

Gefühle ganzheitlich zum Ausdruck bringen

Fühlen

Technik zur Verbesserung des Fühlens

Fühlen als spirituelle Praxis

Wie die Vernunft das Trauern umgeht

Trauern ist nicht immer eine schnelle Lösung

Die Dunkle Nacht der Seele

Unvorhersehbare Stürme der Trauer

Wenn Trauern keine Erleichterung bringt

Kapitel 6 – Trauern fördert die Lebenskraft, indem selbstzerstörerisches Verhalten abgebaut wird

Dissoziation

Alles in Maßen, einschließlich der Abwehrhaltung

Hypervigilanz

Nach außen schauen, um nicht nach innen schauen zu müssen

Gesunde Hypervigilanz

Schwanken zwischen Hypervigilanz und Dissoziation

Zwangsgedanken

Gesunde Zwangsgedanken

Die therapeutische Sackgasse der Überanalyse von Zwangsgedanken

Verhaltenszwänge

Zwänge zehren unseren Körper aus

Zwangsgedanken und Verhaltenszwänge

Busyholismus

Busyholismus und Co-Abhängigkeit

Gesunde Verhaltenszwänge

Der gesunde Einsatz von Abwehrmechanismen beim Rückzug von der Trauer

Wenn Genesung zwanghaft wird

Kapitel 7 – Schuld und Vergebung Schuldzuweisungen sind nicht verwerflich

Erlernte Hilflosigkeit und toxische Schuldzuweisungen

Schuldzuweisung als gesunder Selbstschutz

Keine Genesung vs. Wiederherstellung des »Nein-Sagens«

Zu beschämt, um Vorwürfe zu machen

Schuldzuweisungen emotional ausagieren

Wiederholungszwang, Schuldzuweisung und vorzeitige Vergebung

Die heilende Ambivalenz von Vergebung und Schuldzuweisung

Schuldzuweisung als fortlaufender Prozess

Schuldzuweisungen und Scham

Der innere Kritiker

Kriegserklärung an den inneren Kritiker

Sich gegen die toxische Scham wehren

Das Zusammenspiel von Schuldzuweisung und Vergebung

Kapitel 8 – Ganzheitliches Fühlen nicht ohne vollständiges Erinnern

Rekonstruktion eines detaillierten Bildes der Misshandlung und der Vernachlässigung in der Kindheit

