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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Man lebt da!…

»Ein Jahr im Elternhause.« Wir wandern von Fest zu Fest. Und der graue Alltag wird licht, weil er eine Vorstufe der Feste ist.

Was ist eigentlich das Ziel unseres Lebens? Der Festtag.

Unser ganzes Leben ist nur ein Warten auf den kommenden Tag der Feier.

Aber unser Warten ist voll Pein und Ungeduld, quälerisch. Unsere Hoffnung ist wirr und wildtreibend, zermürbend in der Angst des Verschmachtens auf halbem Wege: Wann kommt uns die Stunde der Feier? Vielleicht kommt sie uns niemals.

Großmutter lächelt: Ihr Armen. Zunächst freut man sich die ganze Woche auf den Sabbat. Man braucht sich nicht zu sorgen: Kommt er? Kommt er nicht?! Er kommt! Kommt der Sabbat, kommt die Ruhe. Und wer den Sabbat so recht feiert, weiß gar nicht, daß es einen Alltag gibt. Wir heiligen den Sabbat, glauben wir. Aber der Sabbat heiligt uns. Er weiht unser Leben und Treiben; und Essen und Trinken wird Gottesdienst. Und so fällt schon auf den Freitag – den Torwart der Ruhestunden – der milde Abglanz des Sabbats. Die Arbeit am Freitag macht die Hand nicht müde. Die Erdenlast ist von ihr genommen. Und gute Engel helfen beim Werke. Darum schmecken die Fische am Freitag abend so köstlich. Sie haben den Geschmack von – »jener Welt« selbst wenn Vater sich nicht so besorgt in der Küche umsähe und die Sauce kostete. Beten, Ruhe und Essen – dieser Dreiklang schlingt sich zur Harmonie des Sabbats zusammen. Und wenn der Tag zur Neige gegangen, begleitet wieder ein Mahl die »Königin Sabbat« in ihre Heimat.

Es singt in allen Festen die gleiche Melodie – nur die Tonart wechselt und der Rhythmus. Am Chanuka läßt uns Großmutter die Reise durch das ganze Jahr beginnen. Mit den Latkes – den Honigflinsen – fängt sie an. Mit dem Pflichträuschchen am Simchas-thora hört sie auf. Zwischen Lust und Trauer pendelt das Leben hin. Wenn die Trauer die Seele gar zu fest zu umschnüren droht, löst ein Festtag die Schlingen. Und ein Trauertag dämmt die über die Borde schlagende Fröhlichkeit ein. Nicht kalendarisch-äußerlich gehalten, sondern in ihrem spezifischen Charakter hingenommen, nach ihrem Stimmungsgehalt gelebt, nach ihren gedanklichen Inhalten begriffen – wirken die jüdischen Feste wie ein Regulator menschlichen Treibens. Sie lösen die Verworrenheit unseres Seins in geruhige Harmonien auf und gleichen das stürmische Auf und Nieder aus zum Wellenschlag eines friedlich hingleitenden Lebens. Und wundersam haben sich Sitte und Brauch dem Sinn der Feste angeschmiegt.

Großmutter Wengeroff hat in ihren Memoiren, – »dem Ben-Sekunim«, dem Kind des Greisenalters – mit unendlicher Liebe den Kranz der vielen Bräuche zusammengewunden, die die Feste schmücken und – ihr Werk. Wenn einmal die alte Formensprache unserer Volkssitten verstummt sein sollte, wird der Ethnologe und Kulturhistoriker nach diesen Blättern das Leben der Juden in alten Tagen wieder aufbauen können. Der häusliche Herd – der in der Küche steht – ist der Mittelpunkt der Familie. Was dort brodelt und kocht, dient nicht gedankenloser Genußsucht und Völlerei. Die Hausfrau beginnt ihre Arbeit nicht, eh daß sie ein Gebet gesprochen und ein Opfer dargebracht hat. Die Speisen sind den Festen angepaßt und alle Zutaten sind zugleich – Symbole! Speise und Trank, die den Körper kräftigen sollen, damit die Seele ungehemmt von irdischer Schwere ihren Flug in die Höhe nehmen kann, sind selbst nur – beseelte Materie. Sie sind geweiht. Und wenn die Hausfrau nicht fast erdrückt wurde von der Fülle der Sorgen, der Pflichten, der religiösen Gebote und der Subtilitäten, die der Brauch zum Zwange gesetzlicher Vorschriften erhoben hat, so konnte nur der Gedanke, mit all der peinlichen Arbeit höheren Zwecken, ja dem höchsten Zwecke zu dienen, die Last heiligen und adeln – und aus der Sphäre des ermattend Körperlichen hinaus – und emporrücken.

