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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Petersburg

In den siebziger Jahren unter der Regierung Alexanders II. war Petersburg in seiner höchsten Blüte. Der Hauptteil von Petersburg, wo das bewegteste und eleganteste Treiben herrscht, ist der Newsky Prospekt und die Morskaja. Hier entwickelte sich vor unseren Augen Tag und Nacht das russische Straßenleben, in dem sich die ganze russische Natur widerspiegelt. Um jede Tageszeit ein anderes Bild, stets ganz eigenartig und sehr interessant.

Acht Uhr morgens. In den Straßen von St. Petersburg dominiert die Jugend, die aus allen Enden der Stadt in ihre Schulen eilt. Die Schulzeit in ganz Rußland beginnt um 9 Uhr und währt bis 3 Uhr nachmittags, nur mit einer einstündigen Unterbrechung von zwölf bis eins.

Da eilen die kleinen und großen Gymnasiasten in ihren Uniformen in Grau und Silber. Die Studenten in Schwarz und Blau mit goldnen Knöpfen, die breitrandigen Mützen keck auf die Seite geschoben. Die Mädchen in ihren schlichten braunen Kleidern mit schwarzen Schürzen, die, aller Mode spottend, nach einer streng vorgeschriebenen Fasson angefertigt sind… äußerlich alle gleich aussehend. Sowohl die Schüler wie die Schülerinnen haben einen Ranzen, der nach Vorschrift der Schulbehörde auf dem Rücken getragen werden muß.

Unterwegs einander begrüßend, laute Reden führend, eilen sie aneinander vorbei, jeder seinem Ziele zu, lustig, übermütig.

Die Lastwagen, die des Morgens die elegantesten Straßen durchziehen, lenken die Aufmerksamkeit auf sich. Den mit Kot und Schmutz bedeckten Wagen zieht ein großes, plumpes Pferd, das seit Jahr und Tag keine Reinigungsbürste auf seinem Fell verspürt hat. Die zentnerschwere Last mit einer zerlumpten und zerfetzten Plane bedeckt. Wagen und Pferd warten nur auf den wohltätigen Regen, der sie einmal von dem Schmutz befreit. Ganz dem Wagen und dem Pferde angepaßt ist der ungepflegte Kutscher mit seiner grünen Mütze und dem an den Ärmeln zerrissenen Schafpelz, der ihm zugleich als Kleid und Schlafdecke dient.

Zwölf Uhr mittags. Von der Peterpaulkirche schlägt die Stunde, von der Festung ertönt ein Kanonenschuß. Die Leute auf dem Newsky-Prospekt ziehen mechanisch die Taschenuhren hervor, um sie zu richten. Die Straßen bieten wieder ein anderes Bild: Gouvernanten, Bonnen, die russischen »Nianias« (Kindermädchen) und die ausgeputzten Ammen in ihrer Nationaltracht führen die Kinder durch den schönen breiten Newsky spazieren.

Um vier Uhr nachmittags beginnt in Petersburg der Korso, der besonders im Winter ein prächtiges Bild bietet. Was für ein Luxus kommt bei diesen Fahrten zum Vorschein! Die herrlichsten Schlitten, die seltensten Rassepferde, die ausgesuchtesten Toiletten und kostbarsten Pelze dürfen da Revue passieren.

Der Korso bewegt sich vom Nikolaibahnhof durch den Newsky, die große und breite Morskaja bis zur »Poztelujewbrücke«. Der Weg ist so breit, daß drei Schlittenreihen bequem nebeneinander fahren können. Alles prächtige, weite Schlitten (hauptsächlich Privatschlitten), innen mit Schafpelz und Teppichen ausgeschlagen, ein schwarzes Bärenfell als Decke. Über die Pferde sind blaue, rote, grüne, manchmal weiße Netze gebreitet. Silbernes Geschirr. Der Kutscher ist meist von ungewöhnlichem Umfang, da sein gepolsterter Mantel (»Jarmak«) von Schulter zu Schulter fast einen Meter breit ist. Es ist ein Oberkleid, festgeknöpft mit einem roten, grünen, blauen oder weißen Gürtel, entsprechend der Farbe des Netzes. Dieses Oberkleid deckt den Kutscher und nimmt die Hälfte des Schlittens ein, so daß es aussieht, als säße der Kutscher auf den Knien seiner Herrschaften. Auf dem Kopf eine vierkantige gepolsterte, rotsamtne Mütze, mit Pelzbesatz und Goldschnur geschmückt. Weiße oder gelbe lange Handschuhe mit Stulpen ergänzen diese so eigenartige Tracht der Petersburger herrschaftlichen Kutscher.

