Räderwerk

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Räderwerk
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Paula Wuger

Räderwerk

Die Keller-Lüge

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

Impressum neobooks

KAPITEL 1

J. J. PREYER

RÄDERWERK

JUDITH STEYN ERMITTELT

ein Wienerwald-Krimi

Ich trage, wo ich gehe,Stets eine Uhr bei mir;Wieviel es geschlagen habe,Genau seh ich an ihr.

Es ist ein großer Meister,Der künstlich ihr Werk gefügt,Wenngleich ihr Gang nicht immerDem törichten Wunsche genügt.

Johann Gabriel Seidl

„Hast du die Sendung gesehen?“, fragte Manuel Glockner, als er kurz nach Mitternacht heimkam.

„Natürlich. Und ich bin beeindruckt, obwohl du nicht zu sehen warst“, antwortete Judith Steyn. „Wie war es?“

„Nicht besonders aufregend. Der Schutz des Jungen im Fernsehstudio ist überflüssig.“

„Und was sagst du zum Interview?“

„Da stimmt etwas nicht“, sagte Manuel. „Ben lügt. An der Sache ist etwas faul.“

„Ben Wesely spricht auffallend gewählt für einen Menschen, der acht Jahre in einem Keller eingesperrt war“, formulierte Judith Steyn ihren Zweifel vorsichtiger als ihr Freund.

„Hast du die Sendung aufgezeichnet?“

Judith bejahte das, und Manuel schlug vor, das Interview gemeinsam noch einmal anzuschauen. „Ich bin nur in den Kulissen gestanden und hätte gerne deine Meinung dazu.“

Während Judith am Aufnahmegerät hantierte, holte Manuel Bier und zwei Gläser aus der Küche. Dann ertönte die Signation der Sondersendung aus dem Fernsehgerät.

„Wie er in die Scheinwerfer blinzelt! Als ob er die letzten Jahre in Dunkelheit verbracht hätte. Vor und nach der Sendung hat er ganz normal geschaut.“

„Er wirkt gut genährt …“

„Etwas zu gut sogar.“

„Seine Muskeln scheinen normal entwickelt zu sein.“

Herr Wesely“, wandte sich der junge, blond gefärbte Interviewer an den etwas dicklichen jungen Mann, „wie geht es Ihnen jetzt, beinahe zwei Wochen nach Ihrer Flucht aus dem Keller, in dem Sie acht Jahre Ihres jungen Lebens gefangen gehalten worden sind?“

Die Antwort des jungen Mannes, der eine tief in die Stirn gezogene Wollmütze trug, kam etwas stockend, aber in perfektem Deutsch, das kaum durch Dialekt oder Umgangssprache beeinträchtigt war: „So sehr ich die Freiheit genieße, so sehr bedeutet sie auch eine große Herausforderung für mich. Die Welt hat sich verändert, seit meinem zehnten Lebensjahr …“

Als Sie auf Weg zur Schule entführt worden sind.“

Ben Wesely nickte und fuhr mit dem rechten Zeigefinger über die Oberlippe.

„Ein Zeichen, dass er lügt. Der Kerl lügt“, ereiferte sich Manuel Glockner. „Er will verbergen, was aus seinem Mund kommt.“

„Jedenfalls versucht er sich zu schützen. Die Mütze und die wärmende Strickjacke deuten darauf hin.“

„Willst du auch Chips?“

Judith lehnte dankend ab, während ihr Freund sich vom Polstersessel erhob und in die Küche ging.

Sie bewunderte seine athletische Gestalt. Der zierliche Mann, den sie in Bad Gastein kennengelernt hatte, war durch hartes Training muskulös geworden.

Manuel war, so überlegte Judith, sechs Jahre jünger als sie und zehn Jahre älter als Ben Wesely, der in den Jahren seiner Entführung vom Kind zum Mann gereift war.

Judith stellte sich das zehnjährige Kind vor, mit der Stimme eines Mädchens, das in einen Lieferwagen gezerrt, in den Keller eines Einfamilienhauses verschleppt und dort acht Jahre festgehalten worden war, bis kurz nach dem Erreichen der Volljährigkeit.

Wollte man der Geschichte Glauben schenken, die in den Medien verbreitet wurde, war Wesely zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag aus dem Haus geflüchtet. Sein Entführer hatte daraufhin Selbstmord begangen, indem er sich vor einen Zug geworfen hatte.