In dieser in Gott und Judentum zentrierten Welt kann schlaffe Bequemlichkeit nicht hemmend in den Weg der Pflichten treten. Je getreulicher die Gebote erfüllt werden, um so leichter wird das Leben getragen. Je enger der Zaun der Gesetze, um so lichter und freier schwingt sich die Seele zu Gottes Thron. Und gemeinsam wie der Flug in die Höhe, rollt sich auch das bürgerliche Leben ab. Der einzelne versinkt nicht in der Gemeinschaft bis zur Unkenntlichkeit. Sein individueller Wert wird gesteigert, sein individueller Charakter ausgearbeitet durch die Gemeinschaft. In das Schicksal des einzelnen, welche Phasen vom Glück zum Leid es auch durchlaufe, sind doch Schicksalfäden der anderen verwoben. Die Lebensbedingungen jedes einzelnen Juden sind die der anderen Juden. Jeder braucht den anderen, zum gemeinsamen Gebet in der Chewra, in der Trauerzeit, beim Mahle, in den Scherzen des Purim, in der Lust des Freudenfestes. Und dieses Aufeinanderangewiesensein in den Bedürfnissen eines höheren Lebens verinnerlicht die Bande angeerbten Volkstums und gemeinsamer äußerer Geschicke und schafft auf einem weitab vom materialistischen Sozialismus führenden Wege einen sozialen Bund von ganz spezifischer Prägung.

Eine idyllische Ruhe und der Frieden einer in ihren Sehnsüchten, ihrem Gottvertrauen geeinten Menschengruppe ruhten über jener Generation. Und lösten wir selbst den Glorienschein auf, den die alte Großmutter um ihre Jugendjahre legt, und wollten wir in Einzelzügen ergänzen, was die versöhnende und nivellierende Vergeßlichkeit des Alters verwischte, die Grundlinien einer lieblichen Idylle verlören ihre Schärfe nicht. Die Spiele der Kinder und das Sinnen der Alten erfüllen nur eine enge Welt; aber sie ist voller duftiger Träume, voll tiefer Beziehungen und in jeder Spanne persönlich erobert und ganz zu persönlichem Besitze geworden. Der Tag ist unendlich lang, so lang, daß das gewöhnliche Ausmaß der Stunden seine Geltung verloren zu haben scheint. Aber Gefühl und Begriff der Langeweile sind keinem bekannt. Es gibt keine toten Stunden, weil jede Stunde ihr eigenes Leben hat. In grauer Frühe, da die Nacht kaum an den kommenden Tag denkt, denken die Juden schon an ihr Tagewerk. Wer weiß, wie der Beruf die Stunden knebeln wird – darum schnell noch zum Talmudfoliant greifen, der von gestern noch aufgeschlagen ungeduldig schon des »Lerners« harrt; darum schnell noch in das Beth-Hamidrasch eilen, um in der Chewra Thillim im Zweisang die lieben Psalmen zu sagen.

