Organisationskultur der katholischen Kirche

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(5) Basierend auf den langjährigen Erfahrungen in der Wirtschaft kann angenommen werden, dass Veränderungen in der Organisationskultur der Kirche noch mehr Zeit und professioneller Begleitung als säkulare Unternehmen bedürfen. Als wesentlicher Grund dafür kann die seit 2000 Jahren unveränderte, wenn auch nicht immer und überall voll artikulierte und akzeptierte pastorale „Mission“ der Kirche verstanden werden.

1.4 Struktureller Aufbau

Vorwort und Hinführung fokussieren auf den situativen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die die Frage der Unternehmenskultur in wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen Institutionen zum Thema ihres Denkens, Sprechens und Handelns machen. Die Schwerpunkte der Arbeit sind in sechs Kapitel (Kap. 2 bis 7) gefasst:

(1) Aus der Vielfalt nicht-kirchlicher Ansätze ergibt sich die Notwendigkeit einer begrifflichen Definition und Interpretation des Begriffs „Organisationskultur“ in der und für die Kirche und in den und für die auf sie zugeordneten Institutionen.

(2) Die mit der Wahl des neuen Bischofs von Rom am 13. März 2013 fast über Nacht einsetzende pastorale Neuakzentuierung der Kirche, die seither die Einstellung zur Kirche (von innen und von außen her), vielfach jedoch noch nicht das Verhalten der Mitglieder des Volkes Gottes verändert hat, drängt nach dem Sichtbarmachen der Zeichen der Zeit, die der Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwar stets begegnet sind, die jedoch nicht von ihr im allgemeinen Sinn des Wortes, d.h. in ihrer Katholizität im Licht des Evangeliums erforscht und gedeutet wurden (GS 4).

(3) In der nahen Vergangenheit ist nicht zu übersehen gewesen, dass sich kritische Stimmen in der Kirche meistens mit strukturellen Fragen beschäftigt haben und noch immer beschäftigen, die organisationskulturellen Fragen, das heißt verkürzt definiert das wertgeleitete Verhalten und Handeln aller Mitglieder des Volkes Gottes hier auf Erden, jedoch oft gar nicht angesprochen haben. Strategien und Strukturen einer Organisation müssen als organisationskulturelle Interdependenzen gesehen werden, was nichts anderes bedeutet, als dass die Organisationskultur einen direkten Einfluss auf Struktur und Strategie einer Institution hat – und natürlich vice versa. Dieses Kapitel wird versuchen, diese Interdependenzen zwischen Strategie, Struktur und Kultur im kirchlichen Bereich zu definieren, ohne die Strukturdiskussion zum eigentlichen Thema der Arbeit zu machen. Allerdings kann die Konvergenz der drei Organisationselemente menschlicher Zusammenarbeit (Strategie, Struktur und Kultur) nicht außer Acht gelassen werden. Der tiefgehende Wandel der Situation, wie er in Gaudium et spes angesprochen wird (GS 5) und der unter anderem im Wandel der gesellschaftlichen Werte, der Technologie, Demographie, Wirtschaft, Politik, Gesetzgebung und vielem mehr seinen Ausdruck findet, bedingt die Notwendigkeit einer ständigen Neu-Adjustierung der komplexen Organisationssteuerung.

(4) Die konkreten Elemente des organisationskulturellen Profils eines Unternehmens oder einer Institution – und somit auch der Kirche – sind horizontal sowie vertikal vielschichtig; in anderen Worten: Sie umfassen, wie schon oben erwähnt, die Gesamtheit der nach innen und außen hin sicht- und greifbaren, jedoch oft unreflektierten und unbewussten Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen aller Mitglieder der Kirche und können diese innerhalb ihrer eigenen Grenzen in extremen Divergenzen verwirklichen, was auch an Hand zweier diözesaner Organisationen empirisch aufgezeigt werden soll.