Verbale Gewalt

Emotionale Gewalt

Das tödliche Duo von verbaler und emotionaler Gewalt

Sarkasmus und Spott: Versteckte Gewalt

Merkmale des destruktiven Sarkasmus

Verletzender Sarkasmus

Sarkasmus: Das Ventil für unterdrückte Wut

Fernsehen und Sarkasmus

Sarkasmus macht den Mann zur Insel

Sarkasmus zerstört Beziehungen

Gesunde Grenzen bei Sarkasmus und Hänseleien

Konstruktives Feedback entschärft Sarkasmus

Vernachlässigung: Unsichtbares Vergehen

Verbale Vernachlässigung

Verbale Zuwendung

Genesung von verbaler Vernachlässigung

Wiederbelebung des Selbstausdrucks durch Psychotherapie

Emotionale Vernachlässigung

Spiegelung

Gedeihstörung

Genesung von emotionaler Vernachlässigung

Seelischer Missbrauch

Seelische Vernachlässigung

Genesung von seelischer Vernachlässigung

Trauern als spirituelle Praxis

Kapitel 9 – Selbstmitfühlendes Reparenting

Reparenting beginnt mit der Vergebung gegenüber dem inneren Kind

Gespräche mit und im Sinne des inneren Kindes

Selbstbemutterung

Selbstbevaterung

Kapitel 10 – Vergebung und mildernde Umstände

Wie sich die ungeweinten Tränen unserer Eltern in Wut verwandelten

Unseren Eltern vergeben

Das emotionale und seelische Massaker der industriellen Revolution

Die imaginative Rekonstruktion der Kindheit unserer Eltern

Gott: Der ultimative mildernde Umstand

Das Verständnis mildernder Umstände lindert die Scham

Kapitel 11 – Grenzen der Vergebung, Mildernde Umstände sind manchmal irrelevant

Der andauernde Tanz zwischen Vergebung und Schuldzuweisung

Grade der Vergebung

Vergebung aus der Distanz

Reale Gefühle der Vergebung können die Verleugnung erneut heraufbeschwören

Vergebung kann emotionale Ausbeutung verdecken

Meine persönliche Geschichte der Vergebung aus der Distanz

Einschränkung des Kontakts mit weiterhin dysfunktionalen Eltern

Vergebung und Spiritualität

Kapitel 12 – Suche nach Vergebung für die eigene dysfunktionale Elternschaft

Beispiel für eine ausgewogene Entschuldigung

Vergebung, Reparenting und das innere Kind

Suche nach Vergebung für unser eigenes schlechtes Reparenting

Vergebung, Schuldzuweisung und das innere Kind

Kapitel 13 – Selbstvergebung

Selbstvergebung und Vergebung gegenüber anderen

Selbstvergebung für frühere Fehler und eingefahrene Angewohnheiten

Selbstvergebung und tief verwurzelter Selbsthass

Selbstvergebung und existenzielles Leid

Selbstvergebung, Vergebung anderen gegenüber und mildernde Umstände

Gegenseitige Vergebung

Entschlüsselung der Vermengung aus vergangenem und gegenwärtigem Leid

Kapitel 14 – Den Eltern echte Vergebung entgegenbringen

Dynamische Vergebung

Vergebung als Teil der Liebe

Anhang A – Eine Übersicht zur Bewertung von elterlicher Misshandlung und Vernachlässigung

Misshandlung

Vernachlässigung

Überblick über gesunde elterliche Erziehungspraktiken und -fähigkeiten

Anhang B – Die Menschheitscharta des Rechts auf Selbstausdruck

Anhang C – Affirmationen für das Reparenting des inneren Kindes

Baby

Kleinkind

Vorschulkind

Schulkind

Danksagung

Bibliografie

Index

Begriffe

Dysfunktionale Familie bezieht sich auf jede Familie, die das natürliche Selbstwertgefühl eines Kindes durch jegliche Konstellation von verbaler, seelischer, emotionaler oder körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung beschädigt, wie in Anhang A und Kapitel 8 definiert.

Die Begriffe erwachsenes Kind, Überlebender und Genesender werden austauschbar für jegliche Person verwendet, die durch missbräuchliche oder vernachlässigende Erziehung in der Kindheit verletzt wurde. Erwachsenes Kind bedeutet nicht, dass erwachsene Überlebende von dysfunktionalen Familien sich kindisch verhalten. Es bezieht sich auf die Tatsache, dass sie erwachsen geworden sind, ohne dass viele ihrer entwicklungsgemäßen Bedürfnisse befriedigt wurden. Viele erwachsene Kinder müssen erst noch das volle emotionale Potenzial eines reifen Erwachsenen entwickeln – sowie die Fähigkeit, entsprechende Beziehungen zu führen und sich selbst auszudrücken.

Inneres Kind bezieht sich auf den Teil des Selbst, der entwicklungsmäßig gefangen ist, weil in der Kindheit wichtige Formen der Fürsorge fehlten. Für einige Überlebende ist dieser Begriff lediglich ein nützlicher Ansatz, um diese Bedürfnisse zu identifizieren. Für andere, wie mich selbst, scheint es im Unterbewusstsein ein »altes« Kind-Selbst zu geben, das immer noch auf das Sicherheitsgefühl und die Fürsorge wartet, um ein vollwertiges, funktionierendes Erwachsen-Selbst entwickeln zu können.

Der Begriff Genesung wird auf zwei Arten verwendet: erstens als übergreifender Begriff zur Beschreibung des allgemeinen Heilungsprozesses von Traumata, die durch Kindesmisshandlung und Vernachlässigung entstanden sind. Viele Genesende beschreiben dies mit dem Satz »Ich bin in Genesung«. Genesung wird auch verwendet, um spezifische Entwicklungsziele zu benennen, z.B.: »Ich arbeite an der Wiederherstellung meiner Gefühle« oder »Meine Therapie hilft mir, mein Selbstbewusstsein wiederzuerlangen«. Genesung muss man sich als einen fortlaufenden Prozess vorstellen – einen Prozess der Wiederherstellung, nicht die erfolgte Genesung. Dies hilft, die Fallstricke einer Alles-oder-nichts-Bewertung und eines Schwarz-Weiß-Denkens zu vermeiden, die ein gemeinsames Erbe der dysfunktionalen Familie sind.