In den Schlitten Damen und Herren, in die kostbarsten Pelze eingehüllt. Hier und da saust mit einer unheimlichen Schnelligkeit ein »Lichatsch« vorbei – ein Einspänner mit einem kleinen Schlitten, nicht größer als ein Sessel. Man sieht nicht mehr als einen Biberpelz, darüber ein kleines kokettes Pelzmützchen.

Das Publikum fährt so nahe aneinander vorbei, daß nicht nur kurze Grüße ausgetauscht werden können, auch Fragen und Antworten fliegen hinüber und herüber. Man verabredet Rendezvous und tauscht Komplimente aus.

Der glitzernde, knirschende Schnee, das Wiehern der Pferde, das leise Rauschen der seidenen Stoffe, das Lachen und Plaudern des Publikums, die Pracht und der Luxus der Schlitten und seiner Insassen – das gibt ein Bild, das nicht nur den Fremden, sondern auch den Einheimischen stets von neuem fasziniert.

Mit der Übersiedelung nach Petersburg ging ich einer Zukunft entgegen, die an Ereignissen und Veränderungen die Vergangenheit, die Gegenwart und alle Erwartungen übertraf.

Das Milieu, in das wir in Petersburg kamen, bestand aus vornehmen, gebildeten Leuten, bei denen meistenteils Reichtum und Luxus herrschten, und die ein fast sorgloses Dasein führten. Trotzdem die Petersburger jüdische Gesellschaft eine große, prächtige Synagoge besaß und zwei Rabbiner hatte, – einen modernen studierten und einen orthodoxen – trennte sie doch vieles von jüdischer Sitte und jüdischer Tradition. Die Vornehmen übernahmen gar manche fremde Tradition und feierten fremde Feste, wie Weihnachten. Von den eigenen Feiertagen hielt man nur noch zwei Feiertage: Jom Kippur und Peßach. Aber sie wurden »modern« gefeiert. Manche kamen ruhig in einer Equipage in die Synagoge und speisten am Jom Kippur während der Pausen.

Das Peßachfest hielt sich selbst in den vorgeschrittensten Kreisen. Es blieb ein Fest der Erinnerung. Freilich nicht an den Auszug aus Ägypten, sondern an die eigene Kindheit in den kleinen litauischen Städtchen. Der Sederabend wurde gefeiert, aber auf eine sehr abgekürzte Art. Sogar die getauften Juden mochten sich vom Sederabend nicht trennen. Veranstalteten sie auch kein besonderes Mahl in ihrem eigenen Hause, so ließen sie sich doch gern in ihren Bekanntenkreisen bei den – noch nicht Getauften einladen. Es sah recht feierlich aus. Die Hausfrau im höchsten Staat, die Kinder sorgsam angezogen, die Gäste in Frack und weißer Binde. Den Tisch schmückte ein Stoß Mazzaus, die auf einem Tablett aufgehäuft waren. Eine Schüssel mit Eiern, mit grünem Salat und Radieschen war hergerichtet. An gutem Wein fehlte es natürlich nicht. Und doch zogen die Herren meistens den »Zmukim« (Rosinenwein), vor, der sie so stark an das Elternhaus erinnerte. Von Gebeten und der ganzen Reihe alter, symbolischer Bräuche nahm man Abstand. Das Gespräch dauerte zwar auch bis Mitternacht. Aber es galt nicht dem Auszug aus Ägypten, sondern Tagesfragen, Zeitungsneuigkeiten, Börsengeschäften. Das Mahl war recht reichhaltig und fing natürlich mit den Eiern an, die in Salzwasser genossen wurden. Dann folgten gefüllte Pfefferfische, Fleischbrühe mit schmackhaften Klößchen und Putenbraten. Es war ein gemütliches Souper mit einigen Eigenheiten, mehr aber nicht. Mit dem Sederabend hatte es eigentlich nur noch den Namen gemeinsam. Auf dem Tisch lag keine Haggadah, sie lag irgendwo in einer alten Holzkiste friedlich bei den vergilbten Talmudexemplaren, der Bibel und alten hebräischen Büchern. Die Fragen wurden nicht gestellt. Die Hände hatte man sich zu Hause mit parfümierter Seife gewaschen. Und beim Weintrinken legte man weiter kein Gewicht darauf, ob es gerade nur vier Becher waren. Natürlich trat das Préférencespiel an die Stelle des Benschens.