Das Profil der Unternehmenskultur umschließt soziale Dimensionen wie Steuerung, Kommunikation, Leistungsorientierung, Vertrauen, Entwicklung und Identität der Organisation nach innen und außen hin. Als einzige dieser sechs Organisationsdimensionen seien hier beispielshaft die Extreme im Kommunikationsverhalten einer Organisation und somit auch der Kirche oder den ihr zugeordneten Institutionen erläutert:

a. In einer eher geschlossenen Organisationskultur werden solche Persönlichkeitstypen favorisiert, die Standpunkte und Kommunikationsstile in kirchlicher Linientreue signalisieren. Die Verwaltung der Organisation erhält einen höheren Stellenwert als ihr inneres Wachstum.

b. Andrerseits wird in Organisationen mit einem offenen Kommunikationsstil die Diversität von Mitarbeitern mit eigenen Meinungen und Überzeugungen gefördert; neue Mitarbeiter fühlen sich sehr schnell wohl, engagieren sich voll und begleiten die Organisation mit ihrer Kreativität und Innovation auf dem Weg in die Zukunft.

(5) Mit diesem Ansatz ist beabsichtigt, die Hypothese des Auseinanderklaffens von tatsächlicher und angestrebter Organisationskultur, das heißt der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit praktisch zu untermauern.

(6) Um der methodischen Vorgangsweise des „Vierschritts“ (Orientieren – Wahrnehmen – Bewerten – Handeln) gerecht zu werden müssen letztlich sowohl die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft als auch die praktischen Umsetzungschancen in den pastoralen und administrativen Tätigkeitsbereichen der Kirche in Form einer möglichen Roadmap der Erneuerung angezeigt werden. Nach der begrifflichen Klärung und der praktisch-empirischen Diagnose geht es zuletzt um die kritische Frage, wie die Kirche als pilgerndes Volk Gottes mit den Erkenntnissen über Anspruch und Wirklichkeit des gemeinsamen Wegs durch Raum und Zeit umgeht.

Mit einem Resümee und einem Ausblick vor allem auf die vom derzeitigen Pontifikat initiierten Veränderungsprozesse sollen sowohl das ekklesiologische Bild der ecclesia semper reformanda als auch die pastoralen Praktiken einer ecclesia discens (einer lernenden Kirche) gefestigt werden.

1.5 Thematische Hinführung

Wie das korporative Volk Gottes, das heißt die Kirche als organisatorische Einheit in ihrer ganzen Komplexität, und das kollektive Volk Gottes, das heißt die Kirche als Kollektive der einzelnen Ortskirchen und ihrer individuellen Mitglieder ineinander greifen, miteinander umgehen und für einander da sind, wird schon in ihren ersten Anfängen sichtbar. Beim Apostelkonzil von Jerusalem (zwischen 44 und 49), der Zusammenkunft der Apostel der Jerusalemer Urgemeinde mit Paulus von Tarsos und seinen Begleitern, in der es letztlich um die Identität der Kirche Christi der Heiligen und die Gemeinden im jüdischen und griechischen Umfeld ging (Apg 15,1-35), wird die Spannung zwischen dem korporativen und dem kollektiven Ganzen der Kirche ihres einen Hauptes Jesus Christus sichtbar (Kol 1,18). Diese Aktualität hat sich durch zwei Jahrtausende hindurch nicht geändert, vor allem in den regionalen Synoden und den einundzwanzig ökumenischen Konzilien der katholischen Kirche. So hat die Diskussion um die Hermeneutik des Zweiten Vatikanums14 bis in die Gegenwart herauf zwischen restaurativen und „liberaleren“ Theologen Gräben aufgerissen, die die Kirche als korporatives und als kollektives Gottesvolk spaltet. Die einen, vor allem die „Massenmedien und auch ein […] Teil […] der modernen Theologie“, verteidigen die „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“, die anderen sprechen von einer „‚Hermeneutik der Reform‘, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität“.15 Die Substanz bleibt unverändert, weil ihre Identität in ihrem Gründer wurzelt. Die Art und Weise der Erkenntnis, wie diese Substanz zu den Menschen in die konkrete Welt hineingetragen wird, ist jedoch sowohl räumlich als auch zeitlich kulturell bestimmt. Die Stärkung des kollektiven Aspekts des Volkes Gottes, vor allem durch die Betonung der Rolle des Bischofskollegiums und die Ermächtigung der „Laien“ aufgrund ihrer Taufe in der Kirchenkonstitution Lumen gentium, wird auch von der Festigung der Würde des Menschen und seiner Selbstbestätigung nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs begleitet und bedeutet einen organisationskulturellen Wandel, wie das ganze korporative Volk Gottes, durch Raum und Zeit wandernd, sein Ziel in Zukunft erreichen sollte. Allerdings erlebte diese im Frühchristentum verwurzelte und nun erneuerte Vision der Kirche in den Jahrzehnten nach dem Konzil bittere Enttäuschungen über das von den Konzilssynodalen Formulierte und das von der Kirchenbasis Erhoffte. Somit bleibt die Thematik der Organisationskultur der Kirche auch heute brennende Aktualität.

