Räderwerk

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KAPITEL 2

Manuel kam einige Minuten nach 23 Uhr in die gemeinsame Wohnung.

„Ein Glück, dass man den Jungen bald ins Bett schickt“, sagte er und fragte Judith, ob sie noch Lust auf einen Spaziergang durch das nächtliche Bad Vöslau habe. „Es wird erst jetzt angenehm kühl“, sagte er.

Judith gefiel der Vorschlag, und die beiden wanderten die Florastraße entlang zum Kurpark. In der kühlen, dunklen Luft schwebten Glühwürmchen, und Judith blickte zum Himmel, auf der Suche nach Sternschnuppen. Doch der beinahe volle Mond schien zu hell.

„Schade“, sagte sie. „Ich hätte mir gerne etwas gewünscht.“

„Was denn?“, fragte Manuel, der sich bei ihr eingehängt hatte.

„Ich würde gerne im Park des Thermalbads verschwinden, so wie in den Ferien in der Kindheit, für Tage, ja Wochen, lesen, baden, Eis essen. Und an nichts denken.“

„Das können wir jederzeit machen. Wir müssen nur Urlaub nehmen.“

„Das machen wir. Wenn dieser Fall abgeschlossen ist.“

„Fall? Du sprichst von einem Fall?“

„Ich will wissen“, erklärte Judith, „was es mit der Entführung Ben Weselys auf sich hat und warum mein Chef sich an den Ort fahren lässt, an dem der Entführer gestorben ist, dort niederkniet …“

„Das ist wohl einige Fragen wert“, fand Manuel.

„Und bei dir? Was war heute bei dir los?“

„Gert und ich haben Wesely zu Verhandlungen mit einem deutschen Filmproduzenten begleitet. Er wird ein Buch schreiben, und dieses soll verfilmt werden.“

„Hat er schon seine Eltern getroffen?“

„Sie waren auch dort. Aber …“

„Ja?“

„Sie reden nicht miteinander.“

„Wie meinst du das?“

„Schau, eine Fledermaus! Jetzt wird es unheimlich. Vampire fliegen durch die Lüfte, auf der Suche nach dem Blut unschuldiger Mädchen.“

„Also habe ich nichts zu befürchten.“

„Fühl dich nicht allzu sicher!“

Bei diesen Worten setzte er seine Lippen an Judiths Hals und begann zu saugen.

„Au, das brennt“, rief Judith und schob seinen Kopf weg. „Den Fleck werde ich mit Make-up überdecken müssen. Du bist unmöglich!“

„Willst du dich nicht revanchieren?“

„Das hättest du wohl gerne.“

„Bitte!“

„Nein.“

„Dann erzähl ich dir nichts mehr.“

„Dann lässt du es bleiben.“

Die beiden gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis Manuel es nicht mehr aushielt.

„Die beiden Eltern reden nicht miteinander, und Ben Wesely ignoriert sie.“

„Merkwürdig.“

„Die Eltern sind geschieden und absolut unmöglich. Der Vater trinkt, die Mutter …“

„Ja, was?“

„Sie frisst jeden Mann, dem sie begegnet bei lebendigem Leib.“

„Auch dich?“

„Mit den Augen.“

„Kann ich verstehen. Es wäre interessant, mit den beiden zu reden.“

„Geht nicht. Sie stehen bei Cramar unter Vertrag.“

„Ein dichtes Netzwerk.“

„Sozusagen. Au, das habe ich jetzt ganz übersehen.“

„Wenn ich einen Fleck habe, sollst du nicht ungeschoren davonkommen“, sagte Judith und löste ihre Lippen von Manuels Hals. „Und jetzt drehen wir um. Ich möchte etwas trinken …“

„Und essen.“

„Zu dem Prachtwetter passen Weißwein und Grammelschmalzbrote, leicht gesalzen und gepfeffert.“

„Aber das haben wir leider nicht“, bedauerte Manuel.

„Du täuschst dich. Im Kühlschrank lagern Wein, Mineralwasser und Schmalz. Und Weißbrot haben wir auch.“

„Das wir kurz ins Backrohr legen, damit es besonders knusprig wird.“

Während sich Judith um die Brote kümmerte, fragte sie Manuel, ob er daran gedacht habe, ihre Uhr zum Service zu bringen.

„So etwas erledigt der Meister selbst“, erklärte er.