Was ich hier schildere, waren die neuen Sitten einer feinen, dünnen Oberschicht der Petersburger Juden.

Die Mehrheit jedoch war der alten hergebrachten Religion, der Tradition treu geblieben, und darunter waren nicht wenige, die zur Elite der jüdischen Gesellschaft gehörten.

In dieser Umgebung zu leben und von ihrem Einfluß unberührt zu bleiben, erforderte eine Charakterstärke und eine religiöse Festigkeit, wie sie mein Mann leider nicht besaß. Mich hätte es unberührt gelassen, mich hätte mein starker Glaube, meine Erziehung und die religiöse Innigkeit, mit der ich an jüdischer Sitte hing, vor der Untreue bewahrt. Ja, stolz wäre ich umhergegangen unter all den Schwachen. Stolz und glücklich, daß ich noch im Besitz all des innigen Reichtums war, den jene längst verloren hatten. Und ich hätte sie wegen ihrer Armut bedauert.

Und doch hatte ich gerade hier in Petersburg, wo die Juden sich von so vielen jüdischen Bräuchen lossagten, oft Gelegenheit zu beobachten, wie stark das Zusammengehörigkeitsgefühl trotz allem unter den Juden entwickelt war: Wenn Juden irgendwo in der Provinz in einem Streit mit der Behörde unterlegen waren, so wandten sie sich nach Petersburg um Unterstützung; und niemals sparte die Petersburger jüdische Gesellschaft Geld und Zeit, um die Sache ihrer Stammesgenossen zu vertreten. Man appellierte und setzte die höchsten Instanzen in Bewegung, damit den bedrängten Juden ihr Recht werde; und dieser Eifer war allen natürlich und selbstverständlich. Nicht umsonst ist ja das Solidaritätsgefühl der Juden in der ganzen Welt sprichwörtlich geworden. Sogar die meisten getauften Juden machten dabei keine Ausnahme. Ja, es gehörte geradezu zum guten Ton in der Petersburger jüdischen Gesellschaft, wohltätige Anstalten für die Juden zu gründen, wo Hunderte von Kindern Unterkunft, Erziehung und Bildung erhielten. —

Es ging bei uns ähnlich zu wie in so vielen anderen Familien, in denen der Kampf um die Tradition gekämpft wurde. »Der Mann, der Verdienende, der die Pflicht hat, die Seinigen zu versorgen, besitzt auch das größere Recht, er ist der Herr im Hause, er kann bitten, darf aber auch fordern,« hieß es dort. Auch mein Mann bat zuerst, und als er damit sein Ziel nicht erreichte, forderte er die Erfüllung seiner Wünsche. Er wurde despotisch und verlor jedes Maß.

Mit seinem schlichten, ruhigen, ehrlichen Wesen, mit dem grenzenlosen Vertrauen, das er den Menschen entgegenbrachte, paßte er nicht hinein in das Großstadtleben, in dessen Hasten und Streben und Ringen. Trotz seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ging es ihm in pekuniärer Hinsicht nicht gut, und in dem Riesenunternehmen, an dem er teilnahm, konnte er nicht vorwärts kommen. Das schmerzte und quälte ihn. Denn frisch noch lebten in seiner Erinnerung die Zeiten, da er ein großer Herr war, reich und vornehm. Wenigstens in seinem Hause, im eigenen Familienkreise wollte er Entschädigung haben für diese Ungerechtigkeit. Hier wollte er ganz Herr sein – und er war es auch im vollsten Sinne. Es genügte nicht, daß ich ihm volle Freiheit außerhalb des Hauses ließ. Ich mußte mich selbst und mein Haus »reformieren«.

 

Zuerst waren es Kleinigkeiten, aber liebe, vertraute Kleinigkeiten, die mir ans Herz gewachsen waren, von denen ich mich trennen mußte. Aber damit waren die Umstürzler noch nicht zufrieden. Es wurde weiter gefordert; und rücksichtslos wurden die Grundlagen unseres bisherigen Lebens zerstört.