1.5.1 Praktisch-theologischer Ansatz

Mit dem Blick auf die eigentliche Thematik der Studie, nämlich der Organisationskultur, muss trotz des Bezugs auf die Kirche mit Recht nach ihrem theologischen Charakteristikum gefragt werden. Als „zugleich ‚sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft“‘ (LG 8; zitiert in GS 40) geht die Kirche „den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ (GS 40). Auch wenn die „sichtbare Versammlung“ der Kirche in dieser Arbeit mit organisationspsychologischen Konzepten analysiert und mit systemischen Prämissen verglichen werden soll, kann sie als „irdisches und himmlisches Gemeinwesen […] nur in dem Glauben begriffen werden“ (GS 40), dass es in ihr um den Weg aller Menschen zum Ziel der Vereinigung mit Gott geht, der sie zugleich trotz ihrer Sündhaftigkeit ohne Wenn und Aber auf ihrem Pilgerweg begleitet. Im jesuanischen Kontext des Neuen Bundes mündet die Frage nach der Kultur der Kirche in der bedingungslosen Nachfolge Christi, der ihr in ihrem „Ineinander des irdischen und himmlischen Gemeinwesens“ (GS 40) mit seiner Geburt, seinem Leben und Wirken, seinem Leiden, seinem Tod und seiner Auferweckung Beispiel und Anregung für ihre missionarische Sendung gegeben hat. Die Väter des Konzils sprechen im ersten Kapitel von Lumen gentium, der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“, vom Mysterium, dem Geheimnis der Kirche, an dessen Grenzen wir so lange stoßen, solange wir an unsere irdische Geschichtlichkeit gebunden sind.

 

Nach dem „Weltbild Gottes“, das die Rolle des Schöpfergottes und alles von ihm Geschaffene aufeinander bezieht, ist alles Irdische vergänglich, auch die „sichtbare Versammlung“ der Kirche. Der Vergänglichkeit kirchlicher Strukturen, auch wenn diese von Jesus selbst durch sein Leben hier auf Erden initiiert wurden, liegt zugleich die Bedingung ständigen Wandels zugrunde. Die ecclesia semper reformanda weist auf keinen Zu- oder Unfall hin, sondern auf das im Gottes- und Menschenbild verwurzelte Kirchenbild, das das 2. Vatikanische Konzil (wieder) sichtbar gemacht hat. Die menschliche Gesellschaft, die in der Kirche mit der Gnade Gottes aufs engste verwoben und von ihr befruchtet wird, unterliegt einer ständigen Umgestaltung; freilich nicht um ihrer selbst, sondern in Christus und um Christi willen (GS 40).