„Das heißt …“

„Das heißt, dass dein Maurice Lacroix Les Classiques Chronograph …“

„Mit Mondphase …“

„Nach seiner Entmagnetisierung wieder tadellos funktioniert.“

„Entmagnetisierung?“, fragte Judith erstaunt.

„Die Batterie war in Ordnung, auch sonst waren keine Mängel zu erkennen, also habe ich vermutet, dass die Uhr nicht funktionierte, weil sie einem starken Magnetfeld ausgesetzt war.“

„Aber …“

„Ich tippe auf unseren Herd mit den Induktionskochfeldern.“

„Beunruhigend, diese geheimnisvolle Kraft im Hintergrund, die ein Uhrwerk stillstehen lässt.“

„Solche Magnetfelder können auch Herzschrittmacher beeinflussen.“

„Die wir beide nicht haben. Und wie hast du die Uhr entmagnetisiert?“

„Bei Hildner an der Hochstraße. Er hat ein Gerät dafür.“

„Und deine Rolex funktioniert noch?“

„Leider nur eine Imitation.“

„Aus Italien?“

„Aus dem Internet.“

„Und warum funktioniert deine Uhr noch?“, ließ Judith nicht locker. „Immerhin kochst du auch.“

„Ich nehme sie immer vorher ab.“

„Das werde ich auch machen. Wenn ich nicht darauf vergesse.“

Am nächsten Vormittag setzte sich Judith an ihr Notebook und blickte durch das Fenster der Dachterrasse auf den Park des Thermalbades. Sie nahm sich vor, sobald sie die Aufgabe erledigt hatte, die sie sich vorgenommen hatte, schwimmen zu gehen. Der Tag war zu schön, um in der Stube zu hocken.

Sie hielt ihre bisherigen Erkenntnisse schriftlich fest und suchte dann im Internet nach Artikeln über den Entführungsfall.

Sie studierte gerade einen Beitrag in Österreich aktuell, als sie das Signal ihres Handys bei der Arbeit unterbrach.

Der Anruf kam von Gretel Mardein, jener Bekannten ihres Chefs, die sie in Bad Gastein kennen und schätzen gelernt hatte.

Die 82-Jährige hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf. Sie bat Judith um ein Gespräch, Hans Waldheim betreffend.

„Ich mach mir Sorgen um ihn. Wir müssen ihm helfen“, sagte sie. „Sind Sie einverstanden, mich im Gutshof Thallern zu treffen? Das liegt für Sie und mich auf halbem Weg.“

Judith blickte auf ihre Armbanduhr, die nun wieder funktionierte, sah, dass es halb elf war und freute sich auf die Spezialität des Restaurants, auf Backhendlteile. Das Wetter war schön, also bestand die Möglichkeit, im Gastgarten zu sitzen. Ein zusätzliches Plus, trotz des ernsten Hintergrundes, den Frau Mardein angedeutet hatte.

„Wir treffen einander um zwölf?“, vergewisserte sich Judith.

„Beim Glockenschlag der Johannes-Kapelle“, bestätigte Gretel Mardein.

Frau Mardein saß schon bei einem Glas G’spritzten und erhob sich, als Judith den beinahe vollen Gastgarten betrat. Jetzt erst dachte sie daran, dass sie einen Tisch hätte reservieren lassen sollen. Aber das hatte die umsichtige ehemalige Journalistin für sie erledigt.

Gretel Mardein war wie immer untadelig gekleidet, an diesem Donnerstag in einem rosaroten Kleid mit Gürtel, das ihre noch immer gute Figur unterstrich, ohne zu viel Haut zu zeigen. Das weiße Haar, streng dauergewellt, glich dem Helm eines Ritters ohne Furcht und Tadel.

Die beiden Frauen umarmten einander, während eine Kellnerin auf sie zueilte, um zu fragen, was sie speisen wollten.

„Backhuhn, natürlich“, sagten sie im Chor. „Und für mich auch einen G’spritzten“, fügte Judith hinzu.

Als Judith sich erhob, um sich beim Salatbuffet zu bedienen, bat Gretel Mardein sie, ihr Kartoffelsalat mitzubringen.