Das Leben ist so kurz – und des Betens und Lernens ist so viel. Diesen Gedanken heißt es den Kindern zu überliefern. Sie können nicht früh genug in den Cheder. In seiner Enge und seinem ewigen Dämmer wächst eine heilige Weit. Und der erste Chederbesuch wird so der wahre Geburtstag – der Menschenseele. Der Ärmste gibt sein letztes Gut hin, um sein Kind nicht geistig verhungern zu lassen. Und es ist ein Brauch, der die ganze Judenseele bloßlegt, ein Brauch von ergreifender Tiefe und unsagbarer Innigkeit, daß der Vater den jungen Chederbuben in einen Gebetmantel gehüllt zum Melammed trägt… Er zeigt ihm die strahlende Pracht der Himmel und lehrt sie, sich den Weg zu Gott zu schlagen und mit den Quadern der heiligen Buchstaben zu ebnen. Sonnig ist das Ziel. Aber die Arbeit ist hart. Selbst die Spiele in den freien Zeiten sind noch durchwebt mit den Seidenfäden der Lehre, die das Halbdunkel des Cheders gesponnen. Schon frühe lernt das Kind sich bescheiden. Denn das Ghetto ist eine bescheidene Welt. In gedämpften Tönen klingt aller Sturm der Seelen aus. Das ganze Sein ist voller Geheimnis. Und die Bangheit und Scheu, die das Kind empfand, als es einmal in dem leeren Gotteshause vor der heiligen Lade stand, trägt es allezeit mit sich und sie geben ihm die stille Ergebenheit, wenn es einst vor den heiligen Fragen des Lebens stehen wird… In diese festgefügte Welt mit ihrer eigenen Bildung, mit ihrem schillernden Reichtum der Phantastik, mit ihrer geschlossenen Lebensanschauung, in diese Welt der Träume und mystischverdämmerter Ahnungen, in diese Welt der klaren Tage, der besonnenen Arbeit – tritt nun polternd mit groben Füßen die neue Zeit! Kann aus den zerstampften Schollen gleich herrliche Saat erblühen? Die Menschen sind zu gefestet, als daß die neue Zeit sie ganz zu zerbröckeln vermöchte. Noch lachen sie und spotten ihrer, und reißen der Zeit ihre neuen Gaben aus der Hand. Chausseen werden gebaut. »Solange sich Menschen erinnern, waren zwei Tage nötig, um den Weg von Brest nach Bobruisk zurückzulegen, nun kommt Reb Zimel Epstein und erzählt uns, er wird ihn auf eine Tagereise verkürzen.« Wer ist er? Gott? Wird er die übrige Strecke Wegs in seine Tasche stecken? Und Reb Zimel Epstein hat Recht. Indessen was verschlägt's? Kann man mit Lampen, die heller und ruhiger brennen als Kienfackeln, den Sabbatabend nicht lichtiger und geruhiger machen?… Und kann man bei neuen Wegen nicht ein alter Jude bleiben?… Und doch: auf neuen Wegen kommt die neue Zeit! Die Welt wird größer. Die Enge löst sich. Die plumpen Wägelchen verschwinden. Es kommen die Karossen und bald, bald wird das Dampfroß die Wälder durchjagen. Jeder Tag bringt neue Wünsche; und wie die Mauern des Ghetto zu wanken beginnen, so kommen die Kinder des Ghetto ins Wanken. Die stille Harmonie wird zerstört. Sie scheinen wie Trunkene und wir lächeln ihres torkelnden Ganges. Auf den Hintertreppen schleicht die Aufklärung in die Häuser. Sie verdüstert mehr als sie erleuchtet – denn es ist eine Aufklärung, der – russischen Regierung! Über dem Talmudexemplar liegt Schillers Don Carlos und Posa sagt seine Leitartikel auf im »Gemara-Nigen«. Die Jugend will dadurch die Eltern täuschen. Aber sie täuscht sich selbst: Schiller wäre ihnen unverständlich, wenn er nicht »gelernt« würde… Die Eltern fürchten die neue Zeit und sie beschwören den Missionar der russischen Regierungsaufklärung, Lilienthal, bei »der Sepher Thora« zu erklären, ob er die Juden zur Taufe führen will. Sie fürchten. Aber ihre Furcht ist mehr ein Ahnen furchtbarer Entwicklungen. Was sie um sich sehen, macht sie mehr stutzig, als erschrocken. Hier eine Szene, die die schwangere Zeit köstlich zeichnet: Dem Schwager unserer Großmutter hatte es die Naturwissenschaft angetan. Bei grauendem Morgen war er halb entblößt in den Garten gegangen. »Die rechte Hand arbeitete kräftig, sie beseitigt die Rinde der Pappel und holte kleine Insekten heraus, die mein Schwager – nicht ohne Ekel! – in ein kleines Kästchen mit einem Glasdeckel warf.« Die Mutter hatte ihn bemerkt und rief halb verwundert, halb belustigt: »Wos tust du do?«

 

»Gur nischt«, gab er lakonisch zur Antwort.

»Wos is do im Kästchen auf der Erd'?« fragte die Mutter weiter.

»Gur nischt«, meinte der erregte Naturforscher.

»Warum biste so früh do?«, forschte die Mutter.