Hier in Petersburg war es, wo ich gleich am Anfang unseres Aufenthaltes den »Scheitel« abnehmen mußte. Hier war es, wo ich nach heftigstem Widerstand die koschere Küche abschaffte und allmählich eine schöne, alte Sitte nach der anderen aus meinem Hause vertrieb. – Nein, ich vertrieb sie nicht, ich begleitete jede von ihnen bis zur letzten Pforte meines Hauses mit Schluchzen und Weinen. Blutenden Herzens ließ ich sie hinausziehen und schaute ihnen lange, lange nach – und war so traurig, als wenn ich das Teuerste zu Grabe brächte. Was litt ich damals, welche Seelenkämpfe habe ich durchmachen müssen! Ich ahnte nichts davon in meiner Jugend, als ich noch so glücklich das beschauliche, ruhige, stolze, patriarchalische Leben in meinem Elternhause lebte. Trotzdem ich meinen Mann so heiß und treu liebte wie in der ersten Zeit unseres Zusammenlebens, konnte und durfte ich nicht widerstandslos nachgeben. Für mich und für die Kinder wollte ich das teure Gut erhalten und kämpfte einen Kampf um Sein oder Nichtsein.

Das ganze Leben in Petersburg war dazu angetan, daß selbst tausend verschiedene Erlebnisse immer wieder auf das eine Problem des Judentums zusammenliefen. Was hat mir die Gymnasialzeit meines Sohnes für Sorge und Herzeleid gebracht! Simon war Schüler des vierten Gymnasiums. Eines Tages wurden die Knaben in die Kapelle des Gymnasiums zu einem Gottesdienst geführt. Vor den Heiligenbildern knieten alle nieder. Mein Sohn nur blieb stehen. Der Klassenaufseher forderte ihn auf, sofort niederzuknien. Mein Sohn lehnte es entschieden ab: »Ich bin ein Jude. Und mein Glaube verbietet mir, vor einem Bilde zu knien.« Wütend ging der Aufseher. Nach dem Gottesdienst wurde Simon gerufen: er war entlassen. Morgen sollte er sich seine Papiere holen. Das war eine böse Kunde. Auch diese Sorge noch! Ich eilte zu den Popetschitjel, flehte, jammerte. Mein Sohn hätte ja nicht die Schuldisziplin mißachten wollen. Er wollte nur der Erziehung treu sein, die er im Elternhause und in der Rabbinerschule genossen. Achtung vor der Autorität der Eltern sei auch ein wichtiges Erziehungsmoment. Wo sie aufhört, beginnt vielleicht das Laster. Aber Fürst Liwin blieb hart. Ich konnte nicht mehr sprechen. Der Schmerz drückte mir die Kehle zu. Tränen auf Tränen quollen aus meinen Augen. Sah ich doch das Lebensglück meines Sohnes zerstört. Ich lief hinaus. Aber kaum hatte ich das Vorzimmer erreicht, da rief mich der Fürst zurück. Dieses Gymnasium sollte er verlassen. Aber er wollte doch dafür sorgen, daß er in ein anderes aufgenommen würde. Und so geschah es. Ich fand wieder die Ruhe und genoß mit tiefem Behagen die Freude über die stolze Handlung meines Sohnes. Das war Blut von meinem Blute. Aber durfte ich unter den fremden Einflüssen hoffen, daß die Kinder immer der Art der Mutter folgen würden? Sie wurden größer. Sie begriffen auf ihre Weise, was in ihrer Umgebung vorging und – stellten sich manchmal auf die Seite des Vaters. So war ich oft vereinsamt: Der Mann, die Gesellschaft gegen mich. Ich unterlag. Aber niemand ahnte die Tragik jener Tage, die ich damals durchlebte.

Nur ein paar vergilbte Blätter, denen ich mein Leid damals vor achtunddreißig Jahren in einer Verzweiflungsstunde anvertraut hatte, sind stumme, starre Zeugen meiner Leiden – Ich füge hier jene Worte, die ich am 15. April 1871 schrieb, bei, denn sie scheinen mir von allgemeinerem Interesse zu sein, geben sie doch dem Schmerz und dem verzweifelten Kampf Ausdruck, den nicht nur ich allein, sondern so manche Frau und Mutter in dieser schweren Übergangsperiode des jüdischen Lebens zu ertragen hatten.