„So, jetzt können wir reden“, sagte die beinahe mütterliche Freundin des Herausgebers von Familie Österreich. Immerhin war sie 13 Jahre älter als er. „Hans leidet wie ein Hund“, begann sie das Gespräch und schob etwas Salat in den Mund. „Und das muss ein Ende haben. Die Sache schadet seiner Gesundheit. Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?“

„Gestern“, erklärte Judith. „Er hat mich gebeten, die Umstände des Todes von Hans-Josef Hebenstreit zu klären. Sie wissen schon, des Entführers des jungen Mannes.“

„Aber Judith, Sie tun ja, als ob ich auf dem Mond lebte! Die Medien berichten über nichts anderes mehr. Und genau darum geht es. Hans-Josef Hebenstreit war der Sohn Waldheims, aus der geschiedenen Ehe mit Nadja Hebenstreit.“

Judith schob die Tasse mit dem Salat beiseite und räusperte sich. Das war eine überraschende Offenbarung.

„Hajo Hebenstreit, Waldheims Sohn“, wiederholte Gretel Mardein. „Um die vierzig Jahre alt – es war Waldheims zweite Ehe, die ebenso wie die erste geschieden wurde. Der Sohn nahm nach einem Streit den Familiennamen der Mutter an.“

„Hebenstreit hat anfangs für Waldheim gearbeitet.“

„Das war noch zu meiner Zeit in der Redaktion. Irgendwann kam es zum Bruch zwischen Vater und Sohn.“

„So, die Backhühner“, unterbrach die Kellnerin das Gespräch und stellte die Teller auf den Tisch. „Ich wünsche guten Appetit.“

Mit einem scheuen Blick auf die jeweils andere begannen Judith und Gretel die panierten Hühnerteile mit Messer und Gabel zu zerteilen, bis Frau Mardein ein Flügerl in die Hand nahm und daran knabberte.

Damit war das Eis auch für Judith gebrochen, und auch sie aß mit den Fingern.

„So wie es sich gehört“, bemerkte Gretel Mardein. „Sie stellen nicht umsonst Feuchttücher zur Verfügung. Wobei es früher hier viel nobler zuging, mit einer Wasserschale, auf der Zitronenscheiben schwammen und einer Stoffserviette. Ich erinnere mich noch, wie Onkel Fredi irrtümlich die Schale leertrank.“

Judith musste trotz des ernsten Gesprächs, das sie geführt hatten, lachen.

Dadurch ermuntert, fuhr Gretel Mardein in ihren nostalgischen Erinnerungen fort: „Mein Vater und eben jener Onkel genossen den Wein ohne Hemmungen, und wenn es zurück nach Wien ging, wurde im Auto gesungen. Es gab damals noch keine Einschränkungen, Alkohol am Steuer betreffend. Allerdings waren noch nicht so viele Autos unterwegs.“

 

Als satt waren, baten beide Frauen, die Kellnerin, die übrig gebliebenen Hühnerteile einzupacken. Sie wollten noch einen Teil ihres Magens für eine Nachspeise freihalten und entschieden sich für Salzmandeleis.

„Mit Schlag natürlich“, sagte Gretel Mardein. „Wir können es uns leisten. Aber wo war ich vorhin stehengblieben?“

„Bei dem Zwist zwischen Waldheim und seinem Sohn.“

„Ja. Das war tragisch. Aber was sollte Hans tun? Der Junge war von der Mutter großgezogen worden, verwöhnt, vernachlässigt und unerträglich. Er war notorisch unpünktlich, konnte nicht schreiben, also, ich meine journalistisch, und war frech. Hans wollte und musste ihn erziehen, obwohl er damals schon achtzehn war, an der Matura gescheitert. Eines Tages ist es zu einem Schreiduell zwischen den beiden gekommen, Waldheim hat ihn in seiner Wut als Schwuchtel bezeichnet. Von da an gingen die beiden getrennte Wege.“

„Und jetzt das noch“, sagte Judith. „Der schwere Verdacht, sein Selbstmord. Ich werde mich bemühen, den Fall zu klären.“

„Das ist wichtig, Judith, und Sie werden es wie immer schaffen. Der Grund, warum ich Sie um dieses Gespräch, gebeten habe, liegt in meiner Sorge um Hans. Mir war es wichtig, Ihnen den Hintergrund klar zu machen, damit Sie … Nein, ich bitte Sie natürlich nicht zu lügen, was immer Sie über Hajo herausfinden. Aber vielleicht können Sie in der Art, wie Sie es Waldheim beibringen, etwas vorsichtig sein.“