Judith hätte viele Fragen an den jungen Mann gehabt, doch der Interviewer im Fernsehen stellte sie nicht. Aus Rücksicht auf den seelischen Zustand des Geflüchteten, wie es in einem einleitenden Statement von Prof. Holzmeister hieß, jenes Jugendpsychiaters, der Ben Wesely betreute.

Wie sehen Sie die Jahre Ihrer Gefangenschaft im Rückblick?“, fragte der Interviewer.

Es waren Jahre der Enge, der Dunkelheit. Aber man gewöhnt sich auch daran, besonders wenn man jung ist. Je älter ich wurde, desto stärker wurde mein Wunsch, ein Leben wie die anderen zu führen, das sich nicht auf einen einzigen Menschen konzentriert, auf den ich in jeder Weise angewiesen war.“

„Er spricht viel zu schön. Als ob man ihm die Antworten eingetrichtert hätte“, sagte Manuel Glockner und nahm wieder Platz. „Ich traue dieser Inszenierung keinen Augenblick.“

„Und alles in Händen von Cramar“, ergänzte Judith. „TVÖ, Österreich aktuell.“

„Was sagt Waldheim dazu?“

„Er wird sicher nicht glücklich sein, dass alles über die Konkurrenz abgewickelt wird.“

„Ein perfekter Mediendeal, der den Beteiligten viel Geld einbringt. Und das erst zwei Wochen nach der Flucht.“

„Andererseits“, überlegte Judith, „braucht der Junge Geld. Er hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf erlernt.“

„Viel wird nicht davon übrigbleiben, wenn man die Honorare für den Psychiater und den Pressesprecher abzieht.“

„Und für euch Schutzengel.“

Guardian Angels ist nicht so teuer“, bemerkte Manuel und fügte ein Leider hinzu.

Zum Trost schob er eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund.

Der 28-Jährige konnte sich das von der Figur her leisten, dachte Judith und wusste, dass sie mit ihren 34 Jahren etwas vorsichtiger sein musste.

Sie hatten doch einen Traum in den langen Jahren ihrer Gefangenschaft, Ben“, sagte der Reporter, der kaum älter als sein Interviewpartner zu sein schien.

Der junge Mann zog die Mütze noch ein Stück weiter in die Stirn, schloss die Augen und meinte dann: „Ich habe mir sehnlichst gewünscht, in einer Blumenwiese zu liegen und in den weiten, blauen Himmel zu schauen. Es war immer enger, immer einsamer geworden in der Gefangenschaft. Manches Mal fürchtete ich, er werde mich töten. Er hatte alles Interesse an mir verloren. Ich war nur mehr eine Last für ihn.“

Je älter Sie wurden.“

Als ich erwachsen wurde, wollte er mich nicht mehr.“

„Sie deuten einen pädophilen Hintergrund an“, stellte Manuel fest.

„Irgendeinen Grund muss die Entführung ja gehabt haben“, überlegte Judith. „Geldforderungen wurden keine gestellt …“

„Und dann hat ihn der Entführer flüchten lassen und sich vor den Zug geworfen.“

„Das macht wenig Sinn, ich weiß. Aber wir kennen keine andere Version.“

„Vielleicht kannst du deinen Chef überreden, in der Sache ermitteln zu lassen“, schlug Manuel vor.

„Ich weiß nicht. Familie Österreich hat keine Rechte an der Verwertung dieses Falles.“

Sie sind schon in der Blumenwiese gelegen, Herr Wesely?“, fragte der Interviewer.

Nein, davon träume ich noch immer. Ich versuche im Augenblick mit mir und der Welt zurechtzukommen“, erklärte der junge Mann.

Was ist das Schwierigste daran?“

Dass ich plötzlich ganz allein bin. Ein siamesischer Zwilling, der von seinem Bruder getrennt wurde und endlich frei ist.“

Wobei der Bruder ums Leben gekommen ist.“

So könnte man es sagen. Natürlich hat es sich nicht um meinen Bruder gehandelt. Ansonsten hilft man mir sehr.“

„Der siamesische Zwilling ist ein gutes Bild“, fand Judith.