Das theologische Gerüst der vorliegenden Studie über die Kultur der Kirche wird auch in den Quellen jesuanischen Handelns und christlicher Werte deutlich, die dem Volk Gottes auf seiner Pilgerschaft durch Raum und Zeit Wegweiser und „den am Rand lebenden Völkern“ ein spiritueller Kompass sein sollten. Kultur basiert immer auf einem ererbten geistigen oder materiellen Gut, das dazu beitragen kann und soll, aus dem Wissen um erprobte Entscheidungen in der Vergangenheit Lösungen für zukünftige Lebenssituationen aktiv zu gestalten, nicht jedoch passiv, d.h. fraglos zu übernehmen.

Aktivitäten, die auf strukturelle Umgestaltungen kirchlicher Organisationseinheiten abzielen, mögen zwar Einfluss auf die Organisationskultur der Kirche oder kirchennaher Institutionen haben, werden allerdings nicht direkt Gegenstand dieser Untersuchungen sein. Im Kapitel 4 über organisationskulturelle Interdependenzen wird des Näheren auf die gegenseitige Beeinflussung bzw. das Zusammenspiel von Strategie, Struktur und Kultur einer Organisation eingegangen, die im Kern auch die Kirche betreffen. So griff die internationale Presse im November 2007 hastig die Meldung auf, dass Papst Benedikt XVI. ein Bonussystem für exzellente Leistung seiner vatikanischen Mitarbeiter sanktioniert hat. Eine Neugestaltung der Vergütungsstruktur zu verkünden ohne entsprechende Begleitmaßnahmen einer Effizienzsteigerung in der administrativen oder pastoralen (Mit-)Arbeit der vatikanischen Kurie anzudenken kann letztlich nur zu einer Verfestigung der althergebrachten Strukturen – allerdings mit erhöhten Kosten – führen.16

Auch die interne Redaktion pastoraler Leitbilder für Diözesen, Ordinariate, Ordensgemeinschaften, kirchliche Krankenhäuser oder Schulen etc. sind gut gemeinte Bemühungen um mehr Engagement für die Organisation und um eine tiefere Identifikation mit den Zielen, allerdings nur so lange und dann, wenn solche Leitbilder nicht von anderen Organisationen einfach kopiert wurden und somit eher schnell wieder in den Schreibtischladen verstaubten, da ihnen der Konnex zur tatsächlich gelebten Kultur fehlte, in anderen Worten, weil den (mit)arbeitenden Menschen die übernommenen Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen ohne Erklärung, professionelle Begründung und didaktische Hinführung strittig gemacht wurden. In Bezug auf die von Benedikt XVI. geplanten Reformen fanden kritische Medien eher Spott, weil die betroffenen Personen – vom Gärtner bis zum Kurienkardinal – trotz der Veränderungen von Strukturen ihre Arbeitsweise nicht zu ändern beabsichtigten.17 Leitbilder werden schnell zu „Leidbildern“, wenn sie zwar schriftlich festgehalten sind, aber nicht gelebt werden oder Veränderungswille und Veränderungsbereitschaft nicht vorhanden sind.

Demographische Veränderungen in der Welt machen auch vor den Türen der Kirche nicht Halt. Auswirkungen auf allen Ebenen der Verwaltung und Pastoral der Kirche, von der römischen Kurie bis in die kleinste Pfarrgemeinde, rufen nach einem grundlegenden Wandel, wie sich Kirche in der heterogener sich gestaltenden Welt von morgen als Communio auf dem gemeinsamen Pilgerweg zum Ziel hin identifizieren und glaubhaft manifestieren kann. Zunehmender Priestermangel, nicht in allen, aber in vielen Teilen der Welt; weniger Glaubende in den Kirchen; getaufte Kinder und Jugendliche ohne Verständnis ihrer missionarischen Sendung; alte und einsame Menschen, an denen Seelsorger vorbeigehen; Frauen und Männer, die in ihrer Ehe scheiterten; Migranten und Flüchtlinge; Drogensüchtige und Terroristen … Dieses soziale und sozialpsychologische Szenario des beginnenden dritten Jahrtausends verlangt nach neuen Ansätzen eines gemeinsamen Vorwärtsgehens aller Menschen guten Willens mehr als nach neuen Strukturen. Denn veränderte Strukturen, ohne dass diese von veränderten Menschen getragen werden, gleichen einem Haus ohne Fenster und Türen, durch die es von seinen Bewohnern betreten und bewohnt werden kann.