„Ich denke, er ist an der Wahrheit interessiert“, stellte Judith fest. „Und Sie haben völlig recht, Gretel. Es kommt auf die Form an, wie diese vermittelt wird.“

„Und wenn Sie wieder meine Hilfe benötigen … Ich bin froh, gebraucht zu werden. Immerhin haben wir in Gastein perfekt zusammengearbeitet. Wie geht es übrigens dem jungen Mann, den Sie dort kennengelernt haben?“

„Blendend. Manuel hat sich zum Bodyguard ausbilden lassen. Er arbeitet für eine Firma, die Ben Wesely bewacht.“

„Vom Keller in ein etwas größeres Gefängnis“, sinnierte Gretel Mardein.

„Ja, das hat etwas für sich. Wesely wurde und wird benutzt.“

„Aber wir waren bei Ihrem …“

„Manuel.“

„Sie haben ihn als Trojanisches Pferd in die Bande um Ben Wesely eingeschleust?“

„Nicht bewusst. Obwohl die Tatsache, dass er sich dort befindet, nicht unpraktisch ist.“ Nach einer kurzen Nachdenkpause fuhr Judith fort: „Bande. Sie sprachen von einer Bande.“

„Ja. Damit meine ich den Trupp von Männern, die den Entführten umgeben und ihn von der Öffentlichkeit fernhalten. Cramar und seine Handlanger, von denen einer der Übelsten und Verlogensten dieser Holzmeister ist.“

„Der Jugendpsychiater.“

„Eben dieser. Ist Ihnen nicht auch aufgefallen, dass das ausschließlich Männer sind. Von Cramar angefangen, über den Chefermittler hin zu den Wächtern.“

„Also, was Manuel betrifft …“

„Natürlich. Entschuldigen Sie, Judith. Ich meine den Chef von Guardian Angels.“

„Sie haben sich also intensiv damit beschäftigt, Gretel“, stellte Judith fest.

Die alte Journalistin lächelte verschmitzt. „Das bin ich Hans schuldig. Aber ich bin an meine Grenzen gestoßen, also habe ich Sie kontaktiert.“ Als sich die Kellnerin mit dem Eis näherte, schlug Frau Mardein ein Glas Muskateller zur Begleitung vor. „Er hebt sich würzig von der Süßigkeit ab.“ Dann meinte sie noch: „Sie sollten noch einmal mit Hans reden. Am besten morgen Vormittag.“

„Ich möchte nicht aufdringlich sein.“

„Ich werde ihn auf Ihren Besuch vorbereiten. Es muss etwas geschehen. Dieses unwürdige Schauspiel, in dem sein Sohn die Rolle des Opferlamms übernehmen musste, darf nicht ungestört über die Bühne gehen. Das ist die Verschwörung eines Räderwerks böser Menschen.“

Als Judith ihre Wohnung betrat, tönte aus den Lautsprechern des Soundsystems der Song All the King’s Men von den Wild Beasts, der Judith der kreischenden Stimme eines der Sänger wegen erschaudern ließ.

Manuel schien das nicht zu stören. Er hatte das Gehäuse einer mechanischen Taschenuhr geöffnet und setzte ein kleines bronzenes Zahnrad auf einen winzigen Metallstift.

Im rechten Auge trug er eine Uhrmacherlupe. Vor Anstrengung und Konzentration ragte seine Zungenspitze leicht aus dem Mund.

Judith wagte es nicht, ihn anzusprechen, um nicht seine heikle Arbeit zu stören.

Doch er selbst wandte sich an sie mit den Worten: „Ich glaube, sie funktioniert wieder.“

„Eine alte Uhr?“, fragte Judith.

„Militäruhr aus der Schweiz. Beginn 20. Jahrhunderts, vom Flohmarkt am Naschmarkt. Ein wunderbares Stück, und jetzt geht sie wieder.“

Judith lauschte den Worten des Songs der Wild Beasts und dachte wieder an den Fall Wesely.

And we are the boys

Who’ll drape you in jewels

Cut off your hair

And throw out your shoes

Cause baby, you won’t need them, where you'll be.

Die Boys. All the King’s Men. Die gefährlichen Männer.