Der Begriff Co-Abhängigkeit wird im engeren Sinne bei einem erwachsenen Kind verwendet, das gewöhnlich seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Übermaß zugunsten eines anderen Menschen opfert. Co-Abhängigkeit ist häufig das Ergebnis einer Kindheit, in der die Bedürfnisse der Eltern in der Regel über die des Kindes gestellt wurden.

Der Begriff toxische Scham beschreibt einen verzerrten mentalen und emotionalen Zustand, der viele erwachsene Kinder über längere Phasen quält, in denen sie sich von Selbsthass überwältigt und außer Gefecht gesetzt fühlen. Toxische Scham entsteht, wenn die Betroffenen in ihrer Kindheit fortlaufend elterlicher Missbilligung und Abscheu ausgesetzt waren. (Kapitel 7 untersucht die durch nichts zu ersetzende Rolle der Schuldzuweisung bei der Heilung von toxischer Scham.)

Der Begriff effektives Trauern bezieht sich auf die Tatsache, dass die meisten Überlebenden nicht in der Lage sind, sich ihrer Trauer voll und ganz hinzugeben, um das wertvolle Gefühl der Erleichterung zu erleben, das sich dadurch ergibt. (In Kapitel 5 werden die häufigsten Ursachen für »gescheiterte« Trauerarbeit untersucht.)

Während die Substantive Gefühl und Emotion in diesem Buch im gleichen Sinne verwendet werden, unterscheiden sich die Worte fühlen und emotional sein voneinander. Fühlen bezeichnet den Prozess, wenn wir uns inneren, gefühlsmäßigen Erfahrungen hingeben und diese akzeptieren, ohne sie ändern zu wollen. Emotional sein ist der Prozess des aktiven Ausdrucks innerer gefühlsbezogener Erfahrungen, wie z.B. weinen, »sich ärgern« oder lachen.

Einleitung

weil fühlen zuerst kommt

wer sich kümmert

um die syntax der dinge

wird nie voll dich küssen;

— E.E. Cummings

Die Industriegesellschaften werden so seelenlos wie ihre maschinellen Idole, die sie über die Menschlichkeit stellen. Industriegesellschaften behandeln Gefühle, als wären sie veraltete Teile. Das Tao der Gefühle ist eine Anleitung zur Rückgewinnung des emotionalen Reichtums, dessen wir in der Kindheit beraubt wurden, so wie in unserem Land Holz und Kohle abgeschafft wurden.

Das Tao der Gefühle entstand aus meinem persönlichen Kampf und dem meiner Klienten und Freunde, unsere Gefühle zurückzugewinnen. Das Buch ist eine Einladung, zu erfahren, wie Fühlen und das Zeigen von Gefühlen unsere Werte auf natürliche Weise beeinflussen, sodass Liebe und Vertrautheit wieder über materielle Güter und Konsum gestellt werden.

Das Tao der Gefühle konzentriert sich stark auf die dysfunktionale Familie, denn dort wird das gesellschaftliche Diktum gegen das Fühlen am strengsten durchgesetzt. Ich stimme mit John Bradshaw überein, dass unsere Kultur von einer Epidemie des Versagens elterlicher Erziehung befallen ist.

Meine Aussagen über familiäre Dysfunktionalität stimmen mit einer Reihe aktueller Bücher überein, deren Titel allein schon den Zusammenbruch der Institution der Elternschaft in unserer Kultur widerspiegeln: Das Drama des begabten Kindes; Betrayal of Innocence [Verrat der Unschuld]; The Secret Everyone Knows [Das Geheimnis, das jeder kennt]; Hearts That We Broke A Long Time Ago [Herzen, die wir vor langer Zeit gebrochen haben]; Soul Murder: Persecution in the Family [Seelenmord: Schikane in der Familie]; After The Tears: Reclaiming the Personal Losses of Childhood [Nach den Tränen: Die persönlichen Verluste der Kindheit zurückgewinnen]; Getting Divorced From Mother And Dad [Trennung von Mutter und Vater]; Wenn Scham krank macht; My Name Is Chellis, I’m in Recovery from Western Civilization [Mein Name ist Chellis, Ich befinde mich im Genesungsprozess von der westlichen Zivilisation]. Familiäre Dysfunktionalität ist in unserer Gesellschaft so alltäglich und normal, dass sie nicht leicht zu erkennen ist. Paradoxerweise ignorieren diejenigen, die in ihrer Kindheit nicht unter massiver körperlicher Gewalt gelitten haben, am ehesten die schädlichen Auswirkungen ihrer Kindheit. Dennoch wurzeln die meisten Leiden von Erwachsenen, die mir als Psychotherapeut begegnet sind, auf nicht-physischen Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung.