„Das nicht von Wesely stammt. Der Professor hat bei der Stelle genickt, als ob er etwas abhaken würde. Das haben sie ihm eingetrichtert.“

„Der Psychiater.“

„Emmerich Holzmeister, der Wesely seit seiner Flucht betreut. Irgendjemand muss das sofort nach dem Auftauchen des jungen Mannes organisiert haben.“

„Es klingt verdächtig, wie du es sagst“, überlegte Judith, „könnte aber ganz harmlos zu erklären sein. Jemand von der Polizei, mit Verbindungen zu Cramar, könnte diesen informiert haben und …“

„Ja, das ist möglich“, sagte Manuel Glockner und gähnte, dann fragte er Judith: „Sind nicht auch wir siamesische Zwillinge?“

 

„Wie kommst du darauf?“, fragte Judith.

„Wir sind im Sternzeichen des Zwillings geboren, und ich bin nichts ohne dich.“

„Och, das würde ich nicht sagen. Du gehst durchaus eigene Wege.“

„Du meinst beruflich?“

Judith nickte.

„Meine Potenz hätte darunter gelitten, wärst du länger meine Chefin geblieben.“

„Und jetzt ist Kozik dein Chef.“

„Ich brauche einen Chef. Das entlastet mich.“

„Einen väterlichen Chef.“

„Du meinst …“

„Was?“

„Dass ich auch beruflich siamesischer Zwilling sein möchte?“

„Ich habe nichts dergleichen gesagt.“

„Aber?“

„Kein Aber.“

„Ich würde gerne mit dir verschmelzen. Jetzt und sofort“, sagte Manuel, und Judith erkannte am Glanz seiner braunen Augen, dass er erregt war.

„Gegen Verschmelzungen dieser Art habe ich nichts einzuwenden“, erwiderte Judith. „Sie sind vorübergehend und durchaus …“

„SSScchhhh. Genug geredet“, flüsterte Manuel, setzte sich auf den rechten Arm von Judiths Polstersessel und begann sie zu küssen.

Dann wanderten seine Lippen höher, zu ihrer Nase und den Augen. Er streichelte ihren Nacken, löste ihr zu einem Chignon hochgestecktes blondes Haar, rutschte dann auf ihre Knie und zwischen diese.

„Du bist heiß wie …“

„Wie Manuel. Wenn er auf dich heiß ist.“

„Besser hätte ich es nicht sagen können.“

„Wenn die Geschichte mit Ben Wesely stimmt, hatte er noch nie eine Frau.“

„Das ist anzunehmen.“

„Stell dir vor, er käme zu dir, und du müsstest ihm alles beibringen.“

„Worauf willst du hinaus, Manuel?“

„Stell dir vor, ich bin Ben Wesely und du bist, du bist …“

„Judith Steyn, die nie und nimmer einen unschuldigen Knaben verführen würde.“

„Sicher nicht?“

„Sicher nicht.“

„Aber …“

„Gut, dann leg dich hin! Ich werde mir etwas einfallen lassen.“

Manuel Glockner atmete tief durch und ließ sich auf den Teppichboden fallen.

„Aber eins müssen wir noch klären“, zögerte Judith die Zärtlichkeiten hinaus.

„Du bekommst alles, was du willst.“

„Kümmere dich um meine Armbanduhr. Sie funktioniert nicht mehr.“

„Jaja. Komm schon!“

Kurz nach acht Uhr meldete sich Brigitte Wesenauer und fragte Judith, ob sie am Vormittag nach Wien kommen könne. Der Chef wolle mit ihr sprechen.

Obwohl sie nur vier Stunden geschlafen hatte, fühlte sich Judith energiegeladen, als sie von ihrer Wohnung in Bad Vöslau zum Redaktionshochhaus am Donaukanal aufbrach.

Judith Steyn arbeitete für die Tageszeitung Familie Österreich, recherchierte in rätselhaften Kriminalfällen und berichtete unter dem Pseudonym Louise Gerlach. Pfefferspray ist ihr Parfum war das Motto, das Hans Waldheim für sie gewählt hatte.

„Sie warten schon auf Sie“, sagte die wie immer untadelig wirkende Vorzimmerdame.

„Sie?“, fragte Judith.

„Der Chef und Erwin.“

„Aber natürlich. Ich habe ihm Frolic mitgebracht.“

Und tatsächlich. Sobald Judith an der Tür zu Hans Waldheims Arbeitsraum geklopft und diese einen Spaltbreit geöffnet hatte, stürzte schon der schwarze Riesenschnauzer Erwin auf sie los, in höchsten Tönen quietschend wie ein neugeborener Welpe. Dabei war er schon fünf Jahre alt.