Judith dachte an das Gespräch mit Gretel Mardein und die Männer, die Ben Wesely ihren Worten nach für ihre Zwecke nutzen wollten, während Manuel ihr das Uhrwerk erklärte.

„Das angespannte, aufgezogene Federwerk treibt die Räder an. Das Minuten-, das Kleinboden- und Sekundenrad sowie das Ankerrad, die alle perfekt ineinander greifen. Die Hemmung stellt die Verbindung zwischen Räderwerk und Unruh her und sorgt für den richtigen Takt, die richtige Schwingung, das Leben der Uhr.“

„Unruh. Mein Gott, wie lange habe ich diesen Ausdruck nicht mehr gehört!“, sagte Judith und staunte, wie ernst der sonst immer zu einem Scherz aufgelegte Manuel das Thema nahm.

„Sie entspricht dem Pendel einer Standuhr.“

„Räderwerk. Genau davon hat Gretel gesprochen.“

„Du hast die alte Schabracke getroffen?“

„Nein, das ist ungerecht, Manuel. Sie ist eine wunderbare Frau, und alt werden wir alle.“

„Wenn wir alt werden. Und wovon hat sie gesprochen?“

„Von einem Räderwerk der Männer, von einer Verschwörung, die das momentane menschliche Umfeld von Ben Wesely betrifft.“

„Da hat sie nicht so unrecht.“

„Sie zählt deinen Chef zu diesem Räderwerk.“

„Kozic hat Verbindungen, sonst hätte er nicht den Auftrag bekommen.“

Kräftiger Wind wehte von der geöffneten Terrassentür in das Wohnzimmer. Draußen ging prasselnd ein Gewitterregen nieder.

„Ich will raus, in den Regen, mich bewegen, nach all dem Sitzen und Stehen“, sagte Manuel. „Gehst du mit mir joggen?“

„Sollen wir nicht warten, bis das Ärgste vorüber ist?“

„Auf gar keinen Fall. Gewitterregen bedeutet Hochgenuss.“

Nach einigem Zögern kleidete sich Judith um und lief mit Manuel in das laue Nass, den Kurpark entlang, zu einem Weg, der bergauf, zur Jubiläumswarte auf dem Harzberg, führte, durch Föhrenwälder, die dem Berg den Namen gegeben hatten.

Als die beiden in einiger Entfernung von den Häusern des Kurortes und deren Bewohner waren, stieß Manuel einen tarzan-ähnlichen Schrei aus und verstärkte sein Tempo.

Judith, die früher eine bessere Läuferin als Manuel gewesen war, staunte, dass er sie auf diesem Gebiet überholt hatte, und sie wusste nicht, ob sie das störte oder stolz auf ihn machte.

Egal, sie versuchte mitzuhalten, obwohl sie kaum mehr Luft bekam. Also ließ sie ihn ziehen und hoffte, er würde am Ziel auf sie warten.

Tatsächlich stand Manuel, mit den Händen auf seine Oberschenkel gestützt, am Aussichtsturm auf der Rudolfshöhe.

Als Judith ebenfalls stoppte, um etwas auszuruhen, fiel ihr die Begegnung mit Gretel Mardein ein, und sie sagte laut: „Sie weiß mehr, viel mehr, als sie gesagt hat.“

„Wer?“, fragte Manuel.

„Gretel Mardein. Ich bin gespannt auf das morgige Treffen mit Waldheim.“

„Wesely hat morgen Vormittag einen Termin im Flughafen in Schwechat. Mit einem englischen Produzenten.“

„Film?“

Manuel nickte bestätigend.

„Das geht aber schnell.“

„Genug gerastet?“, fragte Manuel.

„Es geht schon wieder. Ich freu mich auf die Dusche. Ich darf doch zuerst?“

„Nein. Wir machen das gemeinsam.“

Waldheim begrüßte an diesem Freitagmorgen Judith besonders herzlich, indem er sie umarmte. Dann schlug er einen Spaziergang am Donaukanal vor.

„Es ist so schön heute, und Erwin hat auch seine Freude daran.“

„Von mir ganz abgesehen“, sagte Judith.

„Es ist beachtlich, wieviel Leben der Fluss in die Stadt bringt“, schwärmte Hans Waldheim, während Schnauzer Erwin die Enten in Ufernähe mit Interesse betrachtete.