»Früh! S'es gur nischt früh!« antwortete der junge Mann, in der Hoffnung, sich so aus der Affäre zu ziehen… Die Mutter beugte sich über das Gitter und entdeckte nicht ohne Ärger ein Buch neben dem Kästchen. Sie tritt näher. Der Naturforscher ergreift die Flucht. Meine Mutter blickte in das Kästchen und entdeckte zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen eine gewöhnliche Fliege, einen Maikäfer, ein Marienkäferchen, eine Ameise, einen Holzwurm… Sie traute ihren Augen nicht, und ihr Achselzucken deutete mehr als gesprochene Worte es hätten tun können, auf die Frage hin: »Wozu braucht ein Mensch solches Gewürm?«

Zu dem »Gewürm«, das den inneren Menschen zernagte, kam ein anderes Unheil. Ein Ukas der Regierung verbot die jüdische Tracht: der äußere Mensch mußte reformiert werden. Sogar die Pejes, »die dem Juden erst die Gottähnlichkeit geben«, sollten schwinden. Es gab erbitterte Kämpfe mit den ausführenden Polizeiorganen. Aber schwerer waren die Kämpfe in der Seele der Juden. Der Mantel fiel und der Herzog mußte ihm folgen. Die neue Tracht führte die Juden nicht in eine neue Welt hinein. Sie führte sie nur aus ihrer alten Welt heraus. Das empfanden alle tiefer blickende Männer, das machte sie traurig und ihre Ohnmacht so unsäglich qualvoll. Als die Gräber des alten Brester Friedhofs geöffnet wurden und die Leichen ihre Friedensstätte verlassen mußten, weil die Stadt zu einer Festung umgebaut wurde, war ein Wehklagen in der Gemeinde – doch die Toten fanden einen Ruheplatz. Aber die Seelen, die aus ihrer stillen Welt hinausgezerrt wurden, die Seele der Jugend wurde heimatlos und mußte wandern in eine ungewisse Welt. Die Besten wurden schwankend. Die Schwachen wurden haltlos. Sie wechselten die äußere Tracht und wurden äußerlich.

 
»Schwarze Röcke, seidne Strümpfe,
Weiße, höfliche Manschetten
Sanfte Reden, Embrassieren —
Ach! Wenn sie nur Herzen hätten.«
 

Es sind nur die ersten Anfänge jener neuen Zeit, von denen unsere Großmutter spricht. Mit verhaltenen Worten. Ihre ganze Innigkeit hat sie über das alte Ghettoleben gebreitet, von dem sie uns freilich nur einen Bruchteil gibt. Wir lernen nur ein Haus mit allen seinen Freuden, Erregungen und seinem Kummer kennen. Es ist ein reiches und vornehmes Haus, in das wir als Gäste eintreten. Und doch ist es nur ein Paradogma für das Treiben im Ghetto. Denn das Leben im Patrizierhaus ist seinem Wesen und seiner Form nach nicht herausgehoben aus der Ghettoartung.

Hütte und Herrensitz unterscheiden sich nur in den groben Äußerlichkeiten der Lebensformen. Charakter und Inhalt der Vorstellungsinhalte, die Skala der Gefühle und die zarten Bedürfnisse der Seele: – vielleicht, daß sich darin eine individuelle Differenzierung spiegeln könnte. Aber niemals die soziale! Dem Reichen wird nur die Gnade, daß er die Fülle der Pflichten leichter und unermüdlicher tragen konnte. Und sein Dank für diese Gnade war, daß er die Pflichten peinlicher beobachtete und ihre Kreise weiterzog!

Im Hause des Reichen zerbröckelte nicht das Judentum. Sitte und Überzeugung, Tat und Gebet, Alter und Jugend standen in Schönheit und unbefleckt durch die grobe Not nebeneinander, das Haus zu einer Stätte Gottes zu machen…

Großmutter erzählt… Und eine Welt der Schönheit, des Friedens und verjüngender Heiterkeit steht vor uns auf. Und uns überflutet eine Sehnsucht nach dem versunkenen Lande der Ganzen.

Nach all den Enttäuschungen, die die Zivilisation bringt und die sie – je empfindsamer und zarter wir werden – uns immer herber wird fühlen lassen, blicken wir in jene stille, abgestorbene Welt zurück und in einsamen Stunden regt sich leise in uns ein Fragen, ob dort nicht die blaue Blume der Romantik ihre Düfte um die Menschen hauchte.