Judith musste zuerst den Hund tätscheln und ihn mit seiner Lieblingsspeise, kleinen Ringen aus getrocknetem Fleisch, versorgen, bevor sie ihren Chef begrüßte, der sich von seinem großflächigen Schreibtisch erhoben und ein paar Schritte auf sie zu gemacht hatte.

Der sonst so dynamische 69-Jährige wirkte an diesem Vormittag müde. Seine Haut hatte den olivfarbenen Schimmer der Erschöpften.

„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte er Judith mit einem Händedruck. „Sie ahnen wohl, worum es geht.“

„Ich kann es mir denken. Ich habe mir das Interview gestern angesehen und mit Manuel darüber gesprochen. Er bewacht den jungen Wesely – mit anderen natürlich.“

„Interessant, interessant“, murmelte Waldheim, schien jedoch in Gedanken weit weg zu sein.

Also wartete Judith auf die Erklärung, warum er sie nach Wien gebeten hatte. Doch die kam nicht. Der Verleger betätigte unablässig den Druckknopf seines Kugelschreibers und schaute dabei aus dem Fenster. Judith folgte seinem Blick und sah die mit Graffiti bedeckte Kaimauer am gegenüber liegenden Ufer des Donaukanals, die hohen, leicht vom Wind bewegten Pappeln und das starke Verkehrsaufkommen. Die Sonne blendete so sehr, dass sie den Blick abwenden musste.

„In dieser Richtung“, sagte er schließlich, „nicht einmal dreißig Kilometer von hier, liegt Himberg, wo sich Hans-Josef Hebenstreit vor den Zug geworfen haben soll.“

„Der Entführer Ben Weselys“, sagte Judith.

„Wenn es denn so gewesen ist, wie sie behaupten. Ich möchte, dass Sie seinen Tod untersuchen, Judith.“

„Sie haben Zweifel an seinem Selbstmord?“

„Ich möchte Sicherheit haben.“

„Sie kannten den Mann?“

Der alte Verleger nickte stumm, dann sagte er: „Er hat bei uns angefangen, bevor er zu Cramar gewechselt ist.“

„Das heißt, er war für Klaus Cramar tätig, der jetzt das große Geschäft macht mit den Berichten über die Untat jenes Journalisten.“

„Werfen Sie einen kritischen Blick auf die Sache! Ich glaube, sie ist nicht so, wie man sie vermittelt. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, Judith.“

„Ich werde mich bemühen. Soll ich darüber schreiben?“

„Im Moment nicht. Vielleicht eines Tages, wenn wir die Wahrheit kennen.“

Als Waldheim nichts mehr sagte, nur mehr den Kopf seines Riesenschnauzers tätschelte, fragte Judith, ob es noch etwas zu besprechen gebe.

„Entschuldigen Sie, ich habe schlecht geschlafen, nach diesem Interview. Sie halten mich auf dem Laufenden. Er hat am Dürrsee bei Münchendorf gewohnt.“

„Hans-Josef Hebenstreit?“

Waldheim nickte.

Judith verabschiedete sich von ihm und verfütterte den Rest der Frolic-Ringe an Erwin, der auch nicht so munter war wie sonst. Die melancholische Stimmung seines Herrn schien auf ihn abzufärben.

Judith fuhr über Erdberg, Kaiserebersdorf und Schwechat nach dem im Süden von Wien gelegenen Ort Himberg.

Obwohl die kleine Marktgemeinde im Industrieviertel des Wiener Beckens lag, wirkte sie ländlich-verträumt, mit Resten ebenerdiger Häuser aus dem Biedermeier.

Als Judith die mit Kreide beschriebene Tafel eines Gasthauses sah, die Wiener Bruckfleisch verhieß, beschloss sie, im schattigen Garten zu Mittag zu essen.

Gerade als sie an einem der gedeckten Tische Platz nahm, ertönten die Mittagsglocken von der benachbarten Pfarrkirche. Der Glockenklang scheuchte einige Tauben auf, die müde Kreise über den Ort zogen.

Bruckfleisch hatte Judiths Oma zu besonderen Anlässen gekocht. Die aus Innereien bestehende Speise war besonders schmackhaft, aber auch preisgünstig.

Judith erinnerte sich an die Küche ihrer Großmutter in Bad Vöslau, in der ein großer, mit Holz beheizter Herd stand, auf und in dem ständig Köstlichkeiten buken, simmerten oder brieten.