Doch ein Pfiff seines Herrn genügte, um ihn von etwaigen Jagdabenteuern abzubringen.

„Erwin ist ein wohlerzogener Hund“, bemerkte Judith.

„Wir haben uns so sehr aneinander gewöhnt, dass einer dem anderen gehorcht.“

„Frau Mardein hat anklingen lassen, dass ein Gespräch mit Ihnen wichtig wäre“, kam Judith zum eigentlichen Thema des Treffens mit ihrem Chef.

„Die gute Gretel. Auch sie ist eine Seelenverwandte. Wie Erwin, obwohl ihr der Vergleich nicht recht wäre.“

Judith schmunzelte, betrachtete den Riesenschnauzer eingehend und fand letztendlich, dass der Schnauzer eher Manuel ähnelte, in seiner athletischen Gestalt. Aber das durfte sie ihrem Freund nicht sagen. Das würde er ihr übel nehmen.

„Ich habe Ihnen beim letzten Mal nicht alles gesagt“, sagte Waldheim, „aber Sie wissen jetzt, dass Hajo mein Sohn ist. Mein einziges Kind.“

„Es tut mir sehr leid, was mit ihm geschehen ist.“

„Danke, Judith. Sie haben das gut formuliert. Was mit ihm geschehen ist. Ich weiß es nicht, zweifle aber daran, dass es sich so verhalten hat, wie man behauptet. Gretel hat von einem Opferlamm gesprochen. Ich weiß nicht, ob es stimmt, doch möchte ich Gewissheit.“

„Das ist der Auftrag, den Sie mir gegeben haben. Ich werde mich bemühen, die Wahrheit herauszufinden.“

„Danke, Judith.“

„Gretel Mardein hat von einer möglichen Verschwörung böser Menschen gesprochen.“

„Die gute Gretel!“

„Teilen Sie diese Vermutung?“

„Ich bin mir nicht sicher. Die Verbindung zu Hajo war abgerissen. Damals, als ich ihm noch nahe war, war das auszuschließen. Undenkbar. Aber Menschen verändern sich. Wobei ich es mir nicht vorstellen kann, was er mit einem kleinen Jungen hätte anfangen sollen.“

„Was für ein Mensch war ihr Sohn zu der Zeit, in der Sie ihn kannten?“

„Er war einmalig. Ein freundliches, ausschließlich positives Kind. Nicht so wild wie die anderen, tierlieb. Etwas zart, oft krank.“

„Und später?“

„Zu zart, zu weich.“

„Kein richtiger Junge?“

„Das war lange Zeit ein schwieriges Thema für mich. Aber jetzt … kein Problem mehr.“

„Sie meinen seine Homosexualität.“

Waldheim zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, dass er schwul war. Allerdings hat er sich nie für kleine Kinder interessiert. Er hatte immer gleichaltrige Freunde, so lange ich das verfolgen konnte. Und er war oft allein. So allein, dass wir uns einen Hund zulegten. Einen ersten Riesenschnauzer. Erwin ist der dritte.“

Bei der Erwähnung seines Namens ließ der Hund den Stock fallen, lief zu seinem Herrn und ließ sich streicheln.

„Und er schwamm wahnsinnig gern. Eine richtige Wasserratte, wie man so sagt. Wir erwarben damals das Haus bei Himberg für die Wochenenden und die Ferien. Und dort hatte er Kontakt mit Nachbarskindern.“

„Ich verstehe“, sagte Judith und fragte dann ihren Chef, was Gretel Mardein mit dem Begriff Verschwörung gemeint haben könnte.

„Die Medienvermarktung um Ben Wesely verläuft etwas zu glatt, zu perfekt.“

„Manuel hat erzählt, dass der junge Mann heute einen Termin mit einem Filmproduzenten hat.“

„Zwei Wochen nach seiner Selbstbefreiung. Er wird perfekt gemanagt. Die Frage ist nur, was es ihm bringt, abgesehen vom Geld, von dem auch andere profitieren.“ Als Judith schwieg, fuhr er fort. „Ich rede nicht gerne darüber, weil ich keinen Beweis habe. Und ich möchte nicht meinen Konkurrenten verunglimpfen, nur weil er in dieser Sache erfolgreicher ist als ich.“

„Aber …“, versuchte Judith, ihren Chef zu verleiten, weiterzumachen.