Die vielleicht am unmittelbarsten erlebte praktisch-theologische Herausforderung in vielen, nicht allen Teilen der Weltkirche ist der Trend zu größeren Pastoral- und Seelsorgeräumen, die von allen Betroffenen, d.h. den pastoralen und administrativen Kräften sowie den Glaubenden, mehr Professionalität, Teamfähigkeit und -bereitschaft verlangen. Wollen die Kirche und ihre kirchennahen Institutionen nicht wie viele profit-orientierte Unternehmen in das menschliche Abseits von Überforderung, Stress und Burnout geraten, wird es eines neuen „psychologischen Arbeitsvertrags“ für jene bedürfen, die ihre Arbeitskraft haupt- oder auch nebenamtlich in die Hände der Kirche legen.

1.5.2 Anthropologisch-biblischer Ansatz

In Verbum Domini, dem von Benedikt XVI. verfassten „Nachsynodalen Apostolischen Schreiben“ vom 30. September 2010, reflektiert der Papst die Ergebnisse der 12. Ordentlichen Bischofssynode, die vom 5. bis 23. Oktober 2008 zum Thema „über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“18 in Rom tagte. In dieser päpstlichen Exhortatio weist Benedikt auf die „Bibel als großen Kodex für die Kultur“19 hin, wobei er hier selbstverständlich primär den „Wert der [nationalen] Kultur für das Leben des Menschen“20 anspricht.

Da eine Organisationskultur – auch die der Kirche – nicht losgelöst von der nationalen Kultur gedacht werden kann, in die sie eingebettet ist und aus der heraus sie lebt, haben sich die Synodenväter für ihre kirchliche Zusammenarbeit bewusst oder unbewusst ein hohes Ziel gesetzt. Sie fordern „unter den Kulturträgern eine angemessene Bibelkenntnis […], auch in säkularisierten Umfeldern und unter den Nichtgläubigen; in der Heiligen Schrift sind anthropologische und philosophische Werte enthalten, die die ganze Menschheit positiv beeinflusst haben.“21 Unter „Kulturträger“ müssen wohl Führungspersönlichkeiten verstanden werden, zu denen sich die Synodenmitglieder als Vertreter des Weltepiskopats auch selbst zuzuordnen haben. Die Kenntnis der biblischen Werte wird somit Vorausbedingung und Fundament „der Begegnung zwischen Wort Gottes und Kulturen“.22

Mit Fug und Recht darf erwähnt werden, dass wohl kein anderes Dokument ein profunderes Bild der anthropologisch-biblischen Dimension der Kirche in der Welt – und darum geht es ja letztlich, wenn die Organisationskultur der Kirche fokussiert wird – zeichnet als die „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“. Dem ersten Hauptteil von Gaudium et spes liegt in 4 Kapiteln mit insgesamt 35 Artikeln die Berufung des Menschen, der in diese konkrete Welt hineingeboren ist, in der Kirche von heute zugrunde. Da sich insbesondere diese Pastoralkonstitution nicht nur an die Kinder der Kirche, sondern an alle Menschen richtet (GS 2), nimmt ganz bewusst erst das vierte und letzte Kapitel Bezug auf die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute.23 In der Einleitung zum eigentlichen Text der Konstitution weisen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler darauf hin, dass die Konzilsväter ganz bewusst einer Situations- oder Auffassungsanalyse zunächst eine Bewertung aus dem allgemeinen menschlichen Blickwinkel folgen lassen, die für alle Menschen akzeptabel erscheint, bevor sie sich mit speziellen lehramtlichen Instrumentarien den möglichen Konsequenzen für das Leben in und mit der Kirche zuwenden. Gegen diesen in vielen Kapiteln und Artikeln von Gaudium et spes angewandten Prozess wehrte sich so mancher Bischof, der eher eine theologische Analyse oder (zumindest) einen biblischen Bezugspunkt bevorzugt hätte.24