Großmutters Bruckfleisch bestand aus geschmortem Kronfleisch, Rinderherz, Leber, Nieren, Bries und Milz, in einer würzigen Sauce. Und all das durfte man nicht direkt vom Herd essen, es musste mindestens vom Vortag sein, nur die Semmelknödel waren frisch und flaumig.

Judith wartete gespannt auf das Essen und hoffte, dass dieses einigermaßen mit Omas Küche mithalten konnte.

Und tatsächlich. Das Bruckfleisch aus dem Hause Gusenbauer – so hieß das Gasthaus – schmeckte zwar anders, aber durchaus delikat. So delikat, dass Judith ein zweites Bier bestellte.

Etwas schläfrig geworden, überlegte sie, wie sie wohl am besten Hans-Josef Hebenstreits Spuren folgen konnte und griff nach einem Exemplar der Tageszeitung Österreich aktuell, die in einem Zeitungshalter aus gebogenem Weidenrohr neben Waldheims Familie Österreich und der Presse, dem Standard und einer Gratiszeitung lag.

Sie las einen Artikel über die Entführung Ben Weselys vor acht Jahren, der mit einem Kinderfoto des nunmehr 18-Jährigen illustriert war, als die Kellnerin fragte, ob sie eine Nachspeise bringen dürfe. „Wir haben Sachertorte, Apfelstrudel mit Schlag, Cremeschnitten …“

Judith bat um die Eiskarte. Es war ziemlich heiß für Mitte Juni. Die Schafskälte schien sich in diesem Jahr zu verspäten oder gar auszufallen.

„Schrecklich“, sagte die Servierkraft mit dem jugendlich zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebundenen Haar, obwohl sie an die sechzig sein mochte. „Schrecklich das alles. Dabei war Hajo ein ausgesprochen netter junger Mann.“

So jung auch nicht mehr, mit seinen 37 Jahren, dachte Judith, hielt jedoch ihre Zunge im Zaum, weil sie mehr erfahren wollte.

„Er hat bei Ihnen gegessen?“, erkundigte sie sich bei Frau Gerti, wie die Kellnerin von den übrigen Gästen gerufen wurde.

„Am Samstag und am Sonntag regelmäßig, während der Woche war er in Wien. Manches Mal kam er noch auf ein Bier, kurz bevor wir zusperrten. Keiner von uns hätte gedacht, dass er … Na, Sie wissen schon …“

„Dass er ein Kind entführt hat?“

„Dass er andersrum war. Warum sonst hätte er den Jungen all die Jahre eingesperrt?“

„Und niemand hat etwas bemerkt?“

„Sicher, er ist nie mit einer Frau gekommen, aber sonst …“

„Ich meine den Jungen, Ben Wesely. Den hat offenbar niemand gesehen.“

„Der muss die ganze Zeit im Keller gewesen sein, sonst wäre er den Nachbarn begegnet.“

„Am Dürrsee.“

„Das ist ein Schotterteich. Privat, mit lauter Häusern rundherum, zum Teil Wochenendhäusern von Wienern.“

Als ein Gast zahlen wollte, bestellte Judith rasch einen Fruchteisbecher mit Hohlhippen und wunderte sich erneut. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand einen Knaben acht Jahre in einem Keller gefangen halten sollte. Wieder fiel ihr Waldheims Hund ein. Hatte der Junge im Keller dieselbe Funktion wie ein Haustier gehabt? Hatte er dazu gedient, dem Journalisten die Einsamkeit vergessen zu lassen? Nein. Eine einigermaßen vernünftige Beziehung konnte sich nur entwickeln, wenn man dem Partner Freiraum gewährte.

Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Beziehung mit Manuel. Er hatte ursprünglich mit ihr zusammenarbeiten wollen, wie in Bad Gastein. Bis er feststellte, dass das für ihn nicht ging. Er wollte Judith als Partnerin, nicht als Chefin.

Das schadet meiner Potenz, hatte er gesagt, obwohl Judith in dieser Hinsicht nicht zu klagen hatte.

Dann hatte er seine Ausbildung zum Bodyguard bei seinem ehemaligen Ausbildner auf der Polizeischule begonnen und arbeitete jetzt für dessen Agentur Guardian Angels.

Ein dunkelgrüner Wagen von Guardian Angels stand vor dem ebenerdigen Fertighaus am Dürrsee, den man kaum sah, so eng lagen die bebauten Grundstücke am Wasser nebeneinander, mit keiner Möglichkeit, den Teich zu erreichen, ohne eine Besitzstörungsklage zu riskieren. Hebenstreits Haus wurde offenbar von Koziks Leuten bewacht.