„Ist das Aber so deutlich aus meiner Rede herauszuhören?“, fragte Waldheim und schmunzelte zum ersten Mal.

 

Judith nickte und betonte, Waldheim könne ihr gegenüber ganz offen sein.

„Gut. So sei es denn“, sagte er und steuerte ein Bank an. „Ich brauche eine kurze Rast“, erklärte er.

Sobald sie saßen, begann Judith den Hund mit den mitgebrachten Frolic-Ringen zu füttern. Waldheim überlegte einige Minuten, bevor er begann.

„Es gibt einen Herrenclub – und jetzt lachen Sie nicht – in der Herrengasse, im ersten Stock des Café Bades. Ihm gehören neben Cramar auch noch der Jugendpsychiater …“

„Holzmeister.“

„Und der Chefermittler, ein Oberst Gerhartinger, an.“

„Das schaut tatsächlich nicht besonders gut aus.“

„Nein“, bestätigte Waldheim. „Der Schönheitsfehler daran ist die Tatsache, dass es sich um eine noch ungeprüfte Behauptung handelt. Ein anonymes Schreiben, das mich am Dienstag erreicht hat.“

„Sie haben dieses Schreiben noch?“

„Natürlich“, sagte Waldheim und griff nach seiner Brieftasche, der er ein mehrfach gefaltetes Stück Papier entnahm.

„Eine Kopie. Das Original liegt im Safe“, erklärte er noch. „Falls wir eines Tages Fingerabdrücke vergleichen können.“

Judith nahm das in Computerschrift bedruckte Blatt und studierte den knappen Text.

Der Herrenclub hat Wesely gerettet. Kinderpornos, nein danke! Medienlügen, nein danke! Hans-Josef Hebenstreit ist unschuldig!

Judith dachte nach. Sie hatte den Eindruck, der Verfasser wollte an den Stil des Bombenbauers Franz Fuchs erinnern, der im Gerichtssaal ähnlich formulierte Sätze gebrüllt hatte, bis er sich in der Gefängniszelle erhängte.

Judith fragte sich, was hier gespielt wurde und blickte ihren Chef forschend von der Seite an.

Dieser wandte sich ihr zu und sagte ernst: „Das Schreiben ist authentisch. Es stammt nicht von mir.“

Judith nickte und schwieg.

„Ich weiß nicht“, fuhr Hans Waldheim fort, „ob mein Sohn tatsächlich unschuldig ist. Natürlich wäre es mir lieber, obwohl es bedeuten würde, dass man ihn getötet – geopfert – hat.“

„Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, müsste er in einer Beziehung zu den Mördern gestanden haben. Ansonsten wären sie nicht auf ihn gekommen.“

„Oder sie wollten mich treffen“, sagte der Verleger.

„In dem Schreiben wird ein Herrenclub erwähnt. Könnte es sein, dass Ihr Sohn Mitglied dieses Clubs war?“

„Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Natürlich gibt es diesen Club. Warum man ihn in diesem Schreiben als Retter Ben Weselys bezeichnet, kann ich allerdings nicht sagen.“

„Und es ist von Kinderpornos die Rede.“

„Aber nicht in Zusammenhang mit dem Club“, überlegte Waldheim. „Es wäre auch schwer vorstellbar, dass eine größere Anzahl von Männern in wichtiger Position sexuell an Kindern interessiert wäre.“

„In Belgien“, wandte Judith ein, „scheint das zuzutreffen, im Fall Dutroux.“

„Was man Hajo vorwirft, ist ein Abklatsch dessen, was sich in Belgien abgespielt hat. In einen Keller eingesperrte Jugendliche …“

„Darüber weiß ich zu wenig“, bekannte Judith. „Aber ich werde mich damit befassen. Jedenfalls gibt es dieses Schreiben an Sie. Also werde ich mich mit dem Herrenclub befassen.“

„Das ist in meinem Sinn. Es wäre schön, würde mein Sohn von diesem schrecklichen Verdacht befreit. Inzwischen berichten wir in Familie Österreich objektiv über die Ermittlungen. Das heißt, wir geben das wieder, was uns die Polizei zukommen lässt.“

Judith nickte.

„Wie geht es Ihnen dabei?“

„Ich leide wie ein Hund“, sagte Waldheim und streichelte Erwins breiten Kopf. „Die Herren treffen sich jeden Freitag“, sagte er noch.