Es war eine enge Welt. Aber sie war hoch und reichte bis an den siebenten Himmel…

Die Menschen waren klein. Aber ihre Seelen waren voller Harmonie und Einheit. Sie verschmachteten nicht im Genusse. Wunsch und Kraft, Wille und Ziel, Leben und Lehre waren eines nur. Sie gaben den heiligen Frieden, der nicht einmal ahnen konnte, daß es auch eine Zerrissenheit gibt.

Dr. Th. Zlocisti.

Allgemeine Ztg. d. Judentums. Berlin.

Ein versonnenes »Es war einmal« klingt mit leiser Wehmut aus dem Buche der feinfühligen Verfasserin. Wie bei einem Rembrandtschen Gemälde blicken wir in das anziehende Helldunkel einer verflossenen jüdischen Kulturperiode, und das stechende Licht des Alltags schmerzt uns, wenn wir das Buch schließen. Denn was uns die Verfasserin aus der Vergangenheit des vorigen Jahrhunderts so anspruchslos zu erzählen weiß, ist mehr als das Leben einer vornehmen jüdischen Familie in der russischen Stadt; es ist überhaupt ein Mikrokosmos des guten Judentums alten Schlages, ein Kleingemälde voll intimen Reizes, das uns moderne Israeliten, die wir uns als »Kinder der Welt« so groß dünken, mit Schmerz empfinden läßt, wie klein wir geworden sind – weil wir keine eigene Kultur mehr haben. Man mag das Leben jener Juden, das nichts anderes war, als ein von Anfang bis Ende des Jahres wunderbar sich abrollender Gottesdienst, in gewissem Sinne beschränkt nennen, in der Beschränktheit zeigt es die Meisterschaft. Das Gemälde ist etwas Ausgefülltes und Ganzes, und wir nehmen einen wohltuenden Volleindruck mit. Wir mögen es wohl im Sinne des Fortschritts begrüßen, daß endlich in den patriarchalischen Dämmer das volle Licht der europäischen Kultur hereinbrach – aber wir klagen auch mit der Verfasserin über die fürchterlichen Zerstörungen, die die zersetzenden Strahlen anrichteten. Wieviel jüdische Lebenskunst, Poesie und Ethik ist zu Grabe getragen worden! – Möge das Buch der Großmutter, dem Dr. G. Karpeles ein freundliches Geleitwort mitgegeben hat, nicht nur gelobt, sondern auch gelesen werden! Es ist nicht nur für liebe »Enkelkinder« bestimmt, die spielend, besser vielleicht als es in den Religionsschulen geschehen kann, in den Reiz und die Weihe des altjüdischen Lebens eingeführt werden, es gibt auch den Erwachsenen einen interessanten Beitrag zur »Umwertung der Werte« bei unseren Brüdern im Nachbarreich. Und endlich wird es jeden ernsten Juden gedankenvoll stimmen. Denn wenn wir auch mit Koheleth sagen müssen: »Sprich nicht, wie kommt es, daß die vergangenen Zeiten besser waren, nicht aus Weisheit fragst du,« so erweckt es doch das heiße Verlangen nach der inneren Einheitlichkeit und Geschlossenheit, wie sie die Väter kannten, die Sehnsucht nach neuen jüdischen Kulturwerten.

E. L.

Jüdische Zeitung. Wien.

Wenn man das Buch aufschlägt, so findet man auf der ersten Seite das Bild der Verfasserin: Ein altes, freundliches Gesicht mit klugen, milden Augen, die schon von vornherein für alles einnehmen, das die Verfasserin sagen wird. In freundlichen Worten wird nun ein Bild aus dem jüdischen Leben eines wohlhabenden Bürgerhauses in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts geschildert. Alles ist so unbeweglich still und atmet Traulichkeit, innere Abgeklärtheit, starken Familiensinn und echtes Menschentum. Es ist alles so licht und lieb, daß man den Gedanken nicht bannen kann, daß die Verfasserin unbewußt schöner dargestellt hat, als es wirklich gewesen ist, daß sie ihre Kindheitstage, die jetzt vor uns vorbeiziehen, mit dem Glorienschein der Poesie umgeben hat. Eines aber erfahren wir unzweideutig daraus: Daß das jüdische Familienleben jener alten guten Zeit innig und traulich war, daß die Häuser der Juden in jener Zeit Kulturstätten waren im besten Sinne des Wortes. Die Schilderung des Übergangsstadiums zum Haskalah erscheint uns minder gelungen, wie überhaupt der ganze Aufbau des Buches eine mangelhafte Technik verrät. Doch wir wollen mit der Verfasserin darüber nicht rechten, denn der herzliche Ton des Buches, der wie Märchenzauber unsere Herzen gefangen nimmt, entschädigt uns überreichlich. Wir wünschen dem Buch die weiteste Verbreitung unter Alten und Jungen. Besonders ist das Buch jungen Mädchen zu empfehlen, denn die jüdische Innigkeit und der jüdische Familiensinn sind leider im Schwinden begriffen, und da kann dies Büchlein dazu beitragen, daß die zukünftigen Mütter unseres Volkes weniger modern, dafür aber natürlicher und jüdischer werden.