Judith dachte nach, wie sie mehr über den verstorbenen Journalisten herausfinden könnte und kam auf den Gedanken, es vom Wasser her zu versuchen, bei einem Haus, dessen Besitzer nicht anwesend waren.

Dazu benötigte sie einen Schwimmanzug. Sie fuhr zurück nach Himberg, wo sie in der Hauptstraße ein Sportgeschäft gesehen hatte.

Dort probierte sie mehrere einteilige Schwimmanzüge, entschied sich dann für einen hellblauen Bikini und Sonnenöl mit Schutzfaktor 20.

Beim Zahlen hatte sie kurz schlechtes Gewissen, denn sie freute sich auf das Schwimmen und ein Sonnenbad, doch befreite sie sich schnell von diesem Zweifel. Warum sollte sie nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?

Mit ihrem Jeep Wrangler Moab umkreiste sie den Teich und hielt an einem Häuschen, dessen Rollläden heruntergelassen waren. Auf der Wiese hinter dem Gebäude schlüpfte sie in den Bikini und steckte prüfend die Zehen des rechten Beines in das Wasser.

Die Temperatur war angenehm für Mitte Juni, außerdem befanden sich in einiger Entfernung mehrere andere Schwimmer im Wasser.

Aber bevor sie ins Wasser ging, wollte sie die Sonne genießen und legte sich auf ihr Gewand, das sie auf dem mehrere Zentimeter hohen Gras ausgebreitet hatte. Die Besitzer schienen lange nicht am Teich gewesen zu sein.

 

Die Wärme der Sonne tat wohl, vom Wasser her wehte sanfter Wind. Judiths Gedanken verloren sich in Erinnerungen an Urlaub, Ferien, Kindheit …

Als sie erwachte, spannte die Haut in ihrem Gesicht. Das Mittagessen war doch mehr als ausreichend gewesen. Nun aber war ihr nach Bewegung zumute.

Zügig ging sie ins Wasser, das ihr bald bis zum Nabel reichte, durchpflügte den Teich im Kraulstil, wendete viermal, erst dann näherte sie sich dem Grundstück, auf dem Hans-Josef Hebenstreits Haus stand.

Es wurde auch auf der Wasserseite bewacht. Ein junger Mann in der dunkelgrünen Uniform, die Judith von Manuel kannte, saß auf einem Campingsessel im Schatten und las ein Buch.

Weil der Zugang zum Haus auf diesem Weg nicht möglich war, entschloss sich Judith zum Gespräch mit anderen Schwimmern und näherte sich einer Luftmatratze, auf der eine korpulente ältere Frau lag, die selbst einer aufblasbaren Matte glich.

„Wieder ein herrlicher Tag“, sagte Judith zu ihr, und die Frau lobte das Wasser, die Sonne und das Leben überhaupt.

Judith umkreiste, sanft paddelnd, die Luftmatratze und meinte dann: „Wie schön wäre die Welt, wenn es keine Menschen gäbe. Anwesende natürlich ausgenommen.“

„Sie denken an Hebenstreit. Das ist allerdings tragisch. Er hätte sich doch wegen dieser blöden Sache nicht umbringen müssen.“

„Sie haben den Jungen, den er angeblich gefangen hielt, auch nie gesehen?“

„Nein. Sie doch auch nicht?“

„Zumindest waren die beiden nie gemeinsam im Wasser“, sagte Judith.

„Eben. Ich kann es nicht glauben. Und der geheimnisvolle Keller war nicht wirklich ein Geheimnis. Hans-Josef hat immer wieder von seinem Atomschutzbunker geredet.“

„Natürlich. Der war ihm wichtig“, tastete sich Judith im Gespräch voran.

„Die Sache musste ihn viel gekostet haben. Aber er hatte geerbt.“

„Das Haus hatte er von …“

„Von seiner Mutter. Die werden Sie nicht mehr gekannt haben. Sie starb vor zehn, zwölf Jahren.“

„Er wollte sich gegen einen Atomangriff absichern.“

„Ja, Männer haben manchmal so fixe Ideen. Dabei hätte das wenig Sinn, wenn nur er in seinem Keller übrig bliebe. Alles wäre verstrahlt. Er hätte nichts zu trinken.“

„Und Hans-Josefs Vater?“, erkundigte sich Judith.