Die gefährliche Operation. – Die Reform der Küche

… Das Geschwür ist so groß geworden, daß es mich zu ersticken droht! Was tun? Wo Rat holen? Woher die Kräfte zum Kampf nehmen? O, lieber Gott, schenke mir Seelenstärke, die Operation ohne bleibenden Schaden ertragen zu können! Ich fühle mich zu schwach, das zu überstehen. Es ist ein Kampf auf Tod und Leben. Ich habe mich in den eigenen Kräften verrechnet und glaubte nicht, daß diese letzte Reform mich in solche Bangigkeit und in so starkes Zerwürfnis mit mir selber hineinstürzen würde. Warum fällt es mir so schwer, meine bisherigen Grundsätze zu überwinden? Ich glaube, meine anhängliche Natur ist daran schuld. Die Verehrung und Liebe für meine Eltern sind bei mir unzertrennlich mit der Verehrung ihrer religiösen Sitte verbunden. Es überkommt mich die Verzweiflung, wenn ich an die Notwendigkeit meines Handelns denke, von der mein künftiges Heil, meine Ruhe und Zufriedenheit, selbst das Glück meiner Kinder abhängen soll. Es wird sicher eine tiefe Wunde in die Herzen meiner Eltern schlagen. Ich war ihnen bisher eine liebe Tochter. Nun haben sie volles Recht, mir zu fluchen – Ja, ich verstehe ihren brennenden Schmerz. Ich bin selbst Mutter!

Aber wo sind meine eigenen Grundsätze? Ja, sie sind da. Seit fünfzehn Jahren kämpfe ich, sie zu erhalten. Sie sind mir ans Herz gewachsen, in Fleisch und Blut übergegangen. Nun sind sie aber der Störenfried und Anstoß für alle Meinigen geworden, an ihnen zerschellt jeden Augenblick alle Zärtlichkeit, alle Achtung und Liebe. – Und was mich so unglücklich in meinem jetzigen Zustand macht, ist das Verhältnis meines Mannes zu mir. Er hat es nie verstanden, oder sich nie die Mühe gegeben, mich anders zu betrachten, wie ein für sich notwendiges Ding. Er ist nie auf den Gedanken gekommen, daß ich meine eigenen Grundsätze, Gewohnheiten habe, daß ich bereits von Haus aus zu ihm mit Erinnerungen, ja sogar mit gewissen Erfahrungen kam; und daß die mannigfachen Lebensumstände meine Standhaftigkeit ausgebildet und gefestigt haben. Er gab sich nicht die Mühe, sich meinem inneren Wesen zu nähern und es zu erkennen. Er fordert von mir vor allem Unterwürfigkeit und Verleugnung meiner Grundsätze. Nein, mein Freund, diesen deinen letzten Wunsch ohne Murren zu erfüllen, bin ich nicht imstande. Dazu hättest du mich allmählich vorbereiten sollen, dann wäre es mir vielleicht nicht so tödlich schwer geworden! Da es aber nicht geschah, da du meinem inneren Leben fremd bliebest, wurde meine Anhänglichkeit an die Eltern und das Pflichtgefühl ihnen gegenüber von Tag zu Tag stärker. Ich schuf mir eine eigene Welt in mir, von der ich mich jetzt so schwer trennen kann. O, Gott im Himmel, nur du kannst unparteiischer Zeuge meiner Leiden sein! Wem soll ich klagen! Verstehst du mich, mein Mann? Legst du mir meine Konsequenzen nicht als eine Hartnäckigkeit aus, kannst du nicht darin etwas Höheres, Edleres sehen, als Eigensinn? Und die Kinder? Die sind ja noch zu jung – sie werden aber schon auf deine Seite kommen. Sie sind ja Kinder ihrer Zeit!