Israelitische Monatsschrift, Breslau.

Die Memoirenliteratur ist während der letzten Jahre in ihrer Bedeutung für die Geschichtswissenschaft voll erkannt worden. Von jüdischen Memoirenwerken, deren Zahl ohnedies gering ist, darf man nun allerdings nur eine geringe Ausbeute für die pragmatische Geschichte erwarten. Gab es doch nicht allzuviele Persönlichkeiten unter den Juden, die an den aktiven Tagesereignissen großen Anteil hatten, und auch unter diesen nicht viele, die Zeit und Muße zur Niederschrift ihrer Denkwürdigkeiten fanden. Um so größer ist aber dieser Gewinn, der aus dieser Literatur für das innere Leben und die Kulturgeschichte sich ergibt. In diesem Sinne und mit dieser Beschränkung ist auch das angezeigte Buch als wertvolle Quelle, aus der mancherlei Belehrung und Aufklärung über das Leben unserer Glaubensbrüder im Osten zu schöpfen ist, anzusprechen. Wo geschichtliche Vorgänge berichtet werden, so in der Darstellung der Aufklärungsperiode, ist der Wert dieser Aufzeichnungen mehr als problematisch; es berührt eigentümlich – um die einer Dame gegenüber gebotene Höflichkeit zu wahren – wenn Verfasserin wiederholt von dem »scholastischen Gespinst« und den »vielen talmudischen Spitzfindigkeiten« spricht und damit ihre Legitimation für die Beurteilung jener so verhängnisvollen Epoche zu erbringen vermeint. (Hierher gehört auch die Feststellung, daß »viele Traktate des Talmud mit den Worten omar abaja beginnen«!). Wo dagegen die Verfasserin sich auf das ihr liegende Gebiet der Detailmalerei und der Szenen aus dem Volks- und Familienleben beschränkt, liefert sie wahre Kabinettstücke dieser Kleinkunst, die niemand ohne Vergnügen und Nutzen lesen wird.

Israelitisches Familienblatt, Hamburg.

Diese Memoiren gehören zu den liebenswürdigsten Büchern, die seit langem auf den jüdischen Büchertisch gekommen sind. Das Großmütterliche wie das Jüdische darin verschmelzen sich zu einer warmen, trauten Herzlichkeit, die eine blendende, poetische Darstellung, die man von diesem Werke nicht erwarten darf, vollkommen ersetzt. Wir haben es aber auch mit einer kulturhistorischen Gabe allerersten Ranges zu tun. Sie hält in getreuester, liebevollster Hingabe und Erinnerung für die Nachwelt fest, was jetzt bereits im Aussterben begriffen ist, das echt jüdische Haus- und Gemeindeleben unserer russischen Brüder. Die Behauptung von einer Trockenheit und Verknöcherung des alten Judentums, von seelischer Finsternis und Sklaverei unter dem »Gesetz« schmilzt vor dieser Darstellung wie Schnee vor der Sonne. Wer dieses Buch liest, das in jedem Buchstaben den Stempel der Wahrhaftigkeit trägt, muß sagen, daß unsere Großväter und Großmütter, die so lebten, ein solches rundes, jüdisches, von Festen wie von wunderbaren jüdischen Ereignissen durchzogenes Jahr, glücklich waren. Trotz allen äußeren Druckes, trotz ihrer Einfalt und Fremdheit von der modernen Kultur. Wir lernen aus diesem Buch vieles wieder lieben, was wir bereits belächelt haben. Besonders unseren Frauen kann es eine Offenbarung bedeuten.

Druck von C. Schulze & Co., G. m. b. H., Gräfenhainichen