Alles, was in Raum und Zeit geschah, geschieht und geschehen wird, erlebt das Volk Gottes nicht in kirchlicher Isolation, sondern es teilt alles und jedes dieser Welt „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit“; zugleich aber erinnern die Konzilsväter an die Verpflichtung der pilgernden Kirche, in dem Geschehenen „die wahren Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“, alles im Glauben mit einem neuen Licht zu erhellen und „auf humane Lösungen hin“ zu orientieren (GS 11). Es widerspräche wohl dem Geist des Konzils, gewisse innerhalb der Menschheit geteilte „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ einfach im Fragenkatalog „der Zeichen der Zeit“ negieren zu wollen. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanums sprechen ausdrücklich vom „gegenseitigen Dienst“ des Volkes Gottes und der Menschheit, „der es eingefügt ist“ (GS 11). Von einem Ausschluss eines bestimmten menschlichen Lebensbereichs können und wollen die Konzilsväter nicht sprechen, schon gar nicht vom Ausschluss einer gegenseitigen Beleuchtung artverwandter Kompetenzen25, die für die effiziente und effektive Leitung einer Organisation – ob gesellschaftlich, politisch, sozial oder religiös – vonnöten sind. Somit wird die Erhellung der Kultur einer Organisation, vor allem jener der Kirche, ein „wahre[s] Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (GS 11).

„Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erscheinen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte Bedeutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt?“ (LG 11) Diese Fragen der Synodenväter schließen kirchliche Tätigkeiten nicht aus, sondern beantworten die Fragen kurz für die gesamte Welt, in der die Kirche ihre Sendung erfüllt: Beide stehen in einem unteilbaren und gegenseitigen Dienst (LG 11). In diesem Kontext gilt der Mensch, der Bild Gottes ist, als Mittel- und Höhepunkt in dieser Welt, in der er jedoch seine Aufgaben nur als soziales Wesen erfüllen kann.26

Die Verwundbarkeit des von Gott nach seinem Bild geschaffenen Menschen zeugt davon, dass dieser auf der ihm vom Schöpfergott zur Verfügung gestellten Welt „vom Anfang der Geschichte an“ (GS 13) immer wieder versucht war, seine eigenen Wege zu gehen. Dazu heißt es: „Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von einem guten Schöpfer herkommen können“ (GS 13). Die Konzilsväter weisen auf die Zwiespältigkeit des Menschen hin, die ihn in einem ständigen und dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit fesselt, aus dem er sich selbst nicht als Sieger hervorzugehen weiß. Der Herr ist der, der aus diesem menschlichen Desaster herausführt, das „den Menschen selbst [mindert], weil sie [d.h. die Sünde] ihn hindert, seine Erfüllung zu erlangen“. Diese Worte umfassen „das gesamte Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive“ (GS 13), wie die Bischöfe in diesem grundlegenden Text der Pastoralkonstitution betonen.

Weil die irdische Kirche aber als eine „mit hierarchischen Organen der Gesellschaft“ klar konstituierte „sichtbare Versammlung“ (LG 8) nicht außerhalb der Welt von gestern, heute und morgen existiert, sondern als pilgerndes Volk Gottes immer im Raum dieser Welt, aber nur in den ihr gewährten Äonen unterwegs ist, darf und kann sie sich diesem Kampf zwischen Gut und Böse nicht entzogen glauben. Bleiben die Synodalen des Konzils in diesen Aussagen auch ihrer kirchlichen Sprache treu, wird kaum geleugnet werden können, dass es sich in der Diktion der Organisationswissenschaft bei dieser „sichtbaren Versammlung“ um eine (auch) von Menschen getragene Organisation und bei den „hierarchischen Organen der Gesellschaft“ um deren Führungskräfte handelte.