Die häufigste Form des Leids von Erwachsenen ist Selbsthass, und der Gegenstand dieses Hasses sind in der Regel unsere Gefühle. Die meisten von uns wurden in sehr jungen Jahren attackiert, beschämt oder abgelehnt, weil sie Emotionen gezeigt haben. Vor der Zeit unserer Erinnerung waren die meisten von uns schon gezwungen, auf unsere Gefühle zu verzichten und uns dafür zu hassen, dass sie hatten. Dieses Buch bietet praktische Ratschläge, um diese unbewusste, selbstzerstörerische Angewohnheit zu durchbrechen.

Die Perspektiven und Ratschläge, die ich hier anbiete, basieren auf vielfältigen Lebenserfahrungen und Studien. Mein persönlicher Weg der emotionalen Genesung ist damit verwoben. An den Anfang möchte ich eine irritierende Beobachtung stellen, nämlich dass die US-Armee auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges für mich ein wärmeres, fürsorglicheres Zuhause war als mein Elternhaus.

Diese überraschende Erkenntnis gewann ich durch eine Reihe von wiederkehrenden Träumen, in denen ich mich wiederholt freiwillig zur Armee gemeldet habe und in denen ich glücklicher und erfüllter war als jemals im echten Leben.

Diese Träume verwirrten mich all die zehn Jahre, in denen sie auftraten. Wenn sie Albträume gewesen wären, hätten sie vollkommen Sinn für mich gemacht, denn ich wollte nie in die Armee. Jegliche Vorstellung, dass die Armee für mich von irgendeinem Nutzen sein könnte, war undenkbar. In der Zeit, als ich dort festsaß, sehnte ich mich unendlich nach dem Ende meiner Dienstzeit.

Diese Träume haben mich so konfus gemacht, dass ich gelegentlich betete: »Bitte, Gott, sag mir, dass es nicht bedeutet, dass ich mich wieder verpflichten soll!«

Schließlich begann ich diese Träume zu verstehen, indem ich meine Erfahrungen in der Armee mit dem Leben in meiner Familie verglich. Die Ausbilder und Offiziere, die mich zu einem Kampfzugführer schulten, waren verbal und emotional auf gleiche Weise missbräuchlich wie meine Eltern. Auch die drohende Gefahr von körperlicher Gewalt war mir bekannt, wenngleich mein Kriegsdienst entlang der koreanischen entmilitarisierten Zone (EMZ) wesentlich weniger gefährlich war als in Vietnam.

In der Armee war es jedoch anders als in meiner Familie, denn ich bin nie wirklich körperlich angegriffen wurde, wohingegen körperliche Misshandlungen bis zu meinem Teenageralter zu Hause andauernd vorkamen.

Während ich über diese Differenzierung nachdachte, entdeckte ich weitere wichtige Unterschiede zwischen der Armee und meiner Familie. Sobald die relativ kurze erniedrigende Anfangsphase der Ausbildung abgeschlossen war, erwies sich die Armee als deutlich angenehmer als meine Familie. Im Gegensatz zu meiner Familie boten mir klar definierte Regeln die Möglichkeit, »es richtig zu machen«, mich einzufügen sowie Wertschätzung und Respekt zu erlangen.

Das Leben in der Armee war kein ständiger Irrgarten von Doppelbotschaften und No-win-Situationen. Und obwohl es im Dienst zahlreiche unangenehme und gefährliche Situationen gab, erlebte ich viele Phasen, die sicher und frei von drohenden Angriffen waren. Selbst die berüchtigte stressige Grundausbildung bot für mich insgesamt mehr Sicherheit als meine Familie! Welch glückliche und erleichternde Erfahrung war es, in der Messe zu essen, ohne von der Person neben mir plötzlich angeschrien oder geschlagen zu werden, wie es so oft bei Mahlzeiten in meiner Familie geschehen war! Ich entspannte mich so weit, dass ich mein Essen besser verwerten konnte, und ich nahm in den ersten sechs Monaten gesunde dreißig Pfund zu.