„Ich weiß nur, dass die Mutter geschieden war. Ein Vater war eigentlich nie da. Hajo lebte sehr zurückgezogen, von einigen Freunden abgesehen, mit denen er hin und wieder feierte. Vermutlich Journalistenkollegen.“

„Vor denen man jetzt das Haus schützt.“

„Darüber sind wir eigentlich froh, mein Mann und ich. Sonst entwickelt sich unser See noch zu einer negativen Attraktion.“

„Wie die Stelle, an der er sich vor den Zug geworfen hat.“

„Ich mag gar nicht daran denken. Schrecklich. Wir haben einen Strauß Blumen hingelegt. Rosen aus dem Garten.“

„Das werde ich auch tun. Wo ist dieser schreckliche Ort?“

„Wenige Meter nach dem Bahnhof.“

„Himberg?“

„Ja. Auf dem Bahndamm. Sie können die Stelle nicht verfehlen. Es brennen einige Kerzen, und es liegen Blumen dort. Die Lok soll seinen Kopf abgetrennt haben.“

„Schrecklich“, sagte Judith und entschuldigte sich. „Mir ist jetzt kalt geworden, ich schwimme zurück zum Haus.“

Judith ließ ihren Körper in der Sonne trocknen und dachte nach.

Auf diese Weise kam sie nur langsam voran. Sie hatte immerhin von einem Atombunker, vom Tod der Mutter Hebenstreits und dem Ort, an dem er ums Leben gekommen war, erfahren, und sie würde das für ihren Chef dokumentieren. Vielleicht konnte Manuel im Gespräch mit seinen Kollegen, die das Haus bewachten, mehr über den mysteriösen Keller herausfinden, in dem Ben Wesely acht Jahre lang gefangen gehalten war.

Noch war ihr Interesse an diesem Fall nicht geweckt. Sie bedauerte zwar grundsätzlich, dass der Journalist ums Leben gekommen war. Andererseits hatte er mit der Entführung Ben Weselys ein schweres Verbrechen begangen.

Sie wollte wissen, wie spät es war, blickte wieder einmal auf ihr leeres linkes Handgelenk und las schließlich vom Display ihres Handys die genaue Uhrzeit ab. 15:07 Uhr.

Sie stieg in ihren Wagen und wollte in den Navigator Himberg und Bahnhofstraße eingeben, als sie erkannte, dass es dort nur eine Bahnstraße gab.

Auch recht, dachte sie, folgte den Anweisungen und gelangte in wenigen Minuten zum kleinen Bahnhof. Dort bog sie nach Süden, in die Anton-Diettrich-Gasse, und sah am mit verdorrtem Gras bewachsenen Bahndamm Blumen und Kerzen. Eine Frau betete an der provisorischen Gedenkstätte.

Judith stoppte den Wagen in einiger Entfernung und legte die letzten Meter zu Fuß zurück.

In diesem Moment ging ein metallisches Sirren von den Bahngleisen aus, und kurz darauf donnerte ein von einer Elektrolok gezogener Personenzug vorbei. Judith spürte einen kalten Luftzug und erschauderte. Sie dachte an einen Menschen, der all das hörte und dennoch auf den Gleisen liegenblieb.

Sie stellte sich neben die in Andacht versunkene Frau und bedauerte, nicht wenigstens Wiesenblumen mitgebracht zu haben. Die Frau zu ihrer Rechten bekreuzigte sich, dann ging sie in die Knie, um Blumensträuße und Kerzen zurechtzurücken. Ihrer Handtasche entnahm sie ein Feuerzeug und entzündete damit mehrere Kerzen, die der Luftzug von der Bahn gelöscht hatte.

„Ein böser Ort“, sagte Judith mehr zu sich selbst.

„Ein schlimmes Ende für einen Menschen“, sagte die Frau, die irgendwie nach Chemikalien roch. Oder war das der Bahndamm oder eine zu heiß gewordene Kerze?

„Sie kannten Hans-Josef Hebenstreit?“, fragte Judith, bemüht, interessiert, aber nicht neugierig zu klingen.

„Er hat sich bei uns stylen lassen. Herr Hebenstreit war sehr auf sein Aussehen bedacht.“

Jetzt wurde Judith klar, wonach die Frau roch. Nach Chemikalien aus einem Friseurladen, die für Dauerwellen und das Haarfärben verwendet wurden.