Judith fuhr gleich nach dem Treffen per U-Bahn zur Herrengasse, das Auto ließ sie auf dem Firmenparkplatz stehen.

Sie entschied sich für ein zweites Frühstück im Café Bades, einem aufwändig restaurierten Kaffeehaus im Jugendstil, in dem um diese Zeit vornehmlich Damen saßen, von einigen Studenten abgesehen, die in Taschenbüchern oder auf E-Book-Readern lasen oder auf Notebooks, Pads und Smartphones tippten.

Der L-förmige Raum mit dem vergoldetem Stuck, der mit dem honigfarbenen Holz der Einrichtung harmonierte und den Kristallleuchtern, die von der hohen Decke hingen, wirkte imposant, war aber leider verraucht. Ein Umstand, den Judith nicht besonders schätzte, den sie aber aus beruflichen Gründen tolerieren musste.

Es war angenehm kühl und ruhig im Lokal, nur die Kaffeemaschine zischte, sobald ihr heißer Dampf entwich. Hier herrschte das ganze Jahr dasselbe Klima, egal wie heiß oder kalt es draußen war.

Judith dachte zurück an den Lauf im Gewitter am Vorabend und stellte für sich fest, dass sie keine Kaffeehauspflanze war, sie fühlte sich hier, trotz der Weite des Raumes, eingesperrt.

Ein Kellner im schwarzen Smoking mit weißem Hemd, schwarzer Weste und schwarzer Masche fragte sie, womit er die Dame verwöhnen dürfe.

Judith bestellte ein Wiener Frühstück, das aus Gebäck, Konfitüre, Butter, Ei und Großem Braunem bestand. Während sie darauf wartete, studierte sie die Speisenkarte, auf deren Rückseite die Geschichte des Hauses beschrieben wurde.

Da stand zu lesen, dass das Kaffeehaus, benannt nach seinen damaligen Besitzern Adalbert und Ernestine Bades, 1918 eröffnet worden und 2002 renoviert worden war, wobei viele Veränderungen zurückgenommen und die ursprünglichen Absichten des Architekten Viktor Siedek wieder stärker berücksichtigt worden waren. Zu den Stammgästen des Lokals hatten viele Größen der österreichischen Literatur wie Peter Altenberg, Friedrich Torberg, Hugo von Hoffmannsthal, Robert Musil und Hans Werfel gezählt.

Und auch heute noch, stand zu lesen, begrüßt das Café Bades bedeutende Gäste, deren Wirken und Werk das Leben in unserer einzigartigen Stadt bereichern.

Judith überlegte, in welcher Weise wohl ihre eigene Tätigkeit die Stadt Wien bereichere, schüttelte dann lächelnd den Kopf und wartete weiter auf das Frühstück, das ziemlich lang auf sich warten ließ.

Als der Kellner schließlich den Kaffee auf einem silbernen Tablett mit einem Glas Wasser, auf dem ein Dessertlöffel balancierte, auf den Marmortisch stellte, fragte ihn Judith nach dem Herrenclub, von dem sie gehört habe.

„Dazu empfehle ich das Buch Die Goldene Ära des Wiener Kaffeehauses“, sagte der Ober mit einer leichten Verbeugung. „Dort finden Sie alles Wissenswerte über unser Haus und die wichtigsten Konkurrenten.“

„Viel lieber höre ich das aus dem Mund eines Experten aus Fleisch und Blut“, versuchte es Judith mit Charme.

Wieder verbeugte sich der Ober und erklärte, dass in ersten Jahren der Ära des Café Bades im Geschoss über dem Kaffeehaus eine Reformschule untergebracht war, die von einer Eugenie Schwarzbach, einer Nichte von Adalbert Bades, geführt worden war. Als diese die Schule nach Mödling verlegte, zog in diese Räume der so genannte Herrenclub ein, dessen erlesene Mitglieder sich bis heute regelmäßig treffen.

„Eine Art Geheimbund?“, erkundigte sich Judith.

„Weniger geheim als exklusiv“, erklärte der Ober, bedauerte aber, keine Details verraten zu dürfen. Dann fügte er noch in verschwörerischem Ton hinzu: „Man sollte sich aber nicht zu sehr dafür interessieren. Die Herren sind sehr mächtig und haben es nicht gerne, wenn man ihnen zu nahe kommt.“