Ich habe dort auch viele Freunde gefunden, die mich schätzten. Ich glänzte bei der Erfüllung von Aufgaben, die mir zugewiesen wurden, und wurde für meine Leistung belohnt. Mein Selbstvertrauen und meine Durchsetzungskraft wuchsen sprunghaft an und ich begann zu glauben, dass ich vielleicht doch noch ein bisschen Wert habe. (Das bedeutet nicht, dass ich sofort von dem Glauben geheilt wurde, der bei vielen erwachsenen Kindern verbreitet ist, dass mein Erfolg nur ein Zufall war. Die meiste Zeit dachte ich, ich würde meine Vorgesetzten nur täuschen und dass sie, wenn sie mein wahres Ich entdeckten – das fehlerbehaftete, das meine Eltern ohne große Schwierigkeiten erkannt hatten –, mich schnell in eine niedrigere Position degradieren würden. Ich war immer noch mit dem berüchtigten »Hochstapler-Syndrom« behaftet, das die Erfolge vieler erwachsener Kinder verdirbt.)

Als ich diese Träume verstand, hörten sie auf. Ihre Funktion war erfüllt, sobald sie den allmählichen Zerfall meiner »idyllischen Kindheit«-Illusion einleiteten.

Zu dieser Zeit studierte ich Psychologie, Soziologie und Anthropologie an der Universität. Meine Studien beschleunigten die Auflösung meiner Illusion von meiner »perfekten« Familie. Ich entdeckte eklatante Beweise dafür, dass westliche Erziehungspraktiken seit der Industriellen Revolution kontinuierlich weitergegeben wurden. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass die meisten amerikanischen Familien das Ideal der perfekten Familie aus der beliebten Fernsehserie The Brady Bunch Lügen strafen.

Meine Ansicht, dass wir unter einer Erziehungskrise leiden, gründet auch auf den Erfahrungen der sechs Jahre, die ich mit oder in der Nähe von Menschen aus nicht industrialisierten Gesellschaften verbracht habe: drei Jahre in Afrika und Asien sowie drei Jahre in der Nähe eines Aborigines-Reservats im Norden Australiens.

Beim Vergleich der vor- und nachindustriellen elterlichen Erziehungspraktiken scheint es offensichtlich, dass westliche Eltern den Kontakt zu ihren emotional geprägten elterlichen Instinkten verloren haben. Allein dieser Faktor verursacht bei den meisten unserer Kinder eine Menge unnötiger und unbeabsichtigter Verletzungen und Entbehrungen. Diese Beobachtung zeigt sich deutlich in der Reaktion der kalifornischen Ureinwohner auf die ersten westlichen Siedler. Sie waren vom mangelnden Mitgefühl der Europäer ihren Kindern gegenüber so sehr betroffen, dass Sie sie verächtlich als »die Leute, die ihre Kinder schlagen« bezeichneten.

Unzählige Erlebnisse machten mich neidisch auf die Beziehungen der Eltern und Kinder in »primitiven« Kulturen. Eltern dieser Kulturen leiten ihre Kinder an und betreuen sie nach dem gesunden Menschenverstand, den wir schon lange aufgegeben haben, so wie viele unserer Gefühle und Instinkte. Alice Miller beschreibt den Erziehungsprozess, der uns unserer Gefühle beraubt, bevor wir uns ihrer bewusst sind und sie zu schätzen wissen:

… (Wir) haben alle die Kunst entwickelt, keine Gefühle zu empfinden, denn ein Kind kann seine Gefühle nur dann erleben, wenn es jemanden gibt, der es voll akzeptiert, versteht und unterstützt. Wenn das nicht gegeben ist und das Kind riskieren muss, die Liebe der Mutter oder ihres Stellvertreters zu verlieren, dann kann es diese Gefühle nicht heimlich »nur für sich selbst« empfinden, sondern überhaupt nicht.

Als ich eines Tages über die Betrachtung von Alice Miller nachdachte, kam mir dieses Gedicht in den Sinn:

Sie stumpfen meine Gefühle ab

Um die Blutung meiner Tränen zu stoppen

Und nun ertrinke ich allein in

Einem Pool, der seit Jahren verblutet ist.

Eltern in nichtindustrialisierten Gesellschaften lieben ihre Kinder auf eine Art und Weise, die jenseits der Fähigkeit der meisten westlichen Eltern liegt. So sehr wir uns auch aufrichtig bemühen, unsere Kinder zu lieben, wir scheitern gewöhnlich kläglich, weil wir von unserer emotionalen Natur getrennt sind. Ängstlich und beschämt über unsere Gefühle und unsere inneren Erfahrungen, haben wir keinen Zugang zu dem Teil unseres Selbst, wo liebevolle Gefühle entstehen.