„Sie sind Friseurin?“

„Salon Uli“, bestätigte sie stolz.

„Die Chefin?“

„Ulrike Horvath.“

„Ich bin Judith Steyn.“

Die beiden Frauen standen eine Weile schweigend Seite an Seite, dann sagte die Friseurin: „Der Pichler hat ihn gefunden, als er vom Mittagessen zur Arbeit fuhr.“

„Das heißt“, schloss Judith, dass Hebenstreit in den Mittagsstunden ums Leben gekommen ist und der Lokführer nichts mitbekommen hat.“

„Sie haben recht. Er hätte sonst angehalten, und man hätte ihn früher gefunden.“

„Wo wohnt dieser Herr Pichler? Ich möchte mit ihm reden“, versuchte Judith, den direkten Weg zu gehen.

„Sie kannten Hebenstreit?“

„Eine komplizierte, sehr persönliche Angelegenheit.“

„Schon gut. Sie müssen nicht darüber reden. Ulf Pichler arbeitet im Lagerhaus.“

Im Großmarkt des Lagerhauses in der Rauchenwartherstraße erkundigte sich Judith bei der Frau an der Kassa nach Herrn Pichler. Die Frau im grünen Hemd griff nach dem Telefonhörer und bat ihn zum Ausgang.

Dem kräftigen Mann mit dem dichten Schnurrbart, der nach längerer Zeit erschien, stellte sich Judith als Journalistin vor. Sie bot ihm ein Honorar für das Interview an und fragte, welche finanziellen Vorstellungen er habe.

„Keine. Ich darf nicht mit Presseleuten reden“, wehrte er ab und versuchte dabei freundlich zu bleiben, denn Judith schien ihm zu gefallen, obwohl oder weil sie ihn beinahe um einen Kopf überragte. Judith Steyn war über einen Meter achtzig groß.

„Dann hat wohl ein Gespräch keinen Sinn“, zeigte sich Judith enttäuscht.

„Das würde ich nicht sagen“, meinte der etwa Vierzigjährige und blickte in Judiths blaue Augen.

„Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.“

„Das kann man wohl sagen. Ich habe das Ganze – ihn – die Reste von ihm – zuerst für ein Kleiderbündel gehalten, das jemand entsorgt hat, dann aber bin ich stehengeblieben und habe mir … Ich muss zugeben, dass ich mich übergeben habe. Der Kopf lag abgetrennt auf der anderen Seite der Geleise.“

„Und es war erkennbar, um wen es sich handelt?“

Der Mann nickte stumm.

„Merkwürdig“, überlegte Judith. „Bei dem Tempo, mit dem die Bahn unterwegs ist. Oder war es ein Lokalzug, der in Himberg gehalten hat und dann erst langsam wieder angefahren ist?“

„Ich weiß nicht, wie lange er dort gelegen hat“, meinte der Mann. „Aber jetzt darf ich wirklich nichts mehr sagen. Herr Cramar von Österreich aktuell hat mich unter Vertrag.“

„Und wie sieht das finanziell aus?“

„Mehr als zwei Monatsgehälter.“

„Nicht schlecht.“

„Ich hab ihn ja nur vom Sehen gekannt.“

„Herrn Hebenstreit?“

Wieder nickte der Mann. „Er hat in anderen Kreisen verkehrt.“

„Sie meinen …“

„Bessere Leute und irgendwie anders.“

Judith wollte nicht weiter nachfragen, bedankte sich und verabschiedete sich von dem Mann, dann wandte sie sich wieder an die Kassiererin und fragte nach Friedhofskerzen.

Vor die Wahl gestellt, ob sie sie sich für eine echte Kerze oder für eine mit Batterie gespeiste, flackernde Imitation entscheiden sollte, griff sie des Fahrtwindes wegen, den die Züge erzeugten, zur Nachbildung.

Als sie wieder zum Bahndamm fuhr, sah sie in der Ferne einen dunklen Wagen, dem ein älterer Herr entstiegen war, der sie an Hans Waldheim erinnerte.

Der Mann kniete eine Zeitlang vor der Unglücksstelle, dann erhob er sich, wischte über die Knie seiner dunklen Hose und ging zurück zum Auto, das sich kurz darauf in Bewegung setzte.

Obwohl er in die andere Richtung fuhr, konnte Judith noch das Nummernschild lesen. Eine Wiener Nummer. Waldheims Nummer. Ihr Chef war hierher gefahren, um des toten Entführers zu gedenken.