Das Messer ist geschärft. Ich muß mich entscheiden. Die Operation soll vor sich gehen, denn ich ersticke! Nur bitte ich um Zeit, damit ich den Kampf zuerst mit mir selbst auskämpfe und meine geistigen Kräfte sammle. O, wer hilft mir? Niemand! Zurück also in meine eigene Welt, in mein Herz, in die Gesellschaft meiner Gedanken, in die Welt meiner Vergangenheit, die eine inhaltreiche Geschichte ist, und in die undurchdringliche Zukunft. Ich will dieses furchtbare Opfer auf dem Altar meines häuslichen Herdes darbringen. Eher darf ich nicht sagen, daß ich meine Pflicht als Frau und Mutter erfüllt habe, bis ich auch diesem Wunsch der Meinigen nachgegeben habe. Was ist mein Leben ohne Liebe, ohne Anhänglichkeit und in einem immerwährenden Streit mit den Nächsten? Nach jedem Auftritt wegen dieser unheilvollen Frage sehe ich den Tod vor Augen. Die Bitterkeit, die ich stets dabei empfinde, könnte drei Leben, und nicht nur eines vergiften! Daher, ihr Henker, schärft die Messer, ich bin fertig. Ich will mit dieser Tat dem ewigen Spotten über die Religion in meinem Hause ein Ende machen. Lieber begehe ich selbst das Schreckliche und rette mit dieser Handlung die wahre Grundlage der Religion, den Glauben. Ich darf vielleicht nicht länger zögern, wenn ich das Schlimmste verhindern soll. – Heutzutage muß man ein Hillel und kein Schamai sein*.

O, Schweres, namenlos Schweres hast du mir, Gott, auferlegt! Ich lebe ja in der schwersten Übergangszeit, in der wir jüdischen Frauen ohne alle persönlichen Rechte in den Ehestand getreten sind, in der unsere Männer sich als unsere Herren oder Diener, nie aber als unsere Freunde betrachten. O, totes Papier, fühlst du es nicht, welche Worte ich hier niedergeschrieben habe? Es wird mir schrecklich zumute. Meine Sinne schwinden. Meine Hand versagt ihre Dienste. Ich werfe das Papier weit von mir. Soll ich wünschen, daß es jemandem einmal in die Hände kommt?

So wurde denn in meinem Hause die treifene Küche eingeführt. Für dieses Opfer, das ich den Meinigen brachte, forderte ich die Erfüllung eines Wunsches: Einundfünfzig Wochen im Jahre mußte ich so leben, wie sie es haben wollten, eine Woche, die der Peßachfeiertage, sollte mir gehören. Und niemand sollte mir im Wege stehen, diese Feiertage ganz so zu feiern, wie ich es von Hause aus gewohnt war. Und dabei blieb es.

Ein guter Freund beeilte sich natürlich, meinem Vater von dieser Reform in meinem Hause Mitteilung zu machen. Mein Vater hörte ihn ruhig an, schwieg weise eine Weile und sagte dann. »Wenn meine Pessele es getan hat, so mußte sie es tun.«

Zu diesen religiösen Kämpfen im Hause kam noch der Kampf ums Dasein. Die geschäftlichen Angelegenheiten meines Mannes blieben dauernd unerfreulich. Weder als Bankangestellter, noch als Börsenmakler hatte er Glück. Er fühlte sich niedergeschlagen und müde, denn das schlechte Petersburger Klima übte einen bösen Einfluß auf seine Gesundheit aus. Die Kinder wurden groß. Ihre Erziehung forderte Mittel, die die unseren überstiegen. Unsere materiellen Verhältnisse hielten nicht Schritt mit den Bedürfnissen, die noch durch unseren Verkehr von Tag zu Tag größer wurden. Ich hatte so manche schwere Stunde durchzumachen. Aber ich tat mein Möglichstes, um vor den Kindern und den Fremden unsere materielle Lage zu verbergen. Die Hoffnung auf bessere Zeiten verließ mich nie. Ich arbeitete und arbeitete, daß das Glück, sollte es einmal kommen, keine verelendete Familie vorfände. Diese Hoffnung gewann mit der Zeit in meiner Phantasie Form und Gestalt – ich sah vor unserer Wohnung das Unbestimmte, das Wunderbare, das uns die frohe Nachricht bringen sollte, harren und leise unsere Tür öffnen —

Aber es öffnete sie gar so leise und langsam —

Es bedeutete eine glückliche Wendung für uns, als meinem Manne die Stellung eines Vizedirektors der Kommerzbank in Minsk angeboten wurde. Wir überlegten nicht lange, packten unser Hab und Gut zusammen und siedelten nach Minsk über.

Das war gegen Ende 1871.

Endlich wich die materielle Sorge von uns. In kurzer Zeit erhielt mein Mann die Stelle des Direktors, und von nun an führten wir wieder ein reiches, vornehmes Leben in Minsk.

*Zwei Gelehrte, die entgegengesetzte Richtungen vertraten: Hillel – die milde, nachgiebige; Schamai – die strenge.