Es gibt eine Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, die den Mangel an Liebe in unserer Kultur hervorhebt. Ein westlicher Anthropologe, der bei den Hopi-Indianern lebte und sie studierte, bemerkte im Laufe der Zeit, dass die meisten Hopi-Lieder vom Wasser handelten. Eines Tages fragte er den Schamanen:

Wie kommt es, dass ihr so viel über Wasser singt? In meiner Kultur ist die Liebe das Thema, das am häufigsten in unseren Liedern zum Ausdruck kommt. Schätzt dein Volk die Liebe nicht?

Der Schamane dieser Wüstenkultur antwortete:

In meiner Kultur sind die Lieder häufig Gebete, und wir singen und beten für die wertvollen Dinge im Leben, von denen wir nicht genug haben. Liebe gehört nicht dazu.

Das Tao der Gefühe skizziert eine Reise zurück zu den Gefühlen und zurück zu authentischen, gefühlsbasierten Liebeserfahrungen. Wenn wir jemals wieder unsere natürliche Fähigkeit, unsere Kinder wirklich zu lieben, wiedererlangen wollen, müssen wir zuerst lernen, uns in all unseren emotionalen Zuständen selbst zu lieben. Wir beginnen damit, so absurd es auch erscheinen mag, indem wir uns selbst und anderen verzeihen, Gefühle zu haben! Wir erreichen dies, indem wir uns weigern, unseren Eltern nachzueifern – und zwar indem wir mit der von ihnen übernommenen Angewohnheit brechen, uns schuldig zu fühlen und uns für die meisten unserer Gefühle, mit denen wir dem Leben begegnen, zu schämen.

Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch helfen wird zu verstehen, dass Sie in der Kindheit schwere Verluste erlitten haben, falls auch Ihre Eltern sich an die Normen und Praktiken der modernen Erziehung gehalten und diese befolgt haben. Ich möchte Sie auf Anhang A hinweisen, der Ihnen helfen soll, eine sachkundigere Bewertung dieser Behauptung vorzunehmen.

Bei meinen Versuchen, mit meinen Emotionen zurechtzukommen, bin ich in vielen Sackgassen gelandet. Ich habe sie verdrängt, runtergeschluckt, in Alkohol ertränkt, bin abgehoben in Hanf-Schwaden, hungerte sie aus, begrub sie unter Nahrung, transzendierte sie in der Meditation, bin ihnen davongelaufen, überlistete sie durch Rationalisierung, exorzierte sie, übergab sie an höhere Wesen, verwandelte sie in etwas, das man nicht ernst zu nehmen hatte, und spürte sie sogar kurz, bevor ich sie in einer dramatischen Katharsis löschte, damit sie endgültig verschwanden.

Ich wurde bei meinen Bemühungen, dauerhafte Linderung von dem mich erdrückenden emotionalen Schmerz zu erreichen, durch eine Fülle von Selbsthilfebüchern, Workshops, praktischen Kuren, psychologischen Lehren und spirituellen Praktiken in die Irre geführt. Die meisten Sackgassen, die ich auf der Flucht vor meinen Gefühlen erforscht habe, hatten eine gemeinsame Eigenschaft: das Versprechen einer ewigen Transzendenz normaler emotionaler Zustände wie Wut, Trauer, und Angst.

Die schädlichsten waren jene, die versprachen, man könne dauerhaft »wünschenswerte« emotionale Zustände wie Glück, Liebe und Frieden erreichen. Ich erinnere mich lebhaft an die klägliche Enttäuschung, die ich erlebte, wenn die kurzlebigen positiven Wirkungen des einen oder anderen Ansatzes so hinfällig wurden, dass ich nicht mehr so tun konnte, als würde ich sie tatsächlich erleben. Immer wieder wurden Versprechungen von dauerhafter Zufriedenheit gebrochen, denn die negativen Emotionen, die eigentlich dauerhaft beseitigt werden sollten, kehrten unweigerlich zurück. Da es mir wieder einmal nicht gelungen war, mein Leiden zu überwinden (wie es anderen zu gelingen schien), begab ich mich – überwältigt von toxischer Scham –, unweigerlich auf eine weitere verzweifelte Suche nach einem neuen Allheilmittel für meine Gefühle.