Nach den Artikeln über den Menschen als Bild Gottes und der Verwundbarkeit dieses Bildes durch die Sünde erinnern die Konzilsväter in diesem einleitenden Kapitel der Pastoralkonstitution nicht nur an die bloße Leiblichkeit des Menschen, sondern an seine Einmaligkeit und in ihr an seine Einheit von Leib und Seele. Die vereinfachende Eingrenzung der Leiblichkeit auf den eigenen Körper und noch zugespitzter auf die körperliche Sexualität des Menschen würden dem Artikel 14 des Konzilstextes nicht gerecht werden. Es geht letztendlich um die gesamte „stoffliche Welt“, die Teil des menschlichen Lebens als solches ist, „wo Gott ihn [den Menschen] erwartet“. Die Herleitung des Lebens von „bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen“ verwehrt dem Menschen ein In-die-Tiefe-Gehen (GS 14). In diesen Spiegel der Erkenntnis des „Wesensstandes des Menschen“, wie dieser Artikel 14 der Pastoralkonstitution (wohl in Klammern gesetzt) überschrieben ist, kann und muss sich auch die irdische Kirche schauen: Die „stoffliche“ Seite des Lebens der Kirche „darf also der Mensch nicht geringachten“. Als getauftes Glied der Kirche verlangt seine Würde als Mensch das Gegenteil – um den Gedanken des Konzils der Bischöfe nicht nur auf die Welt, sondern synonym eben auf „die Kirche in der Welt von heute“ zu richten –, „nicht den bösen Neigungen seines Herzens“ zu dienen, sondern Gott in der „sichtbaren Versammlung“ zu verherrlichen (GS 14).

 

Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gottgewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.

Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt gesagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Gedanken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in diesem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlichmenschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Das Konzil würdigt die Vernunft des Menschen, in der er „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes […] die Dingwelt überragt“ und schätzt die menschliche Entwicklung in den empirischen Wissenschaften, der Technik und der geistigen und künstlerischen Bildung (LG 15). Es mag verwundern, dass die Kirche diesen Konzilsgeist bis heute eher selektiv rezipiert hat. So akzeptiert sie ohne weiteres die Erkenntnis der modernen Medizin- und Kommunikationstechnik, solange sie ihren eigenen ethischen Normen nicht entgegenlaufen, verweigert sich jedoch offensichtlich den Fortschritten mancher anderer Wissensgebiete wie etwa des operativen oder strategischen Finanz-Controllings und der Wirtschafts- oder Organisationswissenschaften. Die Würde der menschlichen Vernunft kann auch eine vertiefte Wahrheit ergründen, auch dann, wenn sie aus menschlichem Fehlverhalten teilweise verdunkelt und geschwächt ist (LG 15).

Ihre Vollendung findet die Vernunftnatur der menschlichen Person in der Weisheit. Der Menschenglaube bezeugt schon im Alten Testament, dass alle Weisheit vom Herrn stammt und auch ewig bei ihm ist; auch lehrt Erfahrung, dass Gott seine Weisheit über all seine Werke ausgegossen hat, sie den Menschen jedoch unterschiedlich zugeteilt ist: „Er [der Herr] spendet sie denen, die ihn fürchten“ (Sir 1,10). Auch in Gaudium et spes stellt das Konzil klar, dass die Verteilung der Weisheit in dieser Welt nicht mit der wirtschaftlichen Situation korrelieren muss; oft seien verhältnismäßig arme Nationen reicher an Weisheit als vermögende (GS 15). Die Erfahrung des Lebens bestätigt, dass diese Aussage der Synodalen ohne Abkürzung auf die menschliche Person wie auch auf eine soziale oder wirtschaftliche Institution übertragen werden kann. So mag die Weisheit und somit das Überlebenspotential eines kurzfristig finanziell prosperierenden Konzerns bisweilen dürftiger sein als die Weisheit einer kleinen Organisation, die langfristig und damit nachhaltig denkt und handelt.

Bevor die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution auf den Atheismus im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen kommen, fokussieren sie noch die Würde des sittlichen Gewissens (GS 16) und die hohe Bedeutung der menschlichen Freiheit (GS 17). In Bezug auf die organisationskulturellen Fragestellungen dieser Arbeit spielen sowohl sittliches Gewissen als auch menschliche Freiheit im Zusammenleben und gemeinsamen zielgerichteten Handeln einer Organisation eine essentielle Rolle. Gewissen muss sich (weiter)bilden, will es nicht irregehen oder abstumpfen. Und mit einem solchen gebildeten Gewissen vermag der Christ eine Brücke bauen zum Gewissen anderer Menschen, die zwar Christus nicht (an)erkennen, aber ihrer inneren Stimme gehorchen, die ihnen mitteilt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Eine solche Prämisse genügt oft in einer menschlichen Organisation als erster bewusster Schritt, divergierende Meinungen ins Lot zu bringen. So wie die menschliche Person kann auch eine Organisation mit einem abgestumpften Gewissen ihre Würde verlieren, was nicht selten in blinder Willkür endet (GS 16). Die Vorausbedingung des Hinwendens des Menschen zum Guten ist seine von Gott gewollte Freiheit, die damit zur unabdingbaren Würde seiner selbst wird. Blinden inneren Drang oder bloßen äußeren Drang zu einem gewissen Handeln bezeichnen die Konzilsväter als einer Person unwürdig, gleichgültig ob sie Mitglied der Kirche ist oder nicht. So stellt sich auch in diesem wesentlichen Attribut menschlichen Lebens heute die Frage, wie viele Organisationen ihren Mitarbeitern oder Mitgliedern in einer bis in die kleinsten Details regulierten Arbeitsumwelt ihre persönliche Freiheit nicht nehmen. Diese Frage müssen sich auch die Kirche und die von ihr abhängigen Organisationen gefallen lassen.

Die von Gott initiierte und gewollte Würde des Menschen braucht ständiges Ringen (LG 48), nicht nur in der Welt, auch in der Kirche, die nicht mit ihr identisch ist, aber die Gestalt dieser Welt trägt, mahnte der steirische Caritasdirektor Franz Küberl im März 2015 in seinem Festvortrag bei der Verleihung des Menschenrechtspreises des Landes Steiermark ein. Er spricht von einer „‘Verwertung„ des Menschen auf allen Ebenen“ des heutigen Lebens im Gegensatz zu „seinen geistigen Werten, von der Freude an der Entwicklung des eigenen kreativen Potentials – vom Gesamtkunstwerk Mensch, dem vor allen Nutzungs- und Verwertungsstrategien Würde und Einzigartigkeit zukommt.“28 Schaffung und Wahrung von Gerechtigkeit, Menschenwürde und -rechten seien die Aufgaben der Staaten, für deren Gestaltung jeder einzelne Mensch mit verantwortlich ist.

Menschenwerte wie Glaubwürdigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Dienst am Nächsten, Würde und Rechte aller Menschen sind jedoch nicht auf die systemisch-gesellschaftliche Ebene begrenzt, sondern erheben auf- und absteigenden kaskadenförmigen Anspruch genauso auf politische, soziale und kirchliche Organisationen und somit auf den einzelnen Menschen als Person. Konflikte entstehen dort, wo menschliche Werte auf einer dieser Ebenen mit Füßen getreten werden, das mag die persönliche Wertedimension tangieren, aber auch die institutionell-organisatorische und die gesamte gesellschaftliche